Maxim Gorki: Anton Tschechow
Der 24. und letzte Band der großen DDR-Gorki-Ausgabe ist nie erschienen, soweit ich weiß, dafür kam als auch äußerlich anders gestalteter Nachschlag 1986 ein Buch mit dem Titel „Briefwechsel mit Freunden“ heraus. Einen Briefwechsel Gorkis mit Anton Tschechow sucht man darin vergebens, obwohl doch, so jedenfalls weist die schweizerische Ausgabe von Tschechows Briefen in fünf Bänden es aus, nicht weniger als neunzig Briefe existieren, 51 von Gorki an Tschechow, 39 von Tschechow an Gorki. Die fünf Diogenes-Bände haben mich bis heute nicht in sie verliebt machen können, dokumentieren sie doch jene für mich irreversibel idiotische Laut-Umschrift aller russischen Namen, die sich irgendwer unter diesen außerhalb der Real-Welt lebenden Philologen der russlandphobischen westlichen Welt aus den Fingern gesogen hat (vermutlich im Kollektiv, denn einer allein kann so viel Mist nicht ersinnen), die alles Nachschlagen, alles Suchen erschweren und von Sonderzeichen leben, die schlimmer als jedes gendernde Binnen-I sind und wirken. Der jüngere Gorki hat dem älteren Tschechow ein aus vielen Gründen höchst empfehlenswertes Porträt gewidmet, entstanden unmittelbar nach dem frühen Tod Tschechows und zehn Jahre später ergänzt.
Schon Mitte November 1898 bekannte Tschechow, sehr froh über die Bekanntschaft mit Gorki zu sein, da hatten sie sich noch nicht persönlich getroffen. Und zwei Wochen später durfte Gorki in einem Brief aus Jalta einen Satz lesen, der noch heute überraschend wirkt, wenigstens auf Leser, die von Tschechows Dramen nicht genug bekommen können, so einer bin ich: „Meine Stücke lassen mich im allgemeinen kalt, ich habe mich seit langem vom Theater zurückgezogen und habe auch keine Lust mehr, fürs Theater zu schreiben.“ Es ging um „Onkel Wanja“, dem Gorki ein Jahr später nachsagte, er habe „die Kraft in sich, auch schlechte Schauspieler zu gutem Spiel zu zwingen.“ Wäre mir dieser Satz geläufig gewesen, als ich den „Onkel Wanja“ vor ein paar Jahren in Weimar sah, dann hätte ich wohl geschrieben, dass selbst ein Gorki sich irren kann. Oder die Mimen dort waren gar keine schlechten Schauspieler, dann hätte der Zwang nichts genützt, sie wären einfach nur unter ihren Möglichkeiten geblieben. Wobei ja immer auch noch der Regisseur zu bedenken bleibt. Ende 1898 jedenfalls hatte Tschechow sein eigenes Stück noch auf keiner Bühne gesehen, was bekanntlich, Beispiel Kleist, nicht immer gleichzusetzen ist mit Desinteresse am eignen Werk.
Tschechow hatte, schon sein zweiter Brief an Gorki belegt es in frappierender Weise, eine ungeheuer feine Nase. „In der Darstellung von Intellektuellen spürt man eine Spannung, eine Art Vorsicht ...“, so charakterisierte er eine der Auffälligkeiten an Gorkis Erzählungen, die er teilweise sogar höher schätzte und würdigte als Gorki selbst. Das mag in dem weitgehend autodidaktischen Bildungsweg Gorkis begründet gewesen sein, Mutmaßungen darüber hat Tschechow keine angestellt. Aber er hat seine Vorfreude auf ein persönliches Gespräch zum Ausdruck gebracht. Zu solchen Gesprächen ist es bald gekommen, auf ihnen fußt zu wichtigen Teilen das Porträt aus den Jahren 1904 und 1923. Es beginnt mit einem Besuch im Dorf Kutschuk-Koi in der Nähe von Jalta, wo Tschechow ein Häuschen besaß, kleines Grundstück und von seinen Träumen sprach, ein Sanatorium für kranke Dorfschullehrer zu bauen, wenn er sehr viel Geld hätte. Gorki muss von den Worten seines Gastgebers ungeheuer beeindruckt gewesen sein, er zitiert ihn in einer Ausführlichkeit, die ganz nebenbei auch ein phänomenales Gedächtnis bezeugt. „Der Lehrer soll ein Meister in seinem Fach sein, ein Künstler der seinen Beruf heiß liebt …“, sagte Tschechow.
