Iwan Goll: Methusalem oder Der ewige Bürger
Wer einst die Ehre hatte, Aufnahme zu finden in die „Menschheitsdämmerung“, jenes „Dokument des Expressionismus“, wie Herausgeber Kurth Pinthus seine Anthologie nannte, der durfte eine knappe autobiographische Notiz zu Papier bringen, die ihn der Leserschaft auch als Person näher bringen sollte. Iwan Goll schrieb: „hat keine Heimat: durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet. Iwan Goll hat kein Alter: seine Kindheit wurde von entbluteten Greisen aufgesogen. Den Jüngling meuchelte der Kriegsgott. Aber um ein Mensch zu werden, wie vieler Leben bedarf es. Einsam und gut nach der Weise der schweigenden Bäume und des stummen Gesteins: da wäre er dem Irdischen am fernsten und der Kunst am nächsten.“ So wird es, mehr oder minder vollständig, immer und überall zitiert, wo es um Goll geht, und so soll es auch hier zitiert sein: Heute vor 70 Jahren, am 27. Februar 1950, starb Iwan Goll in Paris im Alter von noch nicht 59 Jahren. Im Übrigen erwies sich die eingangs genannte Ehre erst im Nachhinein als solche, mancher Name in der Anthologie wäre noch mehr vergessen, als er es ohnehin schon ist heute, wenn er nicht in die „Menschheitsdämmerung“ gefunden hätte.
Deutlich seltener wird Claire Goll zitiert, Golls Frau, die in „Ich verzeihe keinem“, ihrem herrlich galligen und bisweilen bösartigen Erinnerungsbuch, dies festhielt: „Das war Yvan Goll. Er fing sofort an, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen. Er war als Kind französischer Eltern in Saint-Dié-des Vosges geboren, und da seine Mutter nach Metz gezogen war, wurde aus ihrem Sohn unter der deutschen Herrschaft automatisch ein Deutscher. Da Yvan sehr groß war und gut aussah, kam er später in die kaiserliche Garde. Aber er wollte nicht gegen die Franzosen kämpfen. Französisch war seine Muttersprache, Frankreich seine wahre Heimat. Bei ihm in Lothringen sprach niemand eine Silbe Deutsch; auch Goll hatte die Sprache erst in der Schule gelernt. Um diesem Dilemma zu entrinnen, war er in die Schweiz gegangen.“ Es steht noch weit mehr über ihn in Claire Golls Buch und es wäre über sie selbst mehr zu sagen, als dass sie seine Frau war. Denn sie hat ein eigenes Werk hinterlassen, das bis jetzt Aufmerksamkeit verdient, aber weniger bekommt, als angemessen wäre. Wir müssen uns Yvan Goll nicht als Dramatiker vorstellen. Er war keiner. Was nicht bedeutet, dass er nichts für die Bühne geschrieben hat. Er hat. Zum Beispiel „Methusalem oder Der ewige Bürger“. Ein sehr merkwürdiges Stück mit sehr merkwürdigen Dialogen und Bühneneffekten.
Nach seinem Tod wurde das aus zehn Szenen mit und ohne eigene Überschriften bestehende Stück gern als Vorläufer gesehen: Vorläufer des absurden Theaters. Man hätte das absurde Theater auch als Nachläufer des Surrealismus sehen können, aber die fünfziger Jahre waren ein Jahrzehnt des gebannten Blicks: man starrte, wohin man starrte und wenig war daneben. Eine realistische Geschichte der Literatur wie auch anderer Dinge hätte noch immer vor allem zu rehabilitieren, was außerhalb des einstigen Blickwinkels lag und damit wie nicht vorhanden gesehen wurde. Heute aber zählt vor allem: „Methusalem oder Der ewige Bürger“ liest sich und würde sich auch aufführen lassen, ohne dass eine umfangreiche Gebrauchsanweisung auf die Beipackzettel geschrieben werden müsste. Freilich scheint eine späte Rache für die Hyper-Dominanz des absurden Theaters in einigen Jahren vor unserer Zeit darin zu bestehen, dass ausgleichende Hyper-Ignoranz kultiviert wird. Die Theater verwursten bis zum Selbstmord Romane, Filme und sonstiges Zeugs, lancieren Projekte, die schon fast wieder vergessen sind, wenn sie das zweite Mal aufgeführt wurden. Dabei ist die Theaterliteratur selbst des 20. Jahrhunderts voller spielbarer, moderner und guter Stücke.
