Palmström ahnt alles ...
Die Geschichte ist hinlänglich bekannt: ein Herr gesetzten Alters wird unversehens an einer Straßenbeuge von einem Kraftfahrzeug überfahren. Dies geschieht natürlich nicht nur der Reimes wegen, wie sich bald herausstellt. Selbiger Herr prüft – in jungen Jahren hat er sicher Immanuel Kant gelesen – die Gesetzesbücher, um herauszufinden, wie denn dieser Unfall überhaupt möglich gewesen sei. Die Prüfung erbringt ein eindeutiges Ergebnis: Wagen durften dort nicht fahren! „Nur ein Traum war das Erlebnis. / Weil, so schließt er messerscharf, / nicht sein kann, was nicht sein darf.“ Der Herr, den dies ereilte, soweit nach der Jahrhundertwende im Zusammenhang mit Kraftfahrzeugen überhaupt von Eile die Rede sein kann, hörte auf den einprägsamen Namen Palmström. Der Herr, der diesen Herrn zeugte, und ihm die kürzeste Fassung deutscher Logik, die je schwarz auf weiß gedruckt wurde, in den Mund legte, wurde als Sohn von Carl Ernst und Charlotte Morgenstern am 6. Mai 1871 geboren, erhielt den noch heute sehr beliebten Namen Christian und starb, noch ehe er sich entscheiden musste, angewidert dem chauvinistischen Rummel auch deutscher Dichter den Rücken zu kehren, am 31. März 1914. „Es ist aber auch zu hübsch: Man lacht sich krumm, bewundert hinterher, ernster geworden, eine tiefe Lyrik, die nur im letzten Augenblick ins Spaßhafte abgedreht ist – und merkt zum Schluss, dass man einen philosophischen Satz gelernt hat.“ Schrieb voller Hochachtung ein anderer Kenner deutschen Wesens, Kurt Tucholsky. Heute ist, wie sich auch ohne Taschenrechner leicht ermitteln lässt, Christian Morgenstern 75. Todestag. Gedenken wir seiner, indem wir ein paar Zeilen aus „Fisches Nachtgesang“ rezitieren vor dem Zähneputzen.
Zuerst veröffentlicht in NEUE HOCHSCHULE Nr. 6, S. 4 vom 31. März 1989