Jurek Becker: Warnung vor dem Schriftsteller

Als Ingeborg Bachmann im Wintersemester 1959/60 die erste Gastdozentur für Poetik an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main übernahm, ahnte niemand, dass der eben 22 Jahre alte Jurek Becker, der zwei Jahre freiwilligen Dienstes bei der Kasernierten Volkspolizei der DDR hinter sich hatte, der SED-Mitglied geworden und mit dem Versuch, ein Philosophie-Studium in Berlin zu absolvieren, gescheitert war, knapp 30 Jahre später für allerdings nur drei Vorlesungen ein später Nachfolger werden würde. Nach Jahren als Filmautor „Georg Nikolaus“ überraschte er die literarische Öffentlichkeit 1969 mit dem Roman „Jakob der Lügner”, der ihn fast umgehend über die DDR-Grenzen hinaus bekannt machte. Der Roman eröffnete 1970 die neue Buchreihe “Sammlung Luchterhand” in der Bundesrepublik Deutschland, von der wiederum niemand ahnte, dass sie bald nach Beckers Frankfurter Auftritten „die alte Bundesrepublik” genannt werden würde. Am 28. September 1970 stand eine Besprechung von Günter Herburger im SPIEGEL, am 20. November eine von Marcel Reich-Ranicki in der ZEIT. Viel mehr öffentlicher Anschub zum Erfolg war damals kaum denkbar. Eine Verfilmung folgte 1974, Regie Frank Beyer, sie blieb der einzige DDR-Film, der je für den Oscar als bester ausländischer Film nominiert wurde.

Ingeborg Bachmanns fünf Vorlesungen, gehalten zwischen dem 25. November 1959 und dem 24. Februar 1960, bekamen den Titel „Probleme zeitgenössischer Dichtung“, Jurek Becker nannte seine drei „Warnung vor dem Schriftsteller“. An beiden Titeln allein kann man ablesen, wie sich am Konzept der Gastdozenten etwas änderte. Nach Bachmann sprach Marie Luise Kaschnitz über „Gestalten der europäischen Dichtung von Shakespeare bis Beckett“, Karl Krolow behandelte „Fragen zeitgenössischer Dichtung“, Heinrich Böll „Zur Ästhetik des Humanen in der Literatur“. Solche und einige andere ähnlich ausgelegte Titel schienen einen quasi fachwissenschaftlichen Anspruch zu formulieren, aber schon Wolfgang Koeppen fragte 1982/83 „Ist der Schriftsteller ein unnützer Mensch?“ und Ernst Jandl behandelte 1984/85 „Das Öffnen und Schließen des Mundes“. Jurek Becker, der in seinen ganz jungen Jahren im Auftrag Hermann Kants unter dem ungeliebten Pseudonym Lola Ramon für eine vor allem in Westberlin verbreitete Studentenzeitung „tua res“ schrieb, signalisierte bereits mit seiner Titelwahl einen, seinen, besonderen Ansatz. Becker erzählte vom Pult und es finden sich auf keiner einzigen der im Druck rund 80 Seiten Formulierungen, die auch nur in die Nähe dessen geraten, was man durchaus passend Fach-Chinesisch nennen hört.

1988 hatte Becker eine spezielle Erfahrung gemacht: der SPIEGEL schickte ihn nach Seoul zu den Olympischen Sommerspielen, die vom 17. September bis zum 2. Oktober 1988 stattfanden, und den Beitrag, den er schließlich darüber schrieb, nahm ihm das Nachrichten-Magazin nicht ab. Becker fügte seine Arbeit unter der Überschrift „Das olympische Elend“ acht Jahre später als ausgewiesene Erstveröffentlichung in seinen Sammelband „Ende des Größenwahns“ ein. Und erst 2004, sieben Jahre nach seinem Tod, konnten Neugierige seinen wütenden Brief vom 2. Oktober 1988 nachlesen in der Brief-Auswahl des Suhrkamp Verlages. Er war gerichtet an Joachim Preuß, Redakteur und später stellvertretender Chefredakteur des SPIEGEL, der erst dann nach 30 Jahren Zugehörigkeit zum Haus gemeinsam mit seinem Chef Stefan Aust ausschied. „Ich muss mir Mühe geben, nicht wie jemand zu reagieren, der schimpfend aus einem Raum hinausgeht und die Tür hinter sich zuknallt. … Sie sollen wissen, dass ich mich brüskiert fühle. Das Verhalten des „Spiegel“ kommt mir grob unhöflich vor, beleidigend“. Auf ein Telefonat mit Sportchef Kurt Röttgen bezogen beendete er seinen Brief so: „Es brauste mir in den Ohren, mein Kopf war voll von dem Gedanken: Was erlauben die sich! So denke ich bis zum Augenblick, mehr gibt es dazu kaum zu sagen.“

