Schiller: Die Jungfrau von Orleans; Staatstheater Meiningen

Was wäre, wenn aus den Bergen der Westukraine, von Stalin einst nach einem Deal mit Hitler den Polen entrissen, eine Jungfrau herabstiege, in Marsch gesetzt durch allerhöchsten Befehl und mit dem einzigen Ziel, Wladimir, dessen Vorname, manche wissen es noch, schlicht „Beherrsche die Welt“ bedeutet, ihm also, eine blutige Niederlage zu verpassen, tausende russische Leichen mit sehr viel Blut auf den Schlachtfeldern vor Orleans, pardon, Luhansk oder Dnipro zum Liegen zu bringen. Nein, es gleich zu Beginn zu sagen und es ist hohen Lobes wert, Regisseur Frank Behnke ist der Versuchung entgangen, mit platter oder selbst etwas weniger platter Aktualisierung an seinen Schiller zu gehen. Schiller dankt es ihm im Grabe zu Weimar, auch wenn er dort nicht mehr lokalisiert werden kann. Das Publikum dankt es ihm auch, soweit es nicht auf dem Aktualisierungs-Trip ist. Man muss nicht an dem Schiller herumfummeln, man muss auch nicht, wie Anfang 2012 in Meiningen, sich all der geflügelten Schiller-Worte schämen, sie wegnuscheln oder weglassen wie dazumal. Der Schiller trägt sich selbst, weil er eben Schiller ist. Einmal hat Frank Behnke eine solide Portion Shakespeare eingeschoben mit einer Rüpelszene der netteren Sorte, Wohl ihm dafür.

Am Ende verbeugten sich neun blutige Unterhemden im Großen Haus. Nur Anja Lenßen, die sich von ihren beiden Rollen als Agnes Sorel und Königin Isabeau zu ihr gemäßer Höhe treiben ließ oder auch getrieben wurde, sie hatte all die Töne, die sie haben sollte für diese beiden Frauen, sie blieb ausgenommen als Kostümierte. Vivian Frey, ihr Gatte und Vater ihrer Kinder, musste drei Rollen schultern und sich in einer von ihr wüst und ordinär und ohne originalen Schiller-Text beschimpfen lassen. Lenßen als Megäre, auch eine Facette. Frey hielt lange eine oder beide Hände unterm Hals an seinem Brustpanzer, mich beschlich der Verdacht, dass der zu eng geschnürt worden war zuvor, er löste sich, was nur in einer Premiere passiert, auch nicht rasch genug von den Haken, die ihn mit seinen beiden Mitspielern aus dem Schnürboden schweben ließen. Das Foto am Programmheft aber zeigt ihn ebenso, also sollte das so sein. Irrtum im Kritikeramt, hier semikokett eingestanden. Lange hielt sich mein Verdacht, Anja Lenßen spiele die Kollegin der Titelrolle, spiele Noemi Clerc, an die nicht vorhandene Bühnenwand. Dann aber verlief sich der Verdacht, ohne den zugehörenden Sand zu finden. Noemi Clerc war in den lauten Szenen, halten zu Gnaden, zu laut, in den leisen stark.

Dass Anja Lenßen einst in Coburg, wo sie vor ihrem Wechsel nach Meiningen engagiert war, auch als Johanna auf der Bühne stand, sei der Vollständigkeit halber erwähnt. Damals hieß es, sie wolle nicht ewig die Sechzehnjährigen der Theaterliteratur spielen, was schon ehrenhaft ist, denn es gab immer auch Aktricen, die gern noch mit 76 das Schwert geschwungen hätten. Thomas Mann hat „Die Jungfrau von Orleans“ einmal eine Wort-Oper genannt, in seinem Jubeljahre darf daran erinnert werden, und er schrieb: „hier ist viel mehr Reimmusik als je zuvor und der Blankvers bildet nur noch den Grund eines poetischen Klangbildes, worin alle Rhythmen in Bewegung gesetzt, alle Register der Sprache gezogen werden.“ Von Texten solcher Art ist die dramatische Weltliteratur durchaus nicht übervoll. Man sollte es achten, es beachten, es nicht auf Niveaus herunterzerren, die irgendwem aus irgendwelchem Grund als angemessen, schlimmer gar: als zeitgemäß erscheinen. Es passiert den starken Stücken, dass sie Seiten offenbaren, die sie vorher nicht zu haben schienen. Fiel mir auf, dass diese Johanna eigentlich vorführt, dass man blind sein muss, wenn man fanatisch sein will: blind sehenden Auges? Der Blick ins Auge des Feindes raubt alle innere Motivation.