Diesen Lehrer aber mache Russland zum Tagelöhner, zum Mann, auf dem jeder herumhacke: „Wissen Sie, wenn ich einen Lehrer sehe, schäme ich mich vor ihm – dass er so zaghaft ist und so schlecht gekleidet ...“. Gorki erzählt von den Besuchern, die kommen und die fast alle versuchen, eine gute Figur vor Tschechow zu machen, gebildet zu wirken, belesen, weltläufig, und dabei ganz unverkennbar gar nicht sie selbst sind und welche Gabe Tschechow entfalte, diese Leute im Gespräch zu sich selbst zu bringen, dass sie plötzlich reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, dass man mit ihnen von Dingen sprechen kann, von denen sie etwas verstehen, für die sie sich sogar begeistern können. Und wenn es bloß Marmelade ist, die eine Besucherin aus Dankbarkeit ihm zukommen lassen will. Und Gorki lässt kommentierend auch seine eigene Sicht erkennen auf seine Landsleute, auf die Art, mit der „der Russe, in dem Bestreben, als Europäer zu erscheinen, sich so gern schmückt wie der Wilde mit Muscheln und Fischzähnen.“ Tschechow „war ein Feind aller Gespräche über sogenannte „höhere“ Fragen, mit denen der gute „russische Mensch“ sich gar zu gern tröstet und erquickt ...“. Er lenkte im Gespräch seine Partner aufs „Schlichte und Echte“.
Auch über Kritiker hat Gorki ein schönes Tschechow-Wort überliefert: „Kritiker sind wie die Bremsen, die das Pferd beim Pflügen belästigen.“ Dann aber dokumentiert der Porträtist eine Seite seines Gastgebers, die einen allgemeinen Zug russischer Menschen charakterisiert, und zwar unabhängig von Stand und Beruf: „Um ehrenhaft, nach Menschenart zu leben, muss man arbeiten, mit Liebe und Vertrauen arbeiten … und das versteht man bei uns nicht ...“. Er nennt den Architekten, den Arzt, den Beamten als Beispiele, den Rechtsanwalt, den Schauspieler: „Ganz Russland ist ein Land gieriger und träger Menschen: Sie essen schrecklich viel, trinken, schlafen am Tage und schnarchen im Schlaf.“ Doch erhebt er sich nicht einfach über sie: „Tschechow bemitleidete zugleich diejenigen, die er verachtete ...“. Gorki resümiert: „Wenn man die Erzählungen von Anton Tschechow liest, hat man ein Gefühl wie an einem traurigen Spätherbsttag, an dem die Luft so durchsichtig klar ist und die kahlen Bäume, die engen Häuser, die grauen Menschen in der Luft so scharf umrissen sind. Alles ist so merkwürdig einsam, bewegungslos und kraftlos.“ Das könnte man von den Dramen Tschechows ganz genauso sagen, meine ich.
Gorki beschreibt die seltsamen Umstände, die den Sarg mit dem toten Tschechow nach Moskau begleiteten, beschreibt, wie ein Teil der am Bahnhof Wartenden zunächst einem falschen Sarg folgten und dann, was ihm heute sofort eine Klage des Betroffenen einbringen würde, worüber sich zwei Rechtsanwälte unterhielten, während sie dem dann richtigen Sarg aus dem Waggon „Für Austern“, in dem Tschechow lag, folgten. Einen nennt Gorki mit Namen, der würde, wie gesagt, heute wegen Rufschädigung sofort Anwaltsamok laufen, sechsstellige Schmerzensgelder und dreihundertseitige Unterlassungseide fordern. Gorki geht in seiner Russland-Kritik (1923, im angehängten Teil seines Porträts) sehr weit: „In Russland, wo es viel von allem gibt, aber wo die Menschen keine Liebe zur Arbeit haben, denkt der größte Teil so. Der Russe bewundert die Energie, aber – er glaubt kaum an sie.“ Und weil Gorki Jack London als ein in Russland undenkbares Vorbild eines aktiven Schriftstellers hinstellt, sahen sich die DDR-Herausgeber des Porträt-Bandes veranlasst, dieses angeblich falsche Urteil in den Anmerkungen mit Hinweis auf Gorki selbst zu korrigieren. Auf Gorkis geistige Höhe stellten sie sich damit zweifelsfrei nicht einmal annähernd.
Der hatte Anfang Februar 1900 Tschechow aus Nishni Nowgorod geschrieben, wie er einige Tage zuvor bei Tolstoi als Gast empfangen worden war. „Alles, was er sagte, war wunderbar einfach, tief und, obwohl manchmal völlig falsch – meiner Meinung nach -, dennoch unheimlich schön.“ Und: „Lew Tolstoi zu sehen, ist sehr wichtig und nützlich, obwohl ich ihn durchaus nicht für ein Naturwunder halte.“ Vielleicht genau deshalb erzählt Gorki in seinem Porträt auch davon, wie ihm Tschechow von der ihm offensichtlichen Eifersucht Tolstois auf Gorki berichtete. Tolstoi habe auf Gorkis „Entennase“ verwiesen und dann gesagt: „Die Frauen lieben ihn nicht, und die Frauen haben, wie die Hunde, einen Instinkt für gute Menschen.“ Tschechow muss Tränen gelacht haben, als er das erzählte. „Man kann viel über Tschechow schreiben, aber man muss unbedingt sehr eingehend und klar über ihn schreiben. Das kann ich nicht.“ Da hat Gorki sein Licht dann doch gar zu demonstrativ unter den Scheffel gestellt. Und auch deshalb gilt für ihn, was er nur auf Tschechow münzte: „Es tut wohl, sich an einen solchen Menschen zu erinnern; sofort kehrt der Mut in dein Leben zurück, aufs neue kommt klarer Sinn hinein.“ Meine Gorki-Liebe begann 1970.