Nun gut, dies Lied sang ich schon, es verhallt wie einst die Ambitionen des Expressionismus, denen Goll mit seinem „Methusalem oder Der ewige Bürger“ nicht zuletzt auch einen ziemlich bitteren Abgesang geschrieben hat. Wer wie ich eben noch „Die Gewaltlosen“ von Ludwig Rubiner las mit Blick auf den heutigen 100. Todestag Rubiners, empfindet den maßlosen Fehlgriff, der sich dort manifestiert, noch krasser. Goll liefert in manchen Passagen geradezu eine Persiflage auf den in seinem Drama (und wohl auch sonst) vollkommen humorlosen Rubiner. Goll provoziert mit seiner Groteske ein Lachen, das sowohl befreiend als auch beklemmend sein kann. Wobei, um es gleich zu sagen, Spießer-Satire ein ärmliches Anliegen wäre, träfe es, wie gern hinein gedeutet, tatsächlich die Ambitionen Golls. Es sind ja immer Spießer, die sich am Anti-Spießertum der üblichen Salon-Bürgerschrecks weiden. Die Moral dieser Geschichten ist uralt: Wer sich hinreichend intensiv über Spießertum erregt, hat kein Erregungspotential für wichtigere Dinge mehr übrig. Iwan Goll, der bisweilen auch preziöser Yvan Goll geschrieben wird, hat aus Methusalem einen Schuhfabrikanten gemacht, einen mit einer Frau Amalie, die Gulasch kocht, einer Tochter Ida und einem Sohn Felix.
Man delektiert sich am Tisch an „Mördchen“ aus der Zeitung, an Todesnachrichten. Der Sohn Felix ist der Wunsch-Wunderknabe von Papa, der dem Geschäft weiter helfen wird als moderner Typus des Managers, die Tochter Ida spricht Lyrik, wenn sie redet und ist in einen Studenten verliebt, der natürlich keine Partie ist, aber revolutionär daher kommt. Sein Revolutionssprech kommt ganz unmittelbar aus dem expressionistischen Pathos- und Phrasenlabor. Es karikiert sich bereits selbst. Draußen ist plötzlich auch ein Streik und später noch einmal und es macht Spaß, den Fabrikanten Methusalem darüber zu hören: „Welch ein Elend, Fabrikbesitzer zu sein. Wenn einer mich ermordet, findet man die Liebesbriefe Annas in meinem Safe. O wir Unglücklichen! … Warum nicht lieber die Grippe. Oder lieber die gelbe Gefahr. Meinetwegen Krieg mit Honduras. Aber ausgerechnet Streik in meiner Schuhfabrik.“ Der Student steigt vor Methusalems Fenster auf einen Bus und agitiert von dort die Menge: „Eure Mütter haben keine Kohle im Ofen. / Aber dieser Methusalem trägt seidene Krawatten. / Und seine Socken wechselt er täglich.“ Dergleichen ist Goll später, als der real existierende Sozialismus um sich griff, der sich bekanntlich als Ergebnis von Revolution missverstand, übel genommen worden: Man macht sich nicht über Revolutionen lustig.
Oh doch, und gerade, wenn bei diesen Revolutionen nicht ansatzweise herauskam, was vorher auf ihre Fahnen gestickt worden war. Wobei man zeitweise glaubte, das träfe nur auf bürgerliche Revolutionen zu, ein blutiger und gar nicht netter Irrtum, wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigte. Der Student auf dem Omnibus will am Ende, so liest man es bei den Deutern, nichts weiter, als in die reiche Schuhfabrikanten-Familie einheiraten. Was natürlich mit dem Verrat seiner Ideale verbunden wäre und das geht seit Schiller gar nicht: Man verrät keine Ideale, man stirbt lieber und singt dabei sterbend FRAIHAITT!! In der zweiten Szene stellt Goll „Die Revolution der Tiere“ auf die Bühne, dabei ein uraltes Mittel verwendend, die Tiersatire, was ihm tatsächlich unterschwellig angekreidet wurde, als sei das Verwenden uralter Mittel an sich und in sich schon ehrenrührig. Die Szenerie wird durch wechselnde Beleuchtung verändert. Es kommen künstliche und ausgestopfte Tiere im Raum zu Wort und sagen lauter verrückte Sätze. Der Kuckuck etwa: „Ich bin verwandt mit dem Reichadler.“ Der Affe sagt: „Hat je ein Tier erröten müssen? / Hat je ein Vogel falsch gesungen? / Hat je ein Reh die Gonorrhoe gehabt?// Hat je ein Tiger Nietzsche gebraucht, um dionysisch zu werden? / Der Mensch ist die Schmach dieser Erde.“ So geht es her, so geht es hin.