Die Funkstille zwischen SPIEGEL und Jurek Becker endete erst mit einem Mini-Interview zu den noch ungedruckten Poetik-Vorlesungen. Der anonyme Frager meinte, „Warnung vor dem Schriftsteller“ klinge wie „Warnung vor dem Hund“ und erinnere an die einst berühmte Beschimpfung Rolf Hochhuths durch Ludwig Erhard, der den Dramatiker Pinscher genannt hatte. Becker wies die Überlegung zurück: „Daran habe ich keine Sekunde gedacht. Es handelt sich eher um eine Art Verbraucheraufklärung. Bücher sind nicht immer so umweltfreundlich, wie es den Anschein hat.“ Und antwortete auf die Abschlussfrage, ob er es schwer habe als Autor von „Liebling Kreuzberg“ knapp mit: „Ich warne ja nicht vor mir.“ Man muss Fragen wie Antworten vermutlich nicht übertrieben ernst nehmen. Denn ganz gewiss warnte Becker auch vor sich. Und wenn es nur als eine Warnung vor ihm als gern Erwartungshaltungen enttäuschender Schriftsteller gewesen sein sollte. Die Lektüre seines Olympia-Berichts ist eine vergnügliche und welche Erwartungen des Sportchefs Röttgen sie letztlich nicht erfüllte und ihn deshalb verärgerte, ist bis heute, so weit ich sehe, nicht bekannt. Der Becker-Biograph Sander L. Gilman erwähnt die Korea-Reise gar nicht, dafür aber eine offenbar unmittelbar davor liegende China-Reise Juni/Juli 1988.

Wer wissen wollte, auf welchen Plätzen im Medaillenspiegel der Spiele in Seoul die einzelnen Staaten am Ende landeten, musste auf jeden Fall andere Quellen benutzen als Jurek Becker, der freilich davon ausgehen durfte, dass genau das auch von ihm niemand lesen wollte. Immerhin: er bekannte sich als leidenschaftlicher Sport-Fan, damit als durchaus untypischen Schriftsteller, die bekanntlich bis in die jüngste Vergangenheit gern damit kokettierten, nichts von Mathematik und von Fußball zu verstehen, erst eine jüngere Autoren-Generation fand es lustig, sogar eine eigene National-Mannschaft zu gründen. Jedenfalls kommentierte er folgerichtig den Umstand nicht, dass die DDR mit 102 Medaillen auf Platz 2 sehr deutlich vor der BRD mit 40 Medaillen auf Platz 5 einkam. Becker: „Ich muss mich zum Erleben zwingen, auch wenn es mich umbringt, meine Aufmerksamkeit von der Qualifikation im Dreisprung auf die sogenannte Wirklichkeit zu richten.“ Man spürt sein Vergnügen beim Schreiben und man hört bei den Vorlesungen in Frankfurt dieses sein Vergnügen ebenfalls. Schon damit allein wäre fast alles, was er sagt, eine Wohltat. Doch er führt seine Hörer und seine Leser weit darüber hinaus. Er bedient die Erwartungen an den aus der DDR mit Zehn-Jahres-Visum ausgereisten Schriftsteller bis zu einem bestimmten Punkt.

Und wie er bei den Olympischen Spielen urplötzlich auf die unerträglichen Schiebereien bei den Box-Wettkämpfen in Los Angeles zu sprechen kommt und gar nicht wieder davon lassen kann, so kommt er plötzlich von der wohlfeilen Rede über Zensur und Literatur-Unterdrückung in der DDR auf die fade und bedeutungslose Literatur der BRD. Er vergleicht, und genießt vermutlich schon während des Redens den wenigstens inneren Aufschrei manches Hörers und späteren Lesers, die Zensur in der DDR und den Markt im Westen. Die immerhin zwei Seiten umfassende Überblicks-Darstellung der drei Vorlesungen bei Biograph Gilman ist übrigens arg dürftig und der Oberfläche verhaftet. Man könnte bei heutiger Lektüre der Vorlesungen Becker besonders hellsichtig nennen. Ich glaube, dass er das gar nicht zwingend sein musste, er musste nur genau hinsehen und vielleicht war sein teils echter Außenblick dafür eine Voraussetzung. Denn die typische Westlogik, dass jeder eigentlich alles toll finden müsse, was besser sei als das, was er in der DDR zurückließ, ist eben nur Westlogik, keineswegs logisch. Der heutige Leser könnte entdecken, dass die Vorlesungen wie eben erst gehalten klingen, weil sich seit 1989 eben nichts geändert hat bis auf das in dieser Perspektive fast marginale Verschwinden der DDR im Bauch der alten Bundesrepublik Deutschland.

