Harald Gerlach: Trulala oder Folgen der Lust

Schon die frühesten biographischen Abrisse zum Leben von Harald Gerlach (7. März 1940 – 19. Juni 2001) führen für die Zeit nach dem Abitur 1958 in Meiningen an zweiter Stelle nach Schriftsetzer und vor Volontär in einer Zeitungsredaktion an: Steinbrucharbeiter. Wer seinen nach dem Poesiealbum Nr. 56 ersten „richtigen“ Gedichtband zur Hand nimmt, „Sprung ins Hafermeer“, stößt nicht nur darauf, dass Wulf Kirsten Gerlach von Anbeginn an wohlwollend begleitete, er findet auf Seite 48 auch das Gedicht „Weg der Steinbrecher“. Steinbrecher sind es auch, in deren Arbeitsleben die Komödie „Trulala oder Folgen der Lust“ spielt. „Folgen der Lust“ hieß gleich der ganze Band, mit dem der Aufbau-Verlag 1990 „Neue Spiele“ vorlegte, den Band „Spiele“ aus dem Jahr 1983 (Edition Neue Texte) fortsetzend, als das Interesse an derartiger Literatur vorübergehend so radikal nachgelassen hatte, dass der geballte Übereifer im Abwickeln des Staatswesens DDR gleich dessen neueste Literatur direkt aus dem LKG in erreichbare Mülldeponien verbringen ließ. Der Buchjahrgang 1990 ist vielleicht der einzige, den es je in einem Land mit funktionierender Buchproduktion und aktiver Literatur gab, der komplett als Opfer eines politischen Umbruchs gelten darf, Schäden für das einzelne Werk dabei durchaus in unterschiedlichen Graden ausgeprägt.

Während man aber beispielsweise bei der Lektüre von Matthias Biskupeks „Die Abenteuer der Andern“, 1990 im Eulenspiegel Verlag erschienen, sich verwundert die Augen reiben und fragen müsste, woran diese DDR eigentlich gescheitert sei, wenn sie so herrlich war wie in diesen mehr oder minder, meist minder, humoristischen Geschichten, die kleine Kratzer am ganzheitlich fortglänzenden Lack thematisierten, muss man bei Harald Gerlachs eigentümlich verquerem Produktionsstück sagen: ein Trauerspiel, dass diese Komödie nicht mindestens zwei, drei Jahre früher eine erwartungsfrohe Leserschaft erreichte. Wann sie entstand, ist dem Buch leider nicht zu entnehmen. Ob sie je aufgeführt wurde, weiß ich nicht zu sagen, die Bibliographie in dem Band „Harald Gerlach. Dichter und Theatermann“, Wartburg Verlag 2007, weist jedenfalls keine Uraufführung aus. Diese Komödie ist ein geradezu exemplarisch krasser Fall, wie ein Stück Literatur mit dem Land, in dem es entstand und das es sich zum Gegenstand einer kritischen Analyse nahm, untergehen kann. Denn nicht nur das kurzfristige Interesse der Leser 1990 schwand zu fast hundert Prozent (das Interesse der Verlage mit großer Brutalität ebenfalls, aber das wäre ein anderes Thema), auch das Grundinteresse am Scheitern der DDR verlor seinen Boden.

