George Bernard Shaw: Helden

Diesen Krieg gab es wirklich. Er dauerte nur unwesentlich länger als der wesentlich berühmtere Sechs-Tage-Krieg, nämlich vierzehn Tage, er war ein Balkan-Krieg vor den Balkan-Kriegen. Der exakten statistischen Erfassung unterlag er dennoch bereits. Deshalb wissen wir von 746 Toten und 4570 Verletzten auf serbischer, von 771 Toten und 4232 Verletzten auf bulgarischer Seite. Es ging weder um Öl noch um Menschenrechte, hinter den kleinen standen aber auch 1885/86 schon die großen Mächte. Der Stellvertreterkrieg ist keine Erfindung späterer Zeiten. Aus heutiger Sicht verblüfft, dass an der Seite Serbiens Österreich-Ungarn stand, keine 30 Jahre später Erzfeinde mit Langzeitwirkung im Serbienbild, das noch einen Peter Handke stigmatisiert, weil er sich ihm nicht unterwerfen will. Auf der anderen Seite zieht sich Russland von Bulgarien zurück und in die Bündnislücke stößt, Überraschung, das United Kingdom. Wenn der Londoner Ire George Bernard Shaw, der am 2. November 1950 starb, also ein lustiges Spiel zu Papier bringt keine zehn Jahre nach diesem Krieg, dann muss einem nicht das Stichwort Operette als erstes einfallen.

„Ich dachte ja immer, Soldaten wollten nur Lieder singen und stolze Festungen stürmen und Eiserne Kreuze bekommen. … Aber man wundert sich doch, wenn nun immer und immer wieder alles ganz anders ist, als sie es in der Schule erzählen.“ Das steht in Irmgard Keuns Buch „Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften“, das auch ein wunderbares Buch wäre, wenn diese Sätze dort nicht zu finden wären. Wenn vom „Sinn des Soldatseins“ die Rede ist, sind vermutlich nicht nur jene einstigen Rekruten elektrisiert, die den „Sinn des Soldatseins“ als Buchtitel kennen, man muss die Phrasen gar nicht erst hören, um sie als solche zu erkennen. Das Heldenthema ist mir in einem einzigen Satz hinlänglich abgehandelt worden: „Lieber fünf Minuten feige, als ein Leben lang tot.“ Vermutlich hat diesen Satz nicht mein Vater geprägt, von dem ich ihn kenne, die anekdotische Ergänzung dazu aber sehr wohl: Als der erste Kreuz-Träger ins Dorf kam und verriet, wie er zum Helden wurde. Die Einzelheiten gehören nicht hierher, nur Heldentum war es halt nicht.

George Bernard Shaws Dreiakter „Helden“ heißt im Original auch keineswegs „Heroes“, sondern „Arms and the Man“. Ob die Übersetzer ins Deutsche, die den deutschen Titel „Helden“ wählten und beibehielten auch bei Abweichungen in der Fassung des sonstigen Textes, eine glückliche Hand hatten oder einfach nur den Komplikationen ausweichen wollten, die sie für einen Titel ahnten, der das Vergil-Zitat aufgreift, weiß ich nicht. Es steht zu vermuten. „Arma virumque cano“ stellt Shaw als Motto voran und es geht in der „Aeneis“ weiter: „ … Troiae qui primus ab oris Italiam fato profugus Laviniaque venit litora ...“. „Waffen besing ich und ihn, der zuerst von Troias Gestaden / Durch das Geschick landflüchtig Italien und der Laviner Küsten erreicht ...“ überträgt das Göttwein nach Hertzberg. Bei Volker Ebersbach in der Prosa-Übertragung steht: „Von Waffentaten erzähle ich und von dem heldenmütigen Mann, welcher der erste war, der, ein Flüchtling, die Küste Troias verließ, wie es sein Schicksal wollte, und nach Italien kam und am Strand von Lavinum landete.“

Einen dem Aeneas auch nur entfernt ähnlichen Mann stellt Shaw nicht auf die Bühne. Die Heldentat, die sein Major Sergius Saranoff vollbringt, ähnelt eher jener siegbringenden bei Kleist im „Prinzen von Homburg“, die de jure eine Befehlsverweigerung darstellte und unter Kriegsrecht mit dem Tode bestraft wird. Wobei das in der Komödie zwar auch zum Sieg führt, der natürlich nicht mehr als ein Etappensieg ist, aber nur den einen Grund hat, dass dem überrannten, überrittenen Feind die Munition fehlte. Die allfällige Todesstrafe ist bei Shaw gemildert, es stirbt nur seine Liebesbeziehung mit Raina, es stirbt nur sein Ruf als Held. Immerhin, Sergius gewinnt mit dem Verlust eine neue liebende Frau, das Stubenmädchen Luka, die dieses weiß: „Manchmal denke ich, Männer werden nie erwachsen. Sie haben Ideen wie Schulkinder.“ Raina, die keineswegs übertriebene Selbstbilder pflegt, sagt: „Mädchen sind eben doch nur zaghafte dumme Puppen.“, sie kennt die Herkunft der Heldenbilder: „ ... da fiel mir ein, dass wir unsere Vorstellungen von Heldentum nur daher haben, dass wir so gern Byron und Puschkin lesen und dass wir von der Bukarester Opernsaison so begeistert waren. Das wirkliche Leben ist eigentlich ganz anders.“