Nein, Jurek Becker beklagt in „Warnung vor dem Schriftsteller“ gar nichts. Aber er macht seinem Publikum sofort deutlich, was es gewärtigen muss, wenn es sich auf ihn einlässt: „Vielmehr hält mich meine Unfähigkeit zu methodischem Vorgehen auf diesem Gebiet zurück, ich möchte nicht vor Ihnen dastehen wie ein Vogel, der sich als Ornithologe gebärdet.“ Was reine Koketterie ist, denn methodisches Vorgehen zeigen seine drei Vorlesungen allemal. „Ich liebe ja solche Autoren, die Regeln verletzen, die Sprache zerbrechen, wie um nachzusehen, was drin ist.“ Dieser Becker ist ein Tiefstapler. „Ich vermute, dass seit den Anfängen von Literatur der wesentlichste Antrieb zum Schreiben das Bedürfnis nach Stellungnahme gewesen ist, also nach Widerspruch.“ Man beachte das „also“. Nein, Jurek Becker beklagt gar nichts. „Es ist nur wenig übertrieben zu sagen, dass die Geschichte der revolutionären Literatur identisch ist mit der Geschichte der Literatur.“ Aber Vorsicht: „Die Qualität eines Autors steigt bestimmt nicht proportional zu seiner Ablehnung der ihn umgebenden Zustände.“ Und dann der Schwenk zur DDR: „Bücher und Theaterstücke und Filme haben dort ungleich größere Folgen als hier im Westen, sie lösen Diskussionen aus und führen andauernd zu Auseinandersetzungen, wie sie hier kaum denkbar sind.“ War das schlecht?

Am 29. September 2016 veröffentliche der Humorist Matthias Biskupek unter der Überschrift „Sölle & Becker“ in seinem Internet-Tagebuch dies: „1988 hatte ich eine Einladung zum Solothurner Literaturfestival – und durfte sogar fahren und im Kleinen Forum lesen. Jurek Becker las im Großen Forum. Irgendwann frühstückten wir mal gemeinsam in der vermutlich sonnenbeschienenen Hauptgasse zu Solothurn. Leider kann ich mich an den gewiss tiefschürfenden Inhalt unseres Gesprächs nicht mehr erinnern.“ Das Festival lief vom 13. bis 15. Mai 1988, viel Zeit blieb also nicht für das Irgendwann. Verrückter aber ist, dass Jurek Becker 1988 gar nicht in Solothurn war. Noch verrückter ist, dass Matthias Biskupek ebenfalls 1988 nicht in Solothurn war, sondern, wie seinem Opus Magnum „Der Rentnerlehrling“ leicht zu entnehmen, 1987. Das Archiv des Solothurner Festivals weist für die in Frage kommenden Jahre keine einzige Veranstaltungsform aus, die „Großes“ oder „Kleines Forum“ hieß, den Organisatoren ist der Name des genannten Humoristen unbekannt, von ihnen wurde er nie eingeladen. Sollte er also je dort gewesen sein, dann als schlicht privater Besucher und 1987 auf alle Fälle illegal, denn da hatte er zwar tatsächlich Reiseerlaubnis, aber zu Recherchen für seine Karl-Valentin-Biografie in München und Köln.

