Arthur Eloesser: Die Straße meiner Jugend

Mit einer Fehlanzeige muss ich beginnen. Der Ur-Berliner Arthur Eloesser, geboren am 20. März 1870 in der Prenzlauer Straße 26, gestorben im Jüdischen Krankenhaus Berlin in der Iranischen Straße (bis 1935 Exerzierstraße) am 14. Februar 1938, kommt in Michael Bienerts „Literarisches Berlin“ nicht vor. Dabei wäre er ein geradezu idealer Fall, ein Leben in und mit den Straßen vorzuführen, in denen es sich abspielte, makaber gewürzt durch den Umstand, dass alle drei Adressen, die diese jüdische Biographie prägten, nicht mehr vorhanden sind, auch wenn die Straßen teilweise noch immer Berliner Straßen sind. Für die Prenzlauer Straße 26 gilt: Gebäude und Straße nicht mehr vorhanden. Für die Dahlmannstraße, wo Eloesser vom 1908 bis 1933 die Hausnummer 29 hatte, gilt: Gebäude nicht erhalten. 1933 musste Eloesser mit seiner Frau Margarethe unfreiwillig zum Lietzenseeufer 1 umziehen. Und wieder gilt: Gebäude nicht erhalten. Am 28. Juli 1933, ein Auktionskatalog Nr. 181 weist es aus, wurde Arthur Eloessers Bibliothek versteigert. Margarethe Eloesser wird am 25. Januar 1942 nach Riga deportiert und dort ermordet, nur fünf Tage nach der Wannseekonferenz, die die so genannte „Endlösung“ der Judenfrage erörterte und beschloss.
 
Meine Befangenheit will ich gar nicht erst leugnen: Manche Stunde habe ich in der Dahlmannstraße verbracht, bin den kurzen Weg zur „Schaubühne“ gelaufen. Oder den Weg an Kindergarten und Blumenhändler vorbei zum Stuttgarter Platz, wo wir ein Stammhotel hatten, wo wir beim Spanier saßen bei Tapas und Rotwein, der längst ein Inder ist, wo ich Samuel Finzi Eis essen sah und ein Spielplatz ist, wie geschaffen für Oma, Opa und Enkel. Manche Runde drehten wir um den Lietzensee, mit Wagen, ohne Wagen, mit Träumen von Traumwohnungen, die nicht zu bezahlen sind, mit Blick auf brütende und nicht brütende Schwäne. Und die Prenzlauer Straße? Sie verband einst den Alexanderplatz mit dem Prenzlauer Tor und ist, soweit sie nicht einfach überbaut wurde, in die Karl-Liebknecht-Straße eingegangen. Vier meiner fünf Studentenjahre habe ich nicht weit davon im Scheunenviertel verbracht: Mulackstraße 25, die es noch gibt, aber nicht mehr sie selbst ist wie alles in der Gegend. Wenn ich in Arthur Eloessers „Die Straße meiner Jugend“ lese, habe ich, vor allem aus dem Blickwinkel Dahlmannstraße, das Gefühl, als liefe ich neben ihm, als sähe ich, was er sah. Halte auf der Verkehrsinsel, sehe Bäume, deren Anpflanzung er beobachtete.
 
