Winfried Völlger 70
Nachdrücklicher als andere neue Autoren hat sich Winfried Völlger mit seinen Romanen „Verwirrspiel“ und „Das Windhahn-Syndrom“ ins Bewusstsein seiner Leser geschrieben, vor allem die Geschichte von der jungen Wissenschaftlerin Claudia mit ihren krankhaften Lachanfällen wird wohl Bestand haben innerhalb der jüngsten DDR-Literatur, wenn manche Geschichte einer gescheiterten Ehe längst vergessen ist. Unter dem Titel „Offene Schlösser“ hat der Rostocker Hinstorff-Verlag nun „Ansprüche und Aussagen“ Völlgers herausgegeben, ein schmales Bändchen von eben so hundert Seiten.
Es ist, wie ich beobachtet habe, nicht lange liegengeblieben auf den Tischen mit den Neuerscheinungen in den Buchhandlungen, die ich besuche, ich finde das ermutigend. Mich fragte ein Freund, der es eher mit dem Film als mit der Literatur hält, ob wir jetzt einen Essayistik-Boom hätten bei uns und ich verneinte eilends, obwohl mir klar war, dass die Nachhole-Bewegung unserer Verlage zwischenzeitlich schon diesen Eindruck erwecken kann. Nein, ein Boom ist es nicht, es sind Doppelschritte zur Normalität. Immer haben sich Schriftsteller auch essayistisch geäußert und immer haben solche Bücher ihre Leser gefunden und es wäre eine höchst normale Entwicklung, wenn sie immer mehr Leser finden würden.
Allerdings brauchen solche Bücher wohl noch eine Weile zusätzliche Popularisierung. Ärgerlich an der Sammlung, um die es hier geht, ist lediglich, dass es keinen Hinweis darauf gibt, aus welchem Anlass die Texte entstanden sind, ja nicht einmal ein Inhaltsverzeichnis wurde für nötig befunden für Leser, die wissen wollen, wo ein Text endet und wo der nächste beginnt. Aber hundert Seiten kann man ja auch mal rasch durchblättern. Der weitaus umfangreichste Text „Haben Verlieren Sein“, der Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ und Aitmatows „Scheckiger Hund, der am Meer entlangläuft“ in Bezug zum Märchen „Hans im Glück“ bringt, tendiert am deutlichsten zur wissenschaftlichen Abhandlung, kleine Seitenhiebe gegen dies und das gehen darin unter.
In „Scherben und Sprünge“ verrät Völlger, wie ein Bilderbuch-Text entsteht. Das ist interessant, wenngleich es keineswegs alle Erwartungen bedient, die am Beginn der Schilderung vorankündigend erweckt werden. Überhaupt scheint mir, dass der unübersehbare polemische Drang Winfried Völlgers – er möge ihn hegen und pflegen – sich zu sehr auf das Einrennen offener Türen richtet. Ich würde gern mit ihm streiten nach diesem Buch und ihn fragen, ob ihm der Klappentext nicht auch zu bombastisch erschienen sei, als Einstieg. Und bin sicher, dass andere Leser das ganz anders sehen.
Zuerst veröffentlicht in JUNGE WELT, Nr. 116, Seite 10, am 17. Mai 1988 unter der
Überschrift „Offene Türen einrennen?“, nach dem Typoskript
„Ansprüche und Aussagen“ lautete der Untertitel von Winfried Völlgers letztem Buch, dem schmalen Essay-Band „Offene Schlösser“ (Hinstorff-Verlag 1987). Dort führte Völlger – unter anderem – vor, welch enorme Gedankenarbeit vor der Konzeption eines Kinderbuches stehen kann und mein erster Gedanke beim Lesen war: möge einem solchen Buch niemals diese Anstrengung anzusehen sein. Völlger machte dort auch auf die Symmetrie aufmerksam, die im Märchen vorhanden ist und die kindliche Logik, die diese Symmetrie fordert.
Jetzt hat der Postreiter-Verlag eine kleine Erzählung Winfried Völlgers herausgebracht, die für mich mit diesen Überlegungen des Autors korrespondiert. Es ist eine Erzählung für 14jährige Leser, eine Liebesgeschichte ohne Happy End, wie schon der Buchdeckel verrät. Ein junger Mann, Robert, lernt ein junges Mädchen, Juliana, kennen. Der Zufall, der sie zueinander führt, ist eine weiße Katze, die an einem Parkbrunnen trinken will. Winfried Völlger misstraut offenbar seinem Einstieg, er kommentiert und verfremdet den Anfang der Geschichte, belastet ihn – für meine Begriffe – mit viel ablenkender Erzählerperspektive, um dann schließlich doch linear seiner Bildlogik zu gehorchen und flüssig erzählend zur Sache zu kommen.
Die keimende Liebe zwischen Robert und Juliane scheitert. Sie scheitert an Roberts Unfähigkeit, die Konfrontation mit anderen Werten der Lebensweise auszuhalten und produktiv zu verarbeiten. Winfried Völlger mischt sich hier massiv ein als Erzähler, er versieht die Werthierarchie, nach der Julianes Familie lebt, deutlich - ich meine, überdeutlich – mit negativen Akzenten. Was er hier aufbietet an Indikatoren der Negativität, ist längst bekannt aus zahlreichen anderen Büchern: materieller Wohlstand, Datsche, Saturiertheit im Denken. Robert reagiert allerdings nicht mit Verachtung, nicht mit demonstrativen Alternativlösungen, sondern mit Minderwertigkeitsgefühlen, die er sich selbst nicht einmal eingesteht, sie werden ihm nicht bewusst. So verstrickt er sich zuerst in harmlose Schwindeleien, die sich rasch zu handfesten Lügen auswachsen und wird dann zum Moped-Dieb.
Von kräftiger Symbolik ist das Schlussbild: die weiße Katze liegt ertrunken in dem Brunnen, an dem Juliane und Robert sich zum ersten Male gegenüberstanden. Die Geschichte ist streckenweise sehr poetisch erzählt. Um so mehr fällt deshalb auf, dass Völlger mittendrin auch einmal eigenen Prinzipien untreu wird: kommentarlos, ohne jede Ironie, die zu erwarten wäre nach seinem Einstieg in die Geschichte, baut er eine Badeszene, die es schon in mindestens vier Dutzend Filmen zu sehen gab. Bedenklich finde ich auch, dass die Zuordnung eines platten, gedankenlosen Fortschrittsdenkens zum Horizont der Familie Julianes den Fortschrittsgedanken selbst einseitig abwertet. Da könnte, glaube ich, den jugendlichen Lesern, die das Buch als Zielgruppe anvisiert, schon etwas mehr Dialektik zugemutet werden. „Eine Persönlichkeit bilden heißt“, schrieb Völlger in „Offene Schlösser“, „befähigen zum Umgang mit der Welt“. Das ist ein hoher Anspruch.
Zuerst veröffentlicht in JUNGE WELT, Nr. 217, Seite 10 am 13. September 1988
unter der Überschrift „Katze im Brunnen“, nach dem Typoskript