Einmal den Nietzsche erwähnt, muss ein Merkmal der Groteske Golls bezeichnet werden: Er zieht Namen heran, die alle für sich sprechen: Auf Nietzsche folgt Häckel, auf Häckel die Marlitt. Wenig später folgen Lenau und Berlioz, Goya und Shakespeare, Spinoza und Einstein kommen vor, Lenin, Luxemburg und Liebknecht, Zola und Schopenhauer. Immer stehen die Namen in einem geradezu irrwitzigen Kontext. So trägt Liebknecht nach Aussage des alten Methusalem immer Toreador-Schuhe und weil Methusalem Liebknecht immer über die Straße gehen sah, will er eine neue Schuhmarke „Liebknecht“ lancieren, später neue Gummiabsätze „Einstein“. Eine Tochter Irma lernt Spinoza auswendig, die Marlitt schreibe besser als Häckel, ist zu lesen, was vielleicht sogar stimmt. Methusalem hat Träume gleich in der ersten Szene und dieser Träume werden auf der Bühne filmisch visualisiert. Das gilt noch heute als durchaus zeitgemäß und ist Goll dennoch auf kuriose Weise angekreidet worden. Martin Esslin schrieb: „…er, der ein großer und sensitiver Lyriker war, ließ sich durch die neuen Techniken verführen. Weil er seine Einbildungskraft den Erfordernissen von Maske und Film unterordnete, gelang es ihm nicht, seinen Stoff in die neuen Dichtungsformen des Absurden zu übertragen, die er so deutlich vorhergesehen und in seinen theoretischen Äußerungen so überzeugend dargestellt hatte.“ Andere sahen das gerade nicht als Verführung.
„In dem satirische Drama „Methusalem oder Der ewige Bürger“ (1922) gelingt es ihm unter Anwendung expressionistischer Bühnentechnik wie beispielsweise der dramaturgisch eingesetzten Farbe, die in der Form der farbigen Lichtveränderung den Szenenwechsel vertritt, und mit Hilfe der Karikatur, über den an der Zeit und an sich selber gestorbenen Expressionismus Gericht zu halten.“ So sah es Annalisa Viviani in ihrem schmalen Buch „Das Drama des Expressionismus“ und sie sah es zutreffend. Bis heute sind Szenenwechsel durch Lichtwechsel ein durchaus probates Mittel auf Bühnen und niemand käme auf die Idee, das gar altmodisch zu finden. Doch noch einmal zurück zu den revolutionären Tieren in Szene II. Der Bär meint: „Revolution hat mit Idealismus gar nichts zu tun. Der Mensch muss aussterben. … Juden werden nicht zugelassen.“ Die Katze: „Bringt uns das Reich der Schönheit, der Güte und der Kalbsmilz! Die Auferstehung der Gazelle!“ Der Affe: „Das Recht, an allen Bäumen, Sträuchern, Laternen und Mauern zu schnuppern, ohne Berücksichtigung der Kunstmoral.“ Schließlich final der Hirsch: „Gemeinheit macht stark. Selbst ist das Tier.“ Tut mir fast leid, es sagen zu müssen: Das ist, bitteschön, einfach nur phantastisch. Gelungen und gut.
Kaum mehr als drei Zeilen aus dem Munde des Studenten sprächen Bände über alles Geschwätz im O-Mensch-Pathos: „Armes Proletariat, Promethidengeschlecht, / In Ketten geworfene Menschheit, / Ich will dich befreien mit meinem radialen Geist, / Dich aufwärtsführen zu Hügeln und Wolkenkratzern des Glücks / Dass alle die gleiche Treppe zur Sonne benützen, / Und keiner dem anderen eine Mandeltorte voraushabe.“ Revolution gegen die Hierarchie der Mandeltorten, das hat etwas. Zum Stück gehört auch ein Familienabend mit Besuch der Paare Darmkata, Bäuchlein und Himmelreich. Später bekommt der Sohn von Tochter Ida, gezeugt vom Studenten, den Namen Fürchtegott. Sprechende Namen sind nicht immer die optimale Idee, es sei, sie karikieren sich wie hier wiederum gleich selbst. „Haben Sie denn auch vom letzten Mördchen gehört? Ein Sohn, der seiner Großmutter eine echtsilberne Gabel ins Herz gestoßen hat, um sie zu töten? Das ist phantastischer als Shakespeare.“ Fragt Frau Bäuchlein. Und Frau Himmelreich beklagt das bittere Schicksal: „Es gibt keine Leber mehr in den Gänsen.“ Methusalem träumt vom nächsten Krieg: „Wir kaufen alle Ochsen von Europa auf: die Felle für unsere Schuhfabriken, die Kaldaunen für Militärwürste, und das Fleisch wird nebenbei als Abfall verkauft.“ Für ihn herrliche Aussichten.
