Louis Fürnberg: Das Ei des Kolumbis
Von Louis Fürnberg, gern gebe ich es zu, habe ich zuerst und nahezu ausschließlich als dem Freund und Briefpartner Arnold Zweigs intensiver Kenntnis genommen. Wohl stand in meinem Regal „Der Bruder Namenlos“, wohl hatte ich, aus der Ilmenauer Stadtbibliothek entliehen, im Oktober 1971 die „Mozart-Novelle“ gelesen als eins von etlichen meist sehr schmalen Bänden, die ich regelrecht verschlang, als wüsste ich voraus, dass mit dem 1. November, dem Beginn des Grundwehrdienstes in der NVA, das Band zwischen mir und der Literatur erst einmal zerschnitten würde. Jetzt schaue ich in der fünften Band des seinerzeitigen Großprojekts „Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933 – 1945 in sieben Bänden“, der ein von Rudolf Hirsch und Ursula Behse gemeinsam verfasstes Kapitel zum „Exil in Palästina“ enthält. Louis Fürnberg ist dort einer von lediglich vier Unterabschnitten gewidmet, die sich mit einzelnen Persönlichkeiten befassen: er folgt auf Lea Grundig, Else Lasker-Schüler und Arnold Zweig. „In seinen Dichtungen“, steht da, „werden kaum, wie bei anderen Literaten der palästinensischen Emigration, literarische Auseinandersetzungen mit der palästinensischen oder jüdischen Frage geführt ...“. Unter den nur erwähnten oder auch kurz näher charakterisierten Werken Fürnbergs wird „Das Ei des Kolumbus“ nirgends erwähnt.
Zugunsten der beiden Autoren ist anzunehmen, dass sie den Einakter mit dem wohl demonstrativ ironischen Untertitel „oder Ein ritterlicher Plan zur Abschaffung des Kapitalismus“ nicht kannten. Nachlesen kann man ihn im Band 4 der „Gesammelten Werke in sechs Bänden“ mit dem kargen Titel „Prosa II Stücke“. Als Wulf Kirsten anlässlich des 100. Geburtstages von Louis Fürnberg am 24. Mai 2009 in einer Feierstunde der Klassik Stiftung Weimar seine Rede hielt, bekannte er: „... wohl aber rede ich in der Absicht, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und Verständnis für sein Denken und Handeln aufzubringen aus der Sicht eines Nachgeborenen, dem Bewährungsproben, wie sie Louis Fürnberg auferlegt waren, glücklicherweise erspart geblieben sind.“ Die komplette Rede ist nachgedruckt in der Zeitschrift „Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen“, Heft 49 (2. Heft 2009) und weil es eine in mehrfacher Hinsicht musterhafte Rede ist, empfehle ich sie ausdrücklich. Hier aber will ich nur auf die Aussage hinaus, dass selbst Kirsten, der mit großem Nachdruck auf Fürnbergs Prosa verweist, nicht einmal erwähnt, dass Fürnberg auch für die Bühne geschrieben hat. Genannter Band 4 enthält immerhin fünf Stücke mittleren Umfangs, die rund 250 Druckseiten beanspruchen. „Das Ei des Kolumbus“ handelt im Jerusalem des Jahres 1943.
Die Handlung fällt damit mitten in Fürnbergs eigene Emigrationsjahre in Palästina. Damit nicht genug, lässt er sogar Personen auftreten, die zum Zeitpunkt des Geschehens auf einer potentiellen Bühne noch lebten. Nur mit seinen Initialen ist das vor allem Theodor Friedrich Meysels (2. November 1899 – 1. Juni 1963), Schriftsteller, Journalist, Kunsthistoriker, von dem es unter anderem einen 1960 in Düsseldorf erschienenen Jugoslawien-Reiseführer und ein Buch mit dem Titel „Auf Römerstraßen durch Österreich“ gibt. Weitere Werke: „Bummel durch Alt-Wien“ (1948), „Wiener Landpartie“ (1949) und „Via Sacra, die Pilgerstraße nach Mariazell“ (1962). Mir ist nicht bekannt, ob Meysels von der kaum anders als bösartig zu nennenden Karikatur seiner Person in Fürnbergs Einakter Kenntnis bekam und wie er darauf reagierte. Heutige Klagepraxis gegen Werke fiktionaler Literatur, in denen sich Kläger erkannt haben wollen, hätte hier einen krassen frühen Fall mit guter Aussicht auf Erfolg. Die boshafte Absicht Fürnbergs wird allein dadurch deutlich, dass er mehr als eine komplette Druckseite darauf verwendet, das Erscheinen des Mannes mit Bulldogge zu beschreiben wie in einem Regietext, deshalb auch im Kursivdruck wiedergegeben, ohne dass alles einer eventuellen Inszenierung tatsächlich helfen würde und auf einer Bühne realisierbar wäre.
Die Bulldogge erscheint „mit blutunterlaufenen, gehetzten Augen“, das bringe ein Regisseur mal eine Doggendarstellerin bei. „An der Leine führt sie eine Panoptikumsfigur, einen mittelgroßen, zündholzdünnen Mann unbestimmbaren Alters, dessen fragwürdiger Rumpf von einem Schädel gebeugt wird, dessen Formen entweder auf eine überstandene Rachitis oder auf eine akute Elephantiasis hinweisen.“ Fürnbergs einzige Absicht ist zweifelsfrei, die Figur in jeder Hinsicht lächerlich, abstoßend zu zeichnen. Deshalb hat sie einen Hals, „sofern in diesem speziellen Fall der Gegenstand, der Rumpf und Kopf verbindet, Hals genannt zu werden verdient“, deshalb trägt sie „Schuhe aus roten Saffianleder mit hohen Damenabsätzen“ und einen „buschigen, dunklen Schnurrbart, zu dessen Ehre gesagt sei, dass das Alter der darin befindlichen Speisereste noch niemals zwei Mondwechsel überstiegen hat.“ Dies wäre durchaus lustig, wenngleich als Beschreibung einer Bühnenfigur fast wertlos, wenn, ja wenn eben nicht eine tatsächlich lebende Person gemeint wäre. Letztlich ist das natürlich dem alten Regularium untergeordnet: Wo kein Kläger, da kein Richter. Und Theodor Friedrich Meysels überlebte seinen Verleumder um vier Jahre, ohne damit selbst ein biblisches Alter erreicht zu haben. Worum aber geht es im Einakter?
Es geht, der Untertitel benennt es ironisch, aber dennoch präzise, um einen Plan zur Abschaffung des Kapitalismus, inwiefern es ein ritterlicher Plan ist, muss sich der Leser selbst erklären. Der Haupttitel aber, „Das Ei des Kolumbus“, ruft den Sinn der seit der Renaissance in Europa im Umlauf befindlichen Redensart auf, der darin besteht, dass ein scheinbar unlösbares Problem eine allseits verblüffende einfache Lösung findet. Man muss nicht wissen, dass die auf Kolumbus gemünzte Anekdote vom auf die Spitze gestellten Ei ursprünglich von Giorgio Vasari, dem Verfasser der bis heute berühmten „Viten“, über den Architekten Filippo Brunelleschi erzählt wurde und dessen Lösung des Kuppelproblems für „Santa Maria del Fiore“ in Florenz. Von Vasari (30. Juli 1511 – 27. Juni 1574) liegen seit 2015 übrigens im Wagenbach-Verlag sämtliche „Viten“ komplett vor: 45 Bände, ediert im Verlauf von elf Jahren, ein Großprojekt, das alle Hochachtung verdient und nebenbei natürlich ein empfehlenswertes Quellenwerk zugänglich macht. Die „einfache“ Lösung des scheinbar unlösbaren Problems Abschaffung des Kapitalismus wegen dessen für die Menschheit verderblichen Eigenschaften hat bei Fürnberg ein Dichter und Kulturphilosoph mit Namen „Dr. Bernadotte“ gefunden, es ist eine rein bevölkerungspolitische, über den Völkerbund zu realisieren.
Heute muss man schon erklären, was der Völkerbund war und darf es aus Platzgründen tun, in dem man ihn als eine Art Vorläufer der heutigen UNO bezeichnet. Der Dichter und Kulturphilosoph Dr. Bernadotte gründet seinen Ruhm bei Fürnberg nahezu ausschließlich auf ein Werk mit dem Titel „Mondlicht über dem Ölberg“, der mehrfach genannt wird, nie aber ergänzt etwa um andere Titel oder Taten. Bernadotte ist der Name der seit 1818 in Schweden regierenden Königs-Dynastie, Fürnberg bringt den Namensträger allerdings nicht mit dem skandinavischen Land in Verbindung. Es gab allerdings einen Folke Bernadotte, Graf von Wisborg (2. Januar 1895 – 17. September 1948), der als UN-Beauftragter für Palästina von Angehörigen einer jüdischen Terroristen-Gruppe erschossen wurde. Fürnbergs Bernadotte soll ein „ältlicher Vierziger“ sein, zu Gast sind bei ihm eine Amerikanerin, Mrs. Gold, ein jugendlicher Inder, „der sich in Jerusalem aufhält, um sich in der deutschen Sprache zu vervollkommnen“ und ein Professor Elbogen. Auch hier nutzt Louis Fürnberg einen Namen, der im weiteren Umkreis seines Themas eine Rolle spielte: Professor Ismar Elbogen (1. September 1874 – 1. August 1943) war unter anderem Rektor der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums gewesen und emigrierte 1938 aus Nazi-Deutschland in die USA.
Im Briefwechsel zwischen Arnold Zweig und Louis Fürnberg (Aufbau-Verlag 1978) fällt der Name von Theodor Friedrich Meysels übrigens einmal: in einem Brief von Zweig vom 20. Dezember 1943. Und zwar nicht ansatzweise in negativer Zeichnung. Der Name Elbogen dagegen spielt keine Rolle, auch in den Judaica nicht, die Zweig unabhängig von Fürnberg veröffentlicht hat. Im Habitus erinnert der offenbar vor allem von Frauen und jugendlichen Enthusiasten umschwärmte Bernadotte an bestimmte Freundeskreise vor allem der „Fin-de-siecle“-Zeit. Eine Regieanweisung wie „Die Zimmertemperatur beträgt zweiunddreißig Grad“ las ich bei Fürnberg erstmals in meiner nun schon ziemlich langen Leselaufbahn, in der Bühnenwerke aller Art seit Jahren eine Hauptrolle spielen. Es beginnt damit, dass Bernadotte verächtlich über die Herren vom Völkerbund redet, weil die sein Memorandum ignorieren. Der Autor macht ihn wie auch den Professor von Beginn an mit jeder noch so kleinen Regiebemerkung lächerlich. Bernadotte spricht „mit von Stolz geblähter Bescheidenheit“. Der Professor spricht „im Halbschlaf“ oder „wieder in Schlaf zurücksinkend“. Es ist alles in allem ein Konversationsstück, in dem es ausschließlich darauf ankommt, was gesagt wird, und eventuell noch, von wem. Herkömmliche Konfliktstrukturen vermeidet der Einakter.
Dr. Bernadotte befindet sich im Voll- und Hochgefühl einer historischen Mission: „... schließlich hat ja noch jede große Episode in der Geschichte der Menschheit auf diese Weise begonnen. Eine Handvoll verantwortungsbewusster Leute garantiert das Gelingen eines so groß angelegten Planes tausendmal mehr als eine Masse, deren Verantwortungsbewusstsein weniger kontrollierbar ist“. Professor Elbogen trägt Züge, wie wir sie von Dr. Leo Naphta in Thomas Manns „Der Zauberberg“ in manchen Momenten und Reden kennen. Er sagt einmal: „Sie wissen, dass mein Volk zwar einigermaßen Praxis im Gesteinigtwerden hat, aber ob das gerade jetzt und ausgerechnet hier in Palästina unbedingt nötig ist?“ Mrs. Gold, die ihn abscheulich findet, meint: „Es ist das Schicksal der Apostel, gesteinigt zu werden.“ Sie ist eine Geldgeberin und will wenig später nur im Kreise verbleiben, wenn der Professor des Hauses verwiesen wird. Schon diese wenigen Andeutungen zeigen, dass Rudolf Hirsch und Ursula Behse mit ihrer oben genannten Aussage zu Fürnbergs Exil-Werk tatsächlich irren. Er hat sich eingemischt. Und zwar auf die spezielle Weise, dass er nicht etwa seine eigenen kommunistischen mit den dargestellten Ansichten und Überzeugungen konfrontierte, sondern auf eine sich selbst entlarvende Wirkung aller Beteiligten in „Das Ei des Kolumbus“ setzte.
Immer wieder fallen Namen der realen Geschichte: Richard Wagner und Einstein, Max Brod, Hitler natürlich, Thomas Mann, Dante, Homer, George, Friedrich Adler. Die Namen Thomas Mann, Dante, Homer und George sind allerdings Namen für Hunde, die der Journalist Meysels hielt und hält, wobei er die Bulldogge, weil es angeblich einfacher ist, nicht Thomas Mann, sondern Mannerl ruft. Als sich der Gastgeber erkundigt, ob es auch einen Hund namens Bernadotte gibt, hört er: „... den hab ich nimmer. Das war ein einseitig gelähmter Dackel.“ Was aber hat der Namensvetter des Dackels dem Völkerbund eigentlich vorgeschlagen? „Dass innerhalb der nächsten zweihundert Jahre nicht mehr Menschen in die Welt gesetzt werden dürfen, als gerade zur Aufrechterhaltung der Produktion lebenswichtiger Güter notwendig sind: mit anderen Worten, genau der Ersatz für jene, die infolge Alters, Krankheit, Unfall oder Tod ausfallen.“ Bernadotte nimmt sogar das Wort Klassenkampf in den Mund, entschuldigt sich aber sogleich für seine Nutzung und behauptet sofort: „Nichtsdestoweniger ist es unbestreitbar, dass die heutige Gesellschaft an keinem Übel so sehr krankt wie am Vorhandensein des Proletariats.“ Die Geburtenrat der Armen soll streng begrenzt, die der Reichen erhöht werden. Die Kinderzahl soll sich also nach dem Einkommen richten.
Professor Elbogen macht sich über alles lustig, indem er ausmalt, dass die Milliardäre danach nur noch mit Zeugen, dem Zeugen großer Kinderscharen beschäftigt sein würden und ihren jeweiligen Riesenunternehmen nicht mehr zur Verfügung stünden. Was bei ihrem Durchschnittsalter schwer fallen dürfte. Einzig die Tochter Marianne ist im Stück ein wenig Gegenspielerin des Vaters Bernadotte. Und sie sagt zu Faisal, dem jungen arabischen Intellektuellen, der sich um sie bemüht: „Ich würde Ihnen vorschlagen, meinen Vater zu heiraten. Er ist Witwer.“ Spricht ähnlich nicht der widerspenstigen Hermia Lysander in Shakespeares „Sommernachtstraum“ zu Demetrius? Faisal erklärt Mrs. Gold: „Das nationale Unglück der Araber besteht gerade darin, dass sie sich nicht von ihrem lächerlichen Konservativismus befreien können. In jeder Form. Im Denken, in der Kleidung, im Handeln, in der Religion, im politischen Leben. Sie sollten sich an den Juden ein Beispiel nehmen.“ Die Amerikanerin aber ist sich sicher, „dass alles Üble in der Welt von den Juden ausgeht.“ Und sie prophezeit: „Amerika wird bluten müssen, weil Herr Hitler die Juden nicht leiden mag und weil wir aus einem verfluchten Ressentiment den Schwächeren beistehen zu müssen glauben – selbst wenn sie Heiden wären.“ Journalist Meysels, der spät auftritt, sorgt für die Pointe.
Denn er hat die Information aus den Zeitungen, dass jemand ganz offensichtlich just den Plan den Resten des Völkerbundes unterbreitet hat, dessen Urheber zu sein Dr. Bernadotte so stolz ist. Nur genau umgekehrt. Kapitalistischen Ehegemeinschaften soll bei Androhung der Todesstrafe oder der Sterilisation „das Geschäft der Fortpflanzung, der Zeugung von Kindern oder Ähnlichem“ untersagt werden. Faisal offenbart sich als Urheber und Marianne bekommt einen Lachkrampf. Der Journalist „stürzt ab, seine Bulldogge kläffend hinter ihm her.“ Damit ist das Spiel zu Ende, von dem ich nicht weiß, ob es je aufgeführt wurde. Vermutlich nicht. Und weil diese Zeilen aus Anlass des sechzigsten Todestages von Louis Fürnberg entstanden, folgt der kleine Nachsatz: Man kann über diesen Louis Fürnberg tatsächlich schreiben, ohne sein „Lied von der Partei“ für den Mann zu nehmen, der es schrieb. Das ist nicht einmal beschönigend, auch keine späte Gerechtigkeit. Es sollte Normalität bedeuten, nicht zu reden von normaler Wissenschaftsmoral: Wer die Zusammenhänge nicht kennt, aus denen das Lied wuchs, wer sie nicht einmal kennenzulernen versucht, der sollte in Sachen Fürnberg schweigen. Das Lied wird dadurch nicht besser, klüger natürlich auch nicht. Nur eins ist sicher: Parteien, die immer recht haben, sind mit der DDR und dem Sozialismus nicht ausgestorben. Ob sie Wahabisten heißen oder Veganer (Ergänzungen beliebig), sie bedrohen ernsthaft die Welt.