1989 war Jurek Becker der eigens ausgewiesene deutsche Gastautor in Solothurn, das Festival dauerte vom 5. bis 7. Mai 1989. Er folgte als Gastautor Helga M. Novak (1986), Peter Härtling (1987), Herta Müller (1988), ihm folgte 1990 als schwedischer Gastautor Lars Gustafson. Biograph Gilman erwähnt auch Solothurn mit keiner Zeile, es mag ihm zu unbedeutend vorgekommen sein. Tatsächlich ist die von Heinz Kamnitzer namens des ostdeutschen PEN ausgesprochene Einladung an Becker, zu einer Lesung nach Ost-Berlin zu kommen, die erste offizielle Einladung seit 1977, biographisch bedeutsamer. Und wenn, wie Gilman schreibt, Becker am 5. Mai 1989 die Grenze passierte und dann die Lesung im „Club der Kulturschaffenden Johannes R. Becher“ hatte, blieb für die Kantonshauptstadt Solothurn nicht allzu viel Zeit. Am 7. Mai 1989 waren in der DDR jene Volkswahlen, die wegen nachweislicher Wahlfälschungen zu Protesten führten, die letztlich zu den Herbstereignisse führten, die das Ende der DDR einleiteten. Beckers Gastauftritt kann also nur am 6. oder 7. Mai 1989 gewesen sein. Wann genau er seine drei Sommersemester-Vorlesungen hielt, habe ich bisher nicht ermitteln können, es könnte, wie das Kurzinterview im SPIEGEL vom 29. Mai nahelegt, nach Solothurn gewesen sein. Für ihre vorerst zeitlose Substanz ist das ohne Belang.

„Der Platz zwischen den Zeilen hat für die DDR-Literatur größte Bedeutung. In den vom Leser bevorzugten Büchern ist er bis zum letzten Millimeter vollgeschrieben.“ Das ist kaum überraschend als Feststellung, sehr dagegen das damit verbundene Unbehagen an der überhöhten Bedeutung des Unangepassten im Vergleich zu allen denkbaren anderen Qualitäten von Büchern. Der Schriftsteller setzt sich automatisch dem Verdacht aus, gekauft zu sein oder kapituliert zu haben, wenn er aus purer Lust darauf etwas anderes schreibt als den dauernden Protest, die ewige Provokation. Das hat, glaube ich, vor Becker, niemand so deutlich gesagt. Auch dieses Eingeständnis las man nicht in jedem zweiten Feuilleton: „Ohne Zweifel sind in der DDR schon Bücher mit der Absicht geschrieben worden, sie verbieten zu lassen: mit Blick auf den westdeutschen Buchmarkt. … Man kennt die Knöpfe, die gedrückt werden müssen, damit die rote Lampe leuchtet.“ Das kann man komplizierter ausdrücken, hochgestochener. Doch genau das ist die Qualität dieser Vorlesungen: dass Jurek Becker das nicht tut. Die Westperspektive: „Der Schriftsteller aus der DDR hat Widerstandskämpfer zu sein: erst wenn er diese Qualität nachweist, reden wir über alles andere. Seine Bücher können nur dann respektable Bücher sein, wenn sie in der DDR für Unruhe sorgen.“

Genau diesem Maßstab aber setzt die Kritik die eigenen Autoren nicht aus: „Im Gegenteil herrscht die Ansicht vor, ein hiesiger Schriftsteller habe sich auf das zu konzentrieren, was seine Sache sei – aufs Bücherschreiben. ... Engagement wird zwar hingenommen, gilt aber, unausgesprochen, als degoutant.“ Becker bekennt mit wenig Ironie, er selbst habe erlaubte Bücher geschrieben. „Tapferkeit wird allgemein für eine lobenswerte Eigenschaft gehalten, und kein Wort gegen Tapferkeit, aber es ist anstrengend, mutig zu sein. Es verbraucht eine Kapazität, die beim Schreiben an anderer Stelle dringend gebraucht wird. Schriftsteller sollten nicht tapfer sein müssen.“ Doch ist das Aufschreiben dessen selbst schon tapfer, denn öffentliche wie veröffentlichte Moral sitzen in dieser Angelegenheit auf einem himmelhohen Ross. Auch die zweite Vorlesung beginnt mit einem kleinen Paukenschlag: „Ich lebe seit geschlagenen zwölf Jahren hier im Westen und bringe immer noch kein Gefühl der Zugehörigkeit zustande.“ 1989 war ein solcher Satz noch nicht gegen Missbrauch zu schützen. „Es klingt vielleicht herausfordernd, wenn ich sage, dass es sich hierzulande bei Literatur in erster Linie um einen Wirtschaftszweig handelt, doch wird damit keineswegs der Vorwurf der Minderwertigkeit erhoben.“ Und doch ist es ein Vorwurf.