Damit trägt Shaw auch eine fundamentale Kritik an Literatur vor, an der wenigstens, die sich halbwegs treffend mit dem Begriff Romantik verbinden lässt. Byron lebte sein Heldenbild sogar vor: Ein dickes Buch im Bücherschrank meiner Eltern trug den Titel „Lord Byron stirbt für Griechenland“. Der Verfasser Claus Schrempf gab in den Jahren, da dies erschien (1938), auch eine „Sammlung Völkerglaube“ heraus, nähere Informationen zu ihm fehlen mir, sind hier allerdings auch nicht von Bedeutung. Bekannt ist dagegen Friedrich Hölderlins Ode „Der Tod fürs Vaterland“, in der es unter anderem heißt: „ O nehmt mich, nehmt mich mit in die Reihen auf, / Damit ich einst nicht sterbe gemeinen Tods!“ Und weiter: „Lebe droben, o Vaterland, / Und zähle nicht die Toten! Dir ist, / Liebes! nicht Einer zu viel gefallen.“ Es ist nicht uninteressant zu sehen, dass ein österreichischer Kritiker, Otto Basil, gegen Shaws „Helden“ diesen Einwand vortrug: „Die Stoßkraft von Shaws Satire richtet sich in diesem glänzenden Stück hauptsächlich gegen die Romantik des Heldentum, gegen den Nimbus, mit dem die Vaterländer aller Zeiten und Völker die nationalen Helden umgeben haben. Da jedoch irrte Shaw, und dieser Irrtum erscheint uns beinahe ebenso gefährlich wie der von ihm aufgezeigte Tatbestand. Denn ohne Heldentum ist Fortschritt nicht möglich.“ Darüber ließe sich trefflich streiten.

Ich sah „Helden“ zuletzt am 7. November 2008 im Theater im Schlossgarten in Arnstadt. Es gastierte das Münchner Sommertheater mit einer deutschen Fassung, die weder von Siegfried Trebitsch (1868 - 1956) noch von Wolfgang Hildesheimer (1916 - 1991) stammte, sondern von Intendantin Ulrike Dissmann. Ihr Markenzeichen, kann man wohl sagen, sind Lieder, die sie für ihre Neuinszenierungen schreibt, sie tragen diese Titel: Lied des Hauptmanns Bluntschli, Lied der Katharina Petkoff, Lied der Raina, Lied der Luka und Lied von der Hoffnung. Die Darsteller und Darstellerinnen des Sommertheaters müssen deshalb vielseitig sein, sie singen selbst und sie musizieren selbst, wenn es nötig wird, Ramon Bessel hat die musikalische Leitung. Fast nicht anders denkbar: Seit den „Helden“ ist das Münchner Sommertheater Stammgast in Arnstadt, 2015 mit „Was ihr wollt“ nach „Der Sturm“ 2014, um Karten muss man sich zeitig bemühen. Ramon Bessel gab 2008 übrigens den Hauptmann Bluntschli, dessen Namen sich sicher nur ein Londoner Ire ausdenken konnte, in der Schweiz hätte er ein Geschmäckli.

Bluntschli ist bei Shaw der Mann, der auf der Flucht vor den siegreichen Bulgaren als Söldner in serbischen Diensten plötzlich im Zimmer von Raina steht, die die Braut eben jenes Helden ist, dessen Kavallerieattacke siegreich war, weil die Feinde nicht schossen. Nach dem Ersten Weltkrieg litten Inszenierungen der „Helden“ in Wien übrigens darunter, dass alle Nationalbezeichnungen gestrichen waren wegen möglicher Befindlichkeiten und es kam dennoch zu solchen. Schwer zu sagen, ob Aussagen zu den bulgarischen Waschgewohnheiten heute nur mit Humor gesehen werden, selbst wenn sie von Shaws Bulgaren eigenen Mundes vorgetragen werden. „Die Bulgaren der höheren Kreise – Leute in unserer Stellung – waschen ihre Hände beinahe jeden Tag.“ Sagt Raina, die Tochter des Majors Petkoff. Und der dann später: „Dieses dauernde Waschen kann ja der Gesundheit nicht zuträglich sein: es ist unnatürlich. Da gab es so einen Engländer in Philippopel, der sich tatsächlich jeden Morgen nach dem Aufwachen mit kaltem Wasser übergoss. Widerlich. Es kommt alles von den Engländern. Das Klima dort macht sie so dreckig, dass sie sich immer waschen müssen. Sieh dir meinen Vater an. Sein ganzes Leben lang hat er niemals gebadet. Und achtundneunzig Jahre ist er geworden. Ich wasche mich ganz gern einmal die Woche, das erfordert ja auch meine Stellung. Aber jeden Tag, das führt denn doch zu weit.“