„Die Straße meiner Jugend“ ist ein Buch, das zuerst 1919 gedruckt wurde, Verlag Egon Fleischel Berlin. Während ich dies schreibe, sind drei Exemplare der Erstauflage im antiquarischen Angebot zum Preis von 45 bis 50 Euro zuzüglich Versandkosten. Die Ausgabe, über die ich schreiben will, ist 1987 im Berliner Verlag Das Arsenal erschienen, ein späterer Eloesser-Editor meinte, freundlich wie heftig übertreibend, das habe „eine erste kleine Eloesser-Renaissance ins Leben gerufen“. Was purer Unfug war und ist. Bis heute hat es weder eine winzig kleine noch eine auch nur etwas größere Renaissance gegeben, Neudrucke oder Reprints sprechen keineswegs dagegen. Es bliebe auch fraglich, warum etwa die Mini-Schrift „Palästina-Reise 1934“ neu gedruckt wurde, bis heute aber kein Sammelband mit Theater- und/oder Literaturkritiken zu haben ist, nicht zu reden von „Literarische Porträts aus dem modernen Frankreich“, noch weniger zu reden von den beiden Bänden „Die deutsche Literatur vom Barock bis zur Gegenwart“, zu der der geneigte DDR-Leser anno 1985 immerhin eine sehr freundliche Besprechung von Rudolf Arnheim nachlesen konnte, zuerst 1931 in der berühmten „Weltbühne“ erschienen, für die auch Arthur Eloesser schrieb.
 
Ein halbwegs rundliches Bild vom Theaterkritiker Eloesser kann sich machen, wer die je zwei Bände von Hugo Fetting, „Von der Freien Bühne zum Politischen Theater“ (Reclam Leipzig 1987, RUB 1140) und von Günther Rühle, „Theater für die Republik“ (Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin 1988) besitzt. Knapp zwanzig gekürzte und ungekürzte Kritiken finden sich da, drei zu Wedekind, drei zu Strindberg, sonst je eine zu Shakespeare, Ibsen. Schnitzler, Gorki, Kaiser, aber auch zu Reinhard Goering, Alfons Paquet, Arnolt Bronnen, Walter Hasenclever, die zu den heute eher Vergessenen gehören. Eloesser hat unter Otto Brahm und Victor Barnowsky auch selbst am Theater gearbeitet, Arthur Schnitzler, Ernst Hardt und Franz Grillparzer inszeniert, ehe er wieder unter die Kritiker ging. Er galt, so ist zu lesen, neben Alfred Kerr als wichtigster Berliner Kritiker. Und konnte, was Kritiker unbedingt können sollten: schreiben. Historiker müssen es nicht können, auch die Historiker von Theater und Literatur nicht. Sie haben dann halt nur das kleine Problem, dass niemand sie liest außer denen, die auch nicht schreiben können. Und so bin ich an dem Punkt angelangt, da mein Ärger über die 87er Ausgabe von „Die Straße meiner Jugend“ kurz herausdarf.
 
Der Ärger betrifft nicht Eloesser, das ist gar nicht möglich, der Ärger betrifft den Herausgeber Peter Moses-Krause, im Februar bei hoffentlich guter Gesundheit 77 Jahre alt geworden. Er hat den Band von 1919 um einen Text erleichtert, bestohlen, zensiert, gekürzt, verstümmelt, man darf sich gern aussuchen, welche Charakteristik passender wäre. Er hat sich, das kommt als erschwerender Umstand hinzu, auch noch bemüßigt gefühlt, seine Untat als gute Tat zu verkaufen. Statt sein Nachwort, zum Glück steht es hinten, wer weiß, ob ich vor Wut und Ärger weiter gelesen hätte, wenn es ein Vorwort gewesen wäre, mit mehr Recherche-Ergebnissen zu befrachten, erörtert er seine Streichung und hat noch einen wahrhaft zynischen Rat für die Leser, die das Fehlende ganz schlicht vermissen: sie sollten doch zur Bibliothek der Jüdischen Gemeinde in West-Berlin oder zur Bibliothek des Instituts für Publizistik der Freien Universität Berlin gehen und Urtext nachlesen. Kronzeuge der Selbstverteidigung von Moses-Krause ist ausgerechnet Kurt Tucholsky mit einer Passage einer Kritik, die am 15. Januar 1920 in der „Weltbühne“ zu lesen war. Tucholsky lobte auf seine spezielle Weise, um dann einen Schlag zu landen, der alles Lob scheinheilig wirken lässt.
 