Die zweite Satzhälfte klingt nur wie absichernde Verteidigung, obwohl sie auch Angriff ist. Denn zu den Essentials westlichen öffentlichen Selbstverständnisses gehört die Geringwertung alles Materiellen als niedrig, die Hochwertung alles Ideellen, alles Idealen, deswegen der ewige Ekel, wenn irgendwo mit Brecht gesungen und gesagt wird: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral.“ Jurek Becker ist keineswegs geheimer DDR-Nostalgiker, er verbietet nur seinen Augen das Sehen nicht. „Wenn eine Gesellschaft sich aber ihrer Regeln und ihres Lebensgefühls so sicher geworden ist, dass Zweifellosigkeit zur obersten Tugend wird, dann braucht sie keine Literatur, sondern höchstens etwas Unterhaltung. Und die hat sie.“ Nur scheinbar brutal klingt es, wenn Becker meint: „Der Schriftsteller ist kaum mehr wert als sein letztes Buch: Hat das Erfolg, gilt er als erfolgreich, fällt das durch, muss er von vorn anfangen.“ Man muss nur lesen, was in der jüngsten Zeit immer wieder einmal von der wirtschaftlichen Lage der Schriftsteller hierzulande berichtet wird: Selbst die erfolgreichsten, selbst die Preisträger müssen von Leserreisen leben, bis sie sich selbst nicht mehr hören können. Der Zwang, Jahr für Jahr ein wenn auch noch so dünnes Buch auf der Buchmesse in Frankfurt vorlegen zu müssen, um nicht aus dem Sichtfeld zu rutschen, ist längst beschrieben.

Die Wahrheiten, die Jurek Becker vorträgt, sind das, was man ach so gern unbequem nennt: „Aus der Literatur, die sich einmal in Konkurrenz zur Vergnügungsindustrie befunden hat, wird so immer mehr ein Teil eben der Vergnügungsindustrie.“ Oder: „In der freien Marktwirtschaft ist ein Buch ein Produkt wie jedes andere, es unterliegt keinen besonderen ethischen Regelungen.“ Der Schleier über diesen schlichten Tatsachen ist dünn, wie jeder halbwegs informierte Mensch weiß, gehört aber zu den Lieblingsschleiern fast aller Beteiligten. „Das Unglück kommt ja gerade daher, dass die bundesdeutsche Literatur all die Eigenschaften verliert, um derentwillen Literatur einmal reaktionären Politikern und dem gesunden Volksempfinden suspekt gewesen ist, um derentwillen Bücher einmal verbrannt wurden.“ Es ist hilfreich, an dieser Stelle an eine Rede zu erinnern, die Becker am 10. Mai 1983 in Frankfurt am Main hielt, Titel der Erstveröffentlichung 13 Jahre später schlicht „Bücherverbrennung“. „Man gedenkt der Bücherverbrennung dann ehrlich, wenn man sich zum Beispiel über Zensur empört. … Man gedenkt der Bücherverbrennung dann aufrichtig, wenn man sich zum Beispiel über Berufsverbote empört.“ „Die Erinnerung an die Bücherverbrennung sollte sich wie eine Allergie in uns festsetzen, die bei passender Gelegenheit ausbricht.“

Die dritte Vorlesung ist nicht nach These und Antithese die allfällige Synthese. Denn schon die ersten beiden waren nicht These und Antithese. Die dritte Vorlesung ist eine schöne Erfindung, selbst wenn sie gar nicht erfunden ist. Sie erzählt von einem Freund, der eines schönen Tages, was vermutlich mehrere schöne Tage waren, wenn es sich um hinreichend viele Bücher handelt, all seine schönen Bücher bis auf die puren Nachschlagewerke in Kisten verpackt und im Keller deponiert. Er beschriftet die Kisten immerhin so, dass er bei Bedarf etwas findet, der Bedarf tritt in der Vorlesung einmal bei dem Namen Sigmund Freud auf. Jurek Becker tritt in dieser Vorlesung wie vorher auch als Ich auf, wir sollen ihm demgemäß glauben, dass er tatsächliches Geschehen, tatsächliche Debatte ausbreitet. Der Freund hat gute Argumente, Becker-Ich befindet sich über längere Strecken durchaus in der Defensive. Es sind enorm viele Sätze in dieser Vorlesung konjunktivisch formuliert, das signalisiert Vorläufigkeit, offenes Ende, wir wissen das aus der Klippschule. Dann aber ist der Konjunktiv außer Kraft: „Beide glaubten wir wohl nicht recht daran, den anderen überzeugen zu können, und, ehrlich gesagt, verlor ich irgendwann auch den Überblick, welches meine und welches seine Position war.“ Was ist das für ein herrlicher Schluss!


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