Von geradezu theaterpraktisch-überzeitlicher Bedeutung scheinen mir Sätze wie diese, dem Studenten in den Mund gelegt von Iwan Goll: „Des Menschen Dummheit ist so groß, / Dass, wer sie nur erkennt, schon als Genie gilt. … Nur die Wahrheit beleidigt.“ Ein Satz selbst für Schauspieldirektoren, die das Beleidigende noch eben gerade so erkennen, nicht aber die Wahrheit darin. Weil bei Georg Hensel von einem weißen Hemd die Rede ist, welches entschwebt, zitiere ich Golls Regietext zur fraglichen Szene: „Felix erschießt den Studenten: Der haucht sichtbar seine Seele aus, die in Gestalt seines Wintermantels ihn verlässt und in die Höhe entschwebt. Darauf steht der Student nochmals auf.“ Es kann nur daran liegen, dass Hensel gar nicht ins Textbuch schaute, als er den Mantel zum Hemd machte, sondern an die von ihm selbst erwähnte 1961er Aufführung in Frankfurt am Main dachte. Solche Fälle kommen vor. Ida träumt auf der Parkbank neben ihrem Studenten: „Unser Fürchtegott muss Versicherungsagent werden. Er wird einen Scheitel in der Mitte und eine schottische Krawatte tragen. Dann kommt er gut durch die Welt.“ Noch heute markieren Mittelscheitel auf Bühnen den Sekretarius, den Bürokraten, kostümlich ergänzt von Ärmelschonern.
Weil es Menschen gab, die Iwan Golls Vorworte zu seinen Stücken stärker fanden als die Stücke selbst, will ich aus dem hier zugehörigen zitieren: „Der moderne Satiriker muss also nach neuen Reizmitteln suchen. Er fand sie im Überrealismus und in der Alogik. Überrealismus ist die stärkste Negierung des Realismus. Die Wirklichkeit des Scheins wird entlarvt, zugunsten der Wahrheit des Seins. … Nicht mehr „Helden“, sondern Menschen, nicht Charaktere mehr, sondern die nackten Instinkte. Ganz nackt. … Der Dramatiker ist ein Forscher, ein Politiker und ein Gesetzgeber; … Alogik ist heute der geistigste Humor, also die beste Waffe gegen die Phrasen, die das ganze Leben beherrschen. Der Mensch redet in seinem Alltag fast immer nur, um die Zunge, nicht um den Geist in Bewegung zu setzen. … Der Alltagsmensch ist dazu dermaßen empfindlich, dass er sich für irgendein riechendes Wort beleidigt fühlt und den Tod zur Rache in die Waagschale wirft. Die dramatische Alogik soll all unsere Alltagssätze lächerlich machen“. Man könnte verschiedene andere theoretische Äußerungen Golls heranziehen. Man kann es auch bleiben lassen. Dafür noch einmal Georg Hensel, der natürlich mehr kann als Hemden mit Mänteln verwechseln: „Die Satire ist pessimistisch: Der Bürger ist nicht totzukriegen, er infiziert noch den Revolutionär, … Von dieser Alogik bis zu Ionescos „Kahler Sängerin“ sind es noch 30 Jahre und ein kleiner Schritt.“
Zwischen Ida und ihrem Studenten entspannt sich am Ende dieser Dialog: „Wann ist die Revolution zu Ende? - Wenn die andern keine Villa mehr haben. - Und wenn wir eine haben? - Beginnt die neue.“ Man könnte das als Persiflage der Theorie der permanenten Revolution sehen, man kann es aber auch bleiben lassen. Ob das Urbild des Methusalem der „deutsche Großkapitalist“ Hugo Stinnes war, wie Nachwortautor Klaus Schuhmann glaubt, ist letztlich ohne Bedeutung, zumal Stinnes heute genauso gegoogelt werden müsste wie jedes andere beliebige Vorbild, auf das Goll womöglich zurückgriff. Hans Kaufmann, bezüglich Ludwig Rubiner deutlich treffsicherer, sieht „Methusalem oder Der ewige Bürger“ so: „Der ewige Spießbürger (Methusalem) triumphiert, indem er die Revolution für sich ausbeutet und unter dem Druck der Massen „Hoch Liebknecht!“ ruft. Die Revolution selbst wird ihm dadurch zum Ulk; die Welt ist absurd, ein Bestiarium. In der Verbitterung und Enttäuschung, die nach der Revolution um sich greifen, mischt sich also die Indignation über die Restaurierung der alten Verhältnisse mit der tiefer liegenden Ratlosigkeit über die Gesetzmäßigkeit des Ganges der Geschichte überhaupt.“ Dagegen hilft nur: Selber lesen. Dann merkt man auch, dass Methusalem an keiner einzigen Stelle „Hoch Liebknecht!“ ruft, an keiner.