„Das alte Berlin … ist von Eloesser mit jenem heitern, freundlichen, liebevollen Spott gesehen, wie es sonst – außer dem alten Fontane, gelobt sei sein Name – nur noch Victor Auburtin gesehen hat: so mit einer zwinkernden Ironie, die ablehnt und doch nicht lassen kann zu lieben.“ Da ist der so Gelobte schon nur einer von dreien, von denen jeder für sich sicher seine Lesergemeinde hat: aber schon Auburtin und Fontane wollen irgendwie nicht recht nebeneinander stehen. Aber dann erst kommt der eigentliche Zugriff Tucholskys: „Habt ihr den süßen Bonbon meiner Kritik bis hierher gelutscht: ein kleiner bitterer Kern ist darin. Ich kann keine gutmütigen berliner Kriegserinnerungen leiden. Ich mag das nicht.“ Das wird ihm auch niemand ausreden wollen. „Scheltet mich einen starren Pedanten, einen ausgepichten Pazifisten – ich mag nicht, dass der ekelhafte Endzweck durch bürgerliche Freundlichkeit überkleistert und vergessen gemacht wird – ich mag nicht.“ Schon hier darf man das Nicht-Mögen vom Nicht-Gemochten durchaus trennen. Es mag wohl sein, dass bürgerliche Freundlichkeit etwas überkleistert, vergessen machen kann es das aber auf keinen Fall, wie einfach ginge es sonst zu in der Welt. Und schon ist Tucholsky bei seinem Vernichtungsschlag.
 
„Menschen zum Töten abzurichten ist kein Spaß, und diese grauenhafte Sachlichkeit, die dann wieder in kindliche Gutmütigkeit überging – ein für andre Völker unfassbarer Zug -, ist, tiefer betrachtet, das Schlimmste vom Schlimmen, ohne dass sich einer der Beteiligten etwas dabei gedacht hat. Also: diese Kapitel lasse ich mir vom Buchbinder herausnehmen. Denn hübsch gebunden wird dies Buch. Weils so nett ist.“ Nach dieser Beschuldigung bleibt nur ein Gnadenakt: er will sich das verstümmelte Buch, das diesen Falls im wahrsten Wortsinn verstümmelte Buch, binden lassen, weil es so nett ist. Ich habe den inkriminierten Text von 1915, „Berliner Landsturm“, nicht nachgelesen, der Weg in die genannten Bibliotheken wäre mir zu weit und zu teuer, der Kauf eines Buches, das ich zum allergrößten Teil besitze, zu albern und ebenfalls zu teuer. Ich begnüge mich mit den Fragen, die der Verleger und Nachwort-Autor sich selbst stellt: „Heißt das nicht, den Autor (und die Leser) zu „bevormunden“? Natürlich heißt es das. DDR-Leser kannten diese ganz spezielle Bevormundung aus vierzig Jahren Leseerfahrung. Die Tatsache, dass auch das Original von 1919 ein Sammelband von Texten der Jahre 1907 bis 1918 war, rechtfertigt keine Amputation.
 
„Nicht, dass der erklärte Europäer im Jahre 1915 … zum schöngeistigen preußischen Unteroffizier zusammenschnurrte, ist im Nachhinein das eigentlich Erschreckende, sondern dass er sich 1919 genötigt fühlte, sie zu veröffentlichen …“ Moses-Krause vermutet, dass Eloesser selbst in eine Neuauflage den Text von 1915 nicht wieder aufgenommen hätte. DDR-Leser kennen das Verfahren, alle Stellen mit Stalin-Bezug aus den Werkausgaben der Vordenker zu tilgen, Westleser kennen das Verfahren, ausgemachte Nazis walten zu lassen, wie sie wollen, auch mit der Säuberung eigener Alt-Manuskripte. Als ich vor zwei Jahren über Eloessers Buch „Elisabeth Bergner“ schrieb, äußerte ich bezüglich des Fehlens bestimmter Wörter bei Doris Schaaf über den Theaterkritiker Eloesser die Vermutung, das könnte mit Hans Knudsen zu tun haben. Und hier nun, 1987, exerziert einer in einem doch nun wirklich verdienstvollen Verlag wie Das Arsenal höchst profane Gesinnungszensur. Es ist ärgerlich, es ist ärgerlich, ich mag es nicht, Tucholsky noch einmal zu zitieren. Vergessen wir also rasch den Herausgeber und sein Nachwort, auch wenn es noch einige nützliche Informationen und Zitate enthält. „Die Straße meiner Jugend“ ist der älteste und erste Text im Band: von 1907.
 