Dabei sah man zu Zeiten des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich, um den es bei Schiller doch geht, wie eigen er immer mit der realen Geschichte verfuhr, einander gerade in die Augen, ehe man sich den Schädel spaltete. Seit Bomben, seit Drohnen im Kriegsgeschäft sind, schon seit deutsche Eisenbahnbettungsgeschütze 1914/15 auf Paris zielten, ist das anders. Tötet es sich leichter? Es spricht vieles dafür. Frank Behnke hat umfangreiche Schiller-Erfahrungen: Don Carlos, Die Räuber, den Fiesco, den Tell, die Maria Stuart hat er schon inszeniert, letztere in Meiningen, Spielzeit 2022/2023. Man muss ihm kein besseres Wissen vorspielen. Er hat Lösungen gefunden, wo welche gefragt waren: die Krönungsprozession zu Reims etwa, gefilmt in eine Grafik übergehend, die zeitgenössisch schien. Der Theaterherzog, dem die Spielzeit gewidmet ist, hätte natürlich halb Meiningen als Komparserie über die Bühne marschieren lassen. Es gab schon zu Schillers Zeiten und lange noch danach eine Sehgewohnheit, die auf Opulenz aus war, auf Optik, Farbe, Üppigkeit, Kostüm. Das waren nicht die schlechtesten Zeiten des Theaters und da kamen die staatlichen Zuschüsse noch aus den Schatullen der Fürsten und Könige, nicht vom Landtag.

Um einmal nicht den ewigen Safranski, wie wieder im Programmheft, zu zitieren: „Schiller schildert eine Fanatikerin, eine Extremistin. Fanatismus und Spiel-Fähigkeit schließen sich gemeinhin aus, und sie tun es auch hier. Die heilige Jungfrau löst Beklemmung, sogar Angst aus. Diese Außenseiterin spielt nicht, sie findet sich jenseits aller Spielregeln.“ So Jürgen Wertheimer in „Schillers Spieler und Schurken“ und dann noch dies: „Es ist, als ob sie sich einen magischen Helm übergestülpt hätte. Die geheimnisvolle Hirtin mutiert zu einer militanten Hardlinerin des Glaubens und zur Prophetin eines neuen Kreuzzugs … Erweckungserlebnisse scheinen mit einer drastischen Veränderung der Syntax einherzugehen und zu ungebremstem Versfluss zu führen. Johanna entäußert sich zum spürbaren Befremden ihres biederen Umfelds von diesem Moment an in erstaunlichem Maße: Litaneien der Verheißung und Vernichtung, Prophetien, Schwüre und rhetorische Fragen entquellen ihrem Seherinnenmunde und ein universalgeschichtlicher Monolog in Versen.“ Mich beeindruckte in Meiningen Noemi Clerc, als sie zum Schlagtakt ihren Text sprach, leise wippend: das war nicht Parodie, das war eine Möglichkeit, der fordernden Vorlage zu dienen.