Hat man die drei Akte gelesen, kann man auf den Gedanken kommen, dass alle Fragen, alle Kritik an typischen DDR-Phänomen unter einem einzigen Horizont stehen: dem hoffnungsvollen Glauben, da wäre etwas zu retten, zu reformieren, zum Besseren zu wenden. Seit 1986 in der Sowjetunion ein Michail Gorbatschow mit seiner Politik von „Glasnost und Perestroika“ diese, wie die Geschichte sehr rasch zeigte, falsche Perspektive suggerierte, von westlichen Intellektuellen wegen des größeren Abstands zur Realität in der Sowjetunion und in den Staaten des Warschauer Vertrages fast blindlings gefeiert, vor Ort von Beginn immer auch skeptisch, weil erfahrungsgesättigt, gesehen, gab es im kleineren deutschen Staat ein solches Wunschdenken. Viele bittere Reaktionen der DDR-Intelligenz, einige pflegen das bis heute, sind aus der tiefen Enttäuschung darüber zu erklären, dass die Praxis tatsächlich das Kriterium der Wahrheit blieb in allen vierzig kurzen DDR-Jahren. Wenn also 1990 fast tragisch zu spät noch einmal eine Komödie mit großer Assoziationsfülle, mit weit ausholendem Anspielungsreichtum auf die Bühne stellen wollte, was irreversibel gescheitert war, dann ist das ein literaturhistorisches Drama ganz unabhängig von den wirklichen Qualitäten wie auch Defiziten des Dreiakters. Ja, so war es wohl tatsächlich in der sozialistischen Misswirtschaft.

Ja, es war vermutlich an vielen Stellen noch weit schlimmer. Doch nicht nur die technologische Rückständigkeit, die auf realsatirische Weise von ideologischer Aktivität in den Betrieben und Einrichtungen nicht nur kaschiert, sondern tatsächlich wenigstens zum Teil aufgehoben werden sollte, sind 1990 und danach Schnee von gestern. Auch das sprachkritische Durchleuchten der immer wieder haarsträubenden Phraseologie, das Funktionärsgeschwafel, die schwejksche List, mit der besonders pfiffige Bürger den Obrigkeiten ihre eigene Logik um die Ohren hauten, alles Schnee von gestern. Harald Gerlach hat an einem halben Dutzend Stellen im Stück seinen Figuren Sätze in den Mund gelegt, in denen Wort und Begriff Fortschritt eine Rolle spielen. Fast jeder Satz eine Tretmine fürs System, nur jetzt, 1990, eben für niemanden mehr. Wen interessierte noch eine marxistisch-leninistische Fortschrittstheorie und ihre mögliche Löchrigkeit? Wen interessierten noch die faulen Tricks, mit denen im in die Ehemaligkeit verbannten Kleinstaat Pläne erfüllt, Pläne aufgestellt wurden? Im Kabarett lacht freilich heute noch die Klientel Ü 80 begeistert über die Witze von einst, wenn die Spaßvögel von einst auf die Bühne gerollt werden. Bei Harald Gerlach kommt für heutige Leser noch hinzu: ihnen fehlt wahrscheinlich jede zeitliche Zuordnung.

Denn der Mann des Jahrgangs 1940 hat eigene Produktionserfahrungen unter anderem als Steinbrucharbeiter eben nur aus seinen frühen Lebensjahren gehabt und so scheinen in manchem Detail, obwohl die Geschichte eher später angesiedelt ist, wie das wiederholte Auftauchen der Rede vom Intensivieren andeutet, die später fünfziger Jahre kräftig durch. Letztlich wäre das für eine Bühnenkomödie, in der leibhaftige Menschen nach Explosionen zum Himmel fahren oder auf den Schultern anderer leibhaftiger Personen goldschimmernd rosa Luft schaufeln, irrelevant, zumal die Titelfigur schon am Tag nach der Geburt geschlechtsreif und sexuell aktiv ist. Aber es ist einfach zu viel reale Gesellschaftsstruktur im Stück, es gibt neben den Steinbrechern einen Brigadier, einen Parteifunktionär ohne ausdrücklich Benennung seiner genauen Funktion, er scheint alles in einer Person zu vereinen, weil alle anderen eben nicht Mitglieder sind, es gibt einen Kaderleiter, einen Betriebsdirektor unter dem Dauerdruck des Planes, es gibt eine Kantinenfrau, die früher beim Theater war, es gibt einen offenbar jüngeren Mann im Blauhemd. Da finge es heute schon an: wer weiß noch ohne Nachschlagen, was Blauhemd bedeutete? Wem sagt der Übergang von der extensiv zur intensiv erweiterten Reproduktion der Volkswirtschaft noch was, wann das beschlossen wurde?

Allein die Aufzählung dessen, was alles offenbar in dieser Komödie vorkommt, lässt jedem nicht in der DDR sozialisierten Theaterfreund sämtliche Haare zu Berge stehen. Das soll auf eine Bühne? Planerfüllung, Überstunden, Mangelwirtschaft, Diebstahl im Betrieb?? Als zu DDR-Zeiten einmal ein Prominenter behauptete, in den Betrieben der sozialistischen Produktion werde geklaut, was das Zeug hielte, wurde umgehend von Verleumdung der Arbeiterklasse gefaselt, als hätte nicht jeder gewusst, dass es genau so war. Harald Gerlach lässt gar den Parteifunktionär Lulatsch zum Dieb werden, er nimmt sich eine Handvoll Zehnerschrauben. An solchen Stellen ist das Stück unfreiwillig Komödie. Zehnerschrauben kauft man doch sackweise im Baumarkt, oder?? Eine noch funktionierende Zensur in der DDR hätte hier radikal ihr Veto eingelegt, eine wie auch immer negative Darstellung der führenden Partei war von Beginn an das größte denkbare Vergehen in Film und Literatur. Offenbar wollte aber für dieses Buch niemand mehr den dummen August spielen. So kam es auf einen nicht mehr vorhandenen Markt. Dabei wäre da was gewesen für Kritiker und Interpreten. Denn ein Paar im Stück ist Kaspar und Gretel, traditionell die beiden Guten im Puppenspiel für Kleinkinder. Ein Paar heißt Heinrich und Gretel: Heinrich, mir graut vor dir?!

„Die Zeit ist aus den Fugen“, sagt der Brigadier Klotzer und er sagt damit einen Original-Hamlet-Satz (1. Akt, 5, Szene). An anderer Stelle wird auf ein berühmtes Arbeiterkampflied gezielt, das zu DDR-Zeiten jeder irgendwann einmal gesungen hat. Der Betriebsdirektor Beleit meint über Trulala, Kaspars schnellwüchsigen Sohn. „... das ist die große Losung“. „Vorwärts ist die große Losung, Freiheit oder Tod“, dichtete Edwin Hörnle 1921 ein amerikanisches Kampflied nach, das wiederum einem Kirchenlied nachempfunden war. Nun aber, 1990, wen lockt das hinterm Ofen hervor? Wie herrlich zieht Gerlach die sozialistische Presse durch den Kakao. Der Redakteur Schreiber sagt: „...die Presse, Motor und Organisator / des Fortschritts, hat die Nase weit im Wind, / … / Wir wissen Neues, eh es noch geschieht. / Ja, oft erfährt das Neue erst durch uns, / wie sehr es neu ist. Ohne uns geht nichts.“ Die Zeilenbrechung zeigt hier an, wie Gerlach alles geschrieben hat, die Pseudo-Verssprache mit bisweilen echten Reimen gar, sie transportiert die Komik, die eben nur leider nicht mehr zünden will. Nichts von dem, was der Autor benennt und beschreibt, hat vor ihm noch keiner benannt und beschrieben, all diese Gebrechen des real existierenden Sozialismus in den Farben der DDR sind literaturnotorisch, wenn auch verteilt auf verschiedene Autoren und Werke.

Nur das vielleicht ist speziell: „O große Zeiten, als es im Theater / noch Späße gab. Und nicht bloß Theorien. … Was war das für ein Leben, / als selbst die Stursten untern Rezensenten / noch Spaß verstanden!“ Das darf Kaspar sagen, der mit Gretel Trulala zeugt. Seine Theaterkundigkeit kommt mitten im ersten Akt aus dem Blauen, die des Theaterautors Gerlach natürlich nicht. Parteimann Lulatsch sagt: „Wie rückschrittlich wir immer sind, wir haben / den Fortschritt stets auf unsrer Seite!“ Das war doch mehr als nett, nur eben 1990 nicht mehr. Brigadier Klotzer mimt den Gorbatschow: „So geht’s der Avantgarde: / wenn sie nicht aufpasst, wird sie überholt / vom Wirklichen.“ Das berühmte „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ betrifft nicht nur realitätsblinde Politbürokraten. Kaspar ist von Gerlach mit einer eigenen Utopie ausgestattet: „Ich frag, wo ist der Fortschritt, / wenn wir die Arbeit etwas schneller machen / und leichter durch verbesserte Maschinen? / Ein Fortschritt wärs, die Arbeit abzuschaffen:“. Das kam dann ja für sehr viele ehemalige DDR-Bürger rascher, als alle wollten. Nur wenige erkannten, dass sie sich nach den Segnungen der niedrigen Arbeitsproduktivität sehnten, deren Höhe laut Lenin aber dummerweise über den Sieg einer Gesellschaftsordnung entscheidet. Eine Komödie führt auf Abwege, oder?