Ist es ein Zufall, dass Petkoff ausgerechnet einen Engländer als schlechtes Beispiel nennt? Im Text des Iren Shaw? Kritiker haben wegen eben dieser Stellen den Dramatiker in Schutz genommen, er sei keinesfalls ein Chauvinist. Gelacht hat dabei seinerzeit in Arnstadt niemand, dafür um so herzlicher, als es um die Schweizer ging. Raina: „Sie sind eine ganz niedrige Krämernatur. Sie denken sich Sachen aus, auf die ein Gentleman niemals kommen würde.“ Darauf Bluntschli: „Das, mein Fräulein, ist der Schweizer Nationalcharakter.“ Hier bogen sich die Arnstädter. Bluntschli ist es auch, der den letzten Hauch vom Soldatsein pustet, der nur irgendwie restheroisch wirkt. Es beginnt mit dem Bekenntnis, nur auf serbischer Seite zu stehen, weil er auf die zuerst stieß und es endet mit seinen Worten: „Ich bin Soldat. Was sind nun die beiden Dinge, mit denen ein Soldat fertig werden muss, so dass sie ihm schließlich überhaupt nichts mehr ausmachen? Erstens, dass er von allen Seiten Lügen hört. Zweitens: dass er sich manchmal das Leben retten lassen muss, und zwar von allen möglichen Leuten und auf alle möglichen Arten.“ Krieg ist Geschäft wie jedes andere Geschäft und ohne die „Ausländer“ gäbe es vielleicht gar keinen Krieg.

Sergius, der falsche Held, verrät seiner potentiellen Schwiegermutter: „Soldatsein, gnädige Frau, ist die Kunst der Feigheit: Man greift gnadenlos an, wenn man stark ist, und hütet sich vor Gefahr, wenn man schwach ist. Das ist das ganze Geheimnis militärischer Erfolge. Bring deinen Feind ins Hintertreffen, aber bekämpfe ihn niemals unter den gleichen Bedingungen.“ Das Münchner Sommertheater gab die Rolle der Katharina Petkoff einem Mann, Martin Hinterholzer, was Pausenbeifall fand in den Foyergesprächen. Sergius sagt auch: „Aber der Mut, sich zu schlagen und zu töten, ist billig. Ich habe einen englischen Bullterrier, der genau den gleichen Mut hat wie die bulgarische Nation und die russische Nation noch dazu. Aber von meinem Stallknecht lässt er sich trotzdem prügeln.“ Wieder ist Englisches ins Spiel gebracht, ein Schelm, der Arges dabei denkt. Damit auch jene alles verstehen, von denen der Zyniker Shaw sagte, für sie schreibe er Dramen, für die Intelligenten dagegen die Vorworte, sagt Sergius: „Alles, was ich glaube, wird in den Schmutz gezogen von allem, was ich tue.“ Bei Hegel heißt das, höher gestochen, die List der Vernunft.

Dass Bluntschli nicht nur ein Pragmatiker reinsten Wassers ist, sondern auch ein reicher Hotelerbe, erschwert die neue Verbindung zwischen Raina und ihm keineswegs. Und Sergius begnügt sich mit Luka. Er sagt die letzten Worte des Spiels (alle hier in der Hildesheimer-Übersetzung): „Was für ein Mann! - Ist das ein Mann?“ Darüber liest man rasch hin. Shawsche Hinterlist vermutend, wage ich den Hinweis auf die zufällig 2008 wegen des großen Jubiläums in fast aller Munde gewesene historische Erfurter Begegnung zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Kaiser Napoleon. Was soll Napoleon da gesagt haben? War das nicht: „Was für ein Mann?“ Die „Helden“ werden immer wieder gespielt. Die nächste Premiere, von der ich weiß, ist zu den Bad Camberger Festspielen am 18. März 2016. Was nebenher auch das verrät: Die „Helden“ sind von großen auf kleine Bühnen umgezogen, das große Feuilleton hat sie längst aus den Augen verloren und sieht man auf die Szenenfotos von den Inszenierungen der kleineren Bühnen, die die lokale Presse druckt, dann sieht das eher nach Komödienstadel aus, was den Aufwand an pseudohistorischer Kostümierung betrifft. Vielleicht entdecken die großen Bühnen ja bald einmal einen Roman von Shaw, der sich statt seiner fünfzig Stücke inszenieren ließe.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround