Juri Kasakow: Draußen steht ein Bär

Was für eine es genau ist, verrät der Schriftsteller Juri Kasakow nicht, sein Erzähler weiß es offenbar auch nicht, und der, der ihm die Geschichte seiner Schnepfe erzählt, findet es vermutlich nicht wichtig. Auf alle Fälle hat sie einen langen Schnabel, genauer: sie hatte einen, und man kann sie essen. Der Fischer aber, von dem der Erzähler alles hört, der konnte sie nicht nur nicht essen, der päppelte sie auch auf, denn sie war gegen einen Leuchtturm geprallt und hatte sich dabei schwer verletzt. Die anderen waren tot, viele im Sturm auf diese Art dem Licht des Leuchtturmes gefolgt wie einem Irrlicht und dann zu Tode gekommen. Diese eine aber geriet an den Fischer, der keine Fische mehr essen wollte, sondern sich auf Fleisch freute, das es nicht so oft gab, wo er lebte und arbeitete im hohen Norden der Sowjetunion, am Weißen Meer. Und wie kommt man so miteinander ins Gespräch? Wenn man ein russischer Mann ist, dann über den Tabak, den man gern rauchen möchte und nicht hat. Kasakows Erzähler setzt sich eigens in ein fremdes Boot, um dem Fischer nahe zu kommen, von dem er sich ein wenig Tabak erbitten will. Es wird eine schöne Geschichte.

Tatsächlich ist es für sie vollkommen belanglos, ob aus der großen Gruppe der Schnepfenvögel (Scolopacidae), die zur Ordnung der Regenpfeiferartigen gehört (Charadriiformes), nun diese oder jene es ist, deren Vertreterin in dieser Geschichte mit dem Titel „Die Tropen auf dem Ofen“ treu wie ein Haustier wird und sogar hilfreich beim Fischfang. „Zuerst wollte der Fischer ihr den Kopf abreißen, doch als er mit seinen knorrigen Händen das Herzpochen fühlte, vergaß er sogar seine Geflügelsuppe.“ Die Schnepfe gibt ihr Zugvogelleben auf, sitzt in der Nähe ihres Retters auf einem Pfahl und entwickelt eine wunderbare Eigenschaft: „Stets bemerkte sie eher als der Fischer, wenn ein Lachs in der Falle steckte.“ Das ist für ein Kinderbuch passend einfach so erzählt, kein Kommentar zur Vorbildlichkeit des Fischers, dem ein Vogelherz näher steht als sein Magen (zumal er ja noch mehr Schnepfen vom Leuchtturmwärter bekam, die wirklich tot waren), der kindliche Leser muss sich nicht belehrt fühlen. Und das ändert sich auch bei den anderen Geschichten dieses Büchleins nicht, das 1976 in zweiter Auflage in der Reihe „Die kleinen Trompeterbücher“ erschien als Band 112. Und der achtjährige Junge der Titelgeschichte „Draußen steht ein Bär“ ist mutig.

Er ist mutig, aber nicht heldenhaft und er hat für sein Alter eine erstaunliche Lebenskenntnis. Vorerst aber erzählt wieder ein Mann von sich, von dem wir annehmen dürfen, es sei der Autor, aber wir müssen es nicht annehmen. Wieder gibt es Fischer, wieder einen Leuchtturm, und als infolge eines anhaltenden Sturmes die Lebensmittel knapp werden, entschließt sich der Erzähler, vom einsamen Quartier der Fischer zum Leuchtturm zu laufen, weil dort, wie sie wissen, frisches Brot selbst gebacken wird. Das klappt auch alles, der Erzähler lädt sich einige Brote auf und nimmt auf dem Rückweg den Jungen mit, der ihm sogar eine sinnvolle Abkürzung zeigen kann. Sie schaffen den ganzen Weg nicht auf einmal, rasten unterwegs in einer leer stehenden Hütte, um am folgenden Morgen weiter zu gehen. Sie „hörten die Hasenhühner pfeifen, und das war so schön, dass ich gar nicht schießen mochte.“ Ein Gewehr ist dabei, Schrot für die Vogeljagd auch, denn Geflügel, das kennen wir aus der ersten Geschichte, ist eine sehr willkommene Abwechslung, wenn es sonst immer nur Fisch gibt, Fisch und nichts als Fisch. Selbst der Blick sucht in solcher Lage sehr gern Abwechslung: „Aber ich blickte nur zum Wald hin, der Anblick des Meeres war gar zu langweilig!“

Dann aber passiert, was der Geschichte und dem Büchlein den Titel gibt: draußen steht ein Bär. Das ist, wir ahnen es, nicht zu vergleichen damit, wenn ein Pferd auf dem Flur steht. „Ein Bär! Wir wichen vom Fenster zurück, als hätten wir uns verbrannt, saßen in der Dunkelheit und wussten nicht, was tun.“ Mit Schrot sollte man tunlichst nicht auf einen Bären schießen, also kommen beide auf die sehr gute Idee, dem Tier ein Brot zu überlassen. Das nimmt der auch, ist aber offenbar noch nicht zufrieden. Also werfen sie ihm ein zweites zu, was er geschickt auffängt und sind aus der Gefahr gerettet. Ein Tier gibt es auch in der dritten Geschichte, nicht annähernd so groß wie der Bär aber auf seine Weise auch gefährlich: es ist ein großer schwarzer und aggressiver Kater, der wohl sein Revier verteidigt gegen den Eindringling, als den er den neuen Untermieter seiner Herrin offenbar ansieht. Dieser die Geschichte erzählende Mann schafft es jedoch auf sehr handgreifliche Weise, dem Kater seine Flausen auszutreiben. Als der durchs Strohdach an ein Schwalbennest zu gelangen sucht, packt ihn der Erzähler kurzerhand an einem Bein und hält ihn so lange fest, bis der Kater völlig ermattet ist und wohl auch ziemliche Schmerzen erleidet. Er flüchtet und bleibt weg.

Der letzte Satz der Geschichte lautet etwas zweideutig: „Was eine gute Erziehung doch ausmacht.“ Vielleicht ist es angebracht, an dieser Stelle einen Klappentext zu zitieren, den die Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart einer Auswahl mit elf Erzählungen von Juri Kasakow mit auf den Weg gab, es war vermutlich 1961, in der DDR gab es zu diesem Zeitpunkt noch kein Buch des sowjetischen Autors. „Es ist ein Wohltat, diese Erzählungen zu lesen. Dass sie heute in Russland geschrieben und sogar veröffentlicht werden konnten, zeigt, wie nahe uns der russische Mensch geblieben ist – trotz der Trennung durch das politische System.“ Das ist natürlich Verlagswerbung und dennoch alles andere als selbstverständlich. Denn eines war dieser am 8. August 1927 geborene Juri Kasakow nicht und wurde es auch nie: ein so genannter Dissident oder Systemkritiker, auf den sich normalerweise westliche Aufmerksamkeit für den Osten im Allgemeinen, die Sowjetunion im Besonderen, zu beschränken pflegte. Nach westdeutschen Sprachregeln gehörte Kasakow zu der Flakhelfer-Generation, deren männliche Angehörige, soweit sie noch leben, 90 Jahre und älter sind. Sowjetischer Bombenangriffe hatten sich diese Flakhelfer selten zu erwehren, daran sei erinnert.

Es ist in der Tat eine Wohltat, diese Erzählungen zu lesen, diese und die anderen auch. Und es ist keine Wohltat, aber beruhigende Erkenntnis, dass es Literatur gibt, die mitten in einem kalten Krieg auf beiden Seiten Anklang finden konnte, geschätzt wird. In der DDR war Christa Wolf mit einer kleinen Arbeit, die mehrfach gedruckt wurde, die prominenteste Befürworterin Kasakows, der ja nur zwei Jahre älter war als sie. Dass das Echo ihrer Fürsprache vielleicht doch nicht ganz so heftig war, hatte damit zu tun, dass sie ihre Sicht auf den Russen zu einer Zeit zu Papier brachte, als sie selbst sich mit ihrem mutigen Auftritt während des berühmt-berüchtigten 11. Plenums des ZK der SED Ende 1965 gerade maximal unbeliebt gemacht hatte. Wie auch immer: Juri Kasakows Erzählungen, die für Erwachsene wie die für Kinder sind auf besondere Weise gefährdet: „Einen Interpreten braucht Kasakow nicht. Seine Geschichten „versteht“ jeder … Sie konnten erst in dieser Zeit entstehen – in dieser Zeit, da die sowjetische Literatur, da besonders die jüngeren Schriftsteller, zu denen Kasakow gehört, begannen, wie von neuem unvoreingenommen um sich zu blicken.“ Wer auf sich hält aber, das wissen wir zur Genüge, fühlt sich Erzählungen überlegen, die jeder versteht.

Wer gern gute Geschichten liest, gute Kindergeschichten kann man lesen wie gute Erwachsenen-Geschichten, was umgekehrt eben nicht funktioniert, der sollte nicht mit spitzen Fingern nach einem Kasakow greifen, wenn der ihm in die Hände fällt. Auch wenn er einmal etwas heftiger schlucken muss wie bei „Am Fichtenbach“, wo es um Robbenfang geht, der heute schon so kaum noch jemandem zu vermitteln ist, aber noch viel weniger, wenn in einer solchen Geschichte gegen das ausdrückliche Jagdverbot eine Robbenmutter getötet wird und das Junge allein zurück bleibt. Als Juri Kasakow seine Geschichte schrieb, galt das strenge Jagdverbot, aber es gab auch, natürlich, möchte man fast sagen, das, was man beschönigend den Eifer des Gefechts nennt, beschönigend und verräterisch zugleich, denn ein Gefecht ist es ja nicht, sondern ein Gemetzel, das mit den Robben aus Schussdistanz veranstaltet wird. Man kann es mutig nennen, wie der Autor eben nicht Empörung ausstellt oder Verurteilung, das wäre billig und heutig. Er führt das vor, was schon geschah, als der Fischer das Schnepfenherz pochen fühlte. „Das Robbenkälbchen blieb allein auf dem Eis zurück, es weinte und kroch hinter seiner Mutter her.“ So ein Satz reicht schon hin, oder?

„Das Robbenkälbchen lag vor ihnen im Schnee, bewegte sich, sah sie an wie ein Mensch, wie ein Kind. … Und in diesen Augen war solcher Kummer, solches Leid, und solch große Tränen rollten über das Gesichtchen, dass es nicht mit anzusehen war.“ Hier droht der Kitsch, aber es kommt keiner. Kasakow erzählt von der Lösung, das Robben-Baby im Schulzoo der Kinder aufzupäppeln und später ins Meer zu entlassen. Es gibt keine kleine Anfrage im Weißmeer-Parlament, wie die Regierung künftig zu verhindern gedenke, dass Robbenmütter erschossen werden, keine Opposition spricht in die Kamera, sie habe das schon immer gesagt und gefordert. „Die Tierfänger steckten sich Zigaretten an, stießen Qualmwolken aus und sprachen darüber, dass, wenn sie abermals versehentlich ein Robbenmutter töteten, sie das Kälbchen wieder in die Schule geben würden, um es dann im Frühjahr unter Teilnahme des ganzen Dorfes freizulassen.“ Man muss das nicht als die schlechtere Lösung ansehen. Und schon sind wir bei „Die rettende Kuh“ angelangt, der letzten der kleinen Geschichten. Die Kuh rettet, weil sie den Heimweg kennt, einen Verirrten aus dem Wald, er muss ihr nur folgen, nachdem er das Glöckchen hörte und sie mit dieser Hörhilfe ausfindig machte.

Der Erzähler ist Jäger, sammelt Pilze im Wald und schießt ein Auerhuhn. „… und konnte sie so gut verstehen, dass ich am liebsten mitgemuht hätte, wenn es mir nicht peinlich gewesen wäre.“ Ich gestehe, dass mir die Vorstellung, wie ein Jäger und Sammler im Wald mitmuht, eine sehr wohltuende war. Ich lese einfach gern Sätze wie: „Die kleine Robbe wurde dicht am Wasser auf den Strand gesetzt. Sie begriff nichts, hatte alles vergessen.“ Man kann das Poesie nennen und nebenher davon lernen, dass es keiner komplizierten Definitionen bedarf, was Poesie sei. Man erkennt sie, wenn man ihr begegnet und wenn man sie nicht erkennt, dann war es keine. Ich zitiere noch einmal Christa Wolf: „Kasakows Prosastücke bewegen sich auf jener Grenze, die zwischen der herkömmlichen Prosa als dem Bericht von etwas Geschehenem und der Poesie, dem Instrument für feine, kaum noch registrierbare Vorgänge, aufgerichtet zu sein scheint. Kasakow respektiert diese Grenze nicht.“ Wir könnten mit Christa Wolf rechten, ob sie herkömmliche Prosa, was ist in diesem Sinn denn herkömmlich, und Poesie richtig scheidet. Gerade Geschichten wie die von Juri Kasakow machen auch deutlich, wie überflüssig Debatten sein können und nur allzu oft leider auch sind.


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