Meiningen hat seit der Renovierung des Hauses vor ein paar Jahren die modernste Bühnentechnik: es lässt sich senken und heben, drehen natürlich auch. Das fügt sich in die Inszenierung mit dem Mittelpunkt des Bühnenbildes (Christian Rinke), einem überdimensionalen Ritterhelm mit Visier, auf den sogar Gesichter projiziert werden können, die nicht nur schlichten Hintergrund geben. Im Drehen sieht man natürlich das ganze Gerüst, was einstmals als Zerstörung von Theaterillusion galt. Es fällt auch niemandem mehr auf, wenn die Akteure auf der Bühne Requisiten holen, bringen oder beiseite räumen. So stehen mehr Bühnenarbeiter dem freien Markt zur Verfügung. Hinter mir erörterten Paare flüsternd die Frage, ob sie Vivian Frey aus dem Fernsehen kennen oder nicht: es kam zu keiner endgültigen Entscheidung. Doch richtig: Frey spielt tatsächlich in „Rote Rosen“ den Koch Arthur Kaiser. Als ich ihm beim Zappen kurz begegnete, war ich verblüfft. Und fühlte mich ertappt. Warum, bitte schön, soll einer nicht in solcher Seifenoper agieren? Jetzt ist er auf der Bühne Thibaut, Talbot und der schwarze Ritter (der sich an der ersten Reihe vorbeidrückt, von Johanna bedroht). Von oben denunziert er mit Leuchtkreuz in der Hand die eigene Tochter. Sie schweigt.

Ja, der Dauphin hat recht, auch jenseits der Loire ist Frankreich, auch ohne Orleans geht das Leben weiter, nicht jeder ist der Held, den die Welt erwartet. Er lebt lieber locker und leicht, er lacht lieber, er feiert lieber, wem sei das vergönnt? Lenin, wir erinnern uns nicht genau, wer das war, gab um des lieben Friedens willen gewaltige Landstriche auf und an den Feind, bei Arnold Zweig können wir nachlesen, wie es ist, wieder in Gegenden zu stehen, die schon verloren waren. Unterm Strich soll tatsächlich behauptet werden, das Leben sei der höchsten Güter keines, Frieden noch etwas weniger? Es sind bei Schiller Frauen, die den Wankenden, die Wankelmütigen, die Unentschlossenen aufrichten, es hieß noch nicht Agitieren, was sie redeten. Rico Strempel ist der Dauphin in Meiningen, sehr blond, sehr überdreht, man meint schon, er habe vergessen, wer ihm zur Krone verhalf. Aber nein, er hat es nicht vergessen. Nur Johanna ist nun eine andere. Sie wollte weder La Hire (Matthis Heinrich) noch Dunois (John Wesley Zielmann), dafür bekam sie Lionel (Florian Graf), den ihr das Schicksal buchstäblich unterschob. Die Welt ist auf Wunder nicht vorbereitet, sie kann nur des Teufels sein, wenn das sogar der eigene Vater für sich glaubt.

Am Ende schwingt Johanna im Hintergrund unbeirrt ihr Schwert, sie kann nicht anders, mag das heißen. Die anderen sind alle verstummt. Nein, es ist nicht die Aufgabe des Volkes, sich für seinen König zu opfern. Mit Pause dauerte alles knapp drei Stunden. Es fehlten die Passagen, da man dazu neigt, ungeduldig auf die Uhr zu schauen. Das spricht sehr für diese Inszenierung. Dass ich bei keiner „Jungfrau von Orleans“ Rouen vergessen kann und den dort sichtbar gemachten Platz auf dem das tatsächliche Mädchen aus Domremy am 30. Mai 1431 verbrannt wurde, liegt nur daran, dass ich dort war. Sie war neunzehn, Konrad Wolf hat nicht ihr Leben verfilmt. Gunnar Blume war als Herzog von Burgund (Kostüme Susanne Maier-Staufen) burgunderfarben gekleidet, falls mich mein Auge nicht täuschte. Er gab dem Abtrünnigen, der von seiner Abtrünnigkeit abtrünnig wurde, ein fast zu scharfes Profil, das ist nicht zwingend ein Mangel. Als die Meininger noch „die Meininger“ waren, die des Theaterherzogs nämlich, rühmte ihnen Otto Brahm nach, sie hätten die Jungfrau aus der Tradition des „Machtweibes“ erlöst. Brahm sah freilich auch ein Auseinanderfallen von Wollen und Können bei Schiller. Wer das sagt, setzt viel Wissen um Schillers Wollen voraus.
www.staatstheater-meiningen.de


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