Ein eigenes Thema wären die beiden Frauen des Spiels: Gretel und Maria. Maria ist die Tochter des Brigadiers, sie bringt das Essen und lässt sich buchstäblich immer in die Büsche zerren. Auch Gretel ist in ihrer Kantine stets dabei die Potenz der umschweifenden Männer zu taxieren. Mehr ist diesen Frauenfiguren fast nicht zugeordnet. Gut, dass das am Ende der DDR gedruckt wurde, heute würden wohl ganz andere Keulen geschwungen dagegen. „Die Übergangsepoche ist dran schuld, / in der wir uns befinden.“ Sagt der Lulatsch. Und man lernt am Ende doch noch was: Die Figuren der Komödie enthüllen auch etwas, was sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht enthüllen sollten. Sie sind bei aller kritischen Haltung, bei aller Distanzierung von allen Unsäglichkeiten des sozialistischen Alltags staatsgläubig, obrigkeitsgläubig. Erwartet wird immer von den anderen, tun müssen immer die anderen oder lassen notfalls. Und wenn sich einer aufschwingt zur großen Rede, dann ist er wiederum nur der, der besser weiß und andere belehrend vom eigenen Denken fernhält. Das trifft Trulalas Monolog über Ansprüche ans Leben, das trifft Gretels Auftritt zu Beginn des dritten Aktes. „Was ist noch menschlich / am Menschen, der nur sein will, was er ist?“ Wenn das auch Gerlachs Frage gewesen sein sollte, dann lautet die Antwort darauf sehr schlicht: Alles.

Intellektuelle Überhebung beginnt just dort, wo Menschen das Menschliche in dieser oder jener, sei es auch nur marginaler Hinsicht, abgesprochen wird. Denn der Machtmensch, nicht der Denkmensch, wartet nur darauf, dass ihm eine Hierarchie des Menschlichen auf dem Tablett serviert wird, nach deren Modell er im Bedarfsfall das Lebenswerte vom Lebensunwerten scheiden kann. „Geht das Bedürfnis bloß nach Sicherheiten? / Hat diese Welt nur Raum für das Normale?“ fragt Gretel und auch sie will sich mit diesem Fragen überheben. Reicht es dem „Unnormalen“ nicht, „unnormal“ zu sein, muss er zu seinem Selbstwertgefühl die „Normalen“ zusätzlich noch diskreditieren? Mitten im gestorbenen Zeitstück stecken doch noch Substanzen darüber hinaus. Der zweite Kaspar im Stück weiß die allumfassende Erklärung: „Die Szenen wechseln schnell heut im Theater.“ Steinbrecher Heinrich hat ebenfalls eine gute Wahrheit gepachtet: „Die Zukunft ist vorbei. Wir leben wieder, / wo ich ganz gern bin, in der Gegenwart.“ Das Gedicht „Weg der Steinbrecher“ beschwor noch Vergangenheiten, Kriegsjahre: „Die ihr kommt, den Stein / zu brechen, unser Blut / mögt ihr sammeln im Krug, / woraus wir mit Tränen / den Holzkeil begießen.“ Gerlach erinnerte an die Außenstelle des KZ Buchenwald im Basaltbruch Römhild. Komisch war da gar nichts.


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