Vorher gibt es ein Vorwort von 1919. Da steht sehr schön: „Das ewige Vergleichen mit Paris und London, das würdelose Nachäffen und vorschnelle Bessermachenwollen habe ich immer für kindisch gehalten; aber der kennt sich nicht, der sich niemals mit fremden Augen zu sehen versteht.“ Kurz den Zeigefinger hoch: Arthur Eloesser nennt das Nachäffen und das vorschnelle Bessermachenwollen in einem Satz und Atemzug. Wir hätten heute, 100 Jahre später, zu überlegen, wo wir protziger sind: im Nachäffen (Amerikas zum Beispiel) oder im Klugscheißen, was  nahtlos ins vorschnelle Bessermachenwollen übergeht. Schon klingt ein altes Buch wie für heute geschrieben. Von sich selbst sagt Eloesser, „ich bin kein Prophet, sondern nur ein Beobachter, wozu etwas Schmiegsamkeit und Widerstandsfähigkeit, etwas Kritik und Phantasie gehört.“ Auch das nenne ich eine bemerkenswerte Mischung: Schmiegsamkeit und Phantasie: Wäre der SPIEGEL in dieser Mischung in den Osten gegangen in den vergangenen 30 Jahren, wir würden ein ganz anderes DDR-Bild zu lesen bekommen haben. „Die Straße meiner Jugend“ aber ist noch die alte Prenzlauer Straße, später von Krieg und DDR aus dem Dasein gerissen. Von ihr wird erzählt.
 
Und es gibt auch noch einen Blick auf dieses Erzählen gratis dazu: „Denn der Berliner gebraucht das Wort Plaudern nie, das Wort Unterhalten selten, die ihm beide wahrscheinlich zu windig oder zu anspruchsvoll vorkommen, sondern er will sich was erzählen.“ Eloesser ist Berliner und so will er sich eben was erzählen. „Berlin hat als Reichshauptstadt mit einer Schnelligkeit gelebt, dass die letzten Jahrzehnte sich auf ein Vielfaches auszudehnen scheinen, und nach so grundstürzenden Wandlungen fürchtet man fast, das Bewusstsein früherer Zustände zu verlieren, wenn man sie sich nicht zur Zeit vergegenwärtigt.“ Diesen Satz hätte der Herausgeber nicht überlesen und vielleicht sogar verstehen sollen: das Bewusstsein früherer Zustände vermeintlich zu amputieren, ist eben nicht tauglich, die früheren Zustände selbst ungeschehen zu machen, auch wenn Verleger-Magie dies träumt. „Wir wurden nach den drei Kriegen und Siegen in einem lauten Patriotismus aufgezogen, der mir allerdings gegen den heutigen der Paraden sehr bescheiden vorkommt“. Führt von dieser Sicht tatsächlich ein Weg zum schöngeistigen Unteroffizier? Tschuljung, ich habe mich tatsächlich zu sehr geärgert. Es geht ja eigentlich nur um die Schnelligkeit des Berliner Lebens.
 
Zu schnell wurde geopfert, meint Eloesser, dem „Moloch des Fortschritts“ geopfert, zu viel ging verloren, meist unwiederbringlich: „Das Haus hatte nicht nur eine Nummer, sondern auch einen Charakters, eine einheitliche Persönlichkeit trotz aller Verschiedenheit der einzelnen Glieder.“ „Schon der Ersparnis wegen hielten sie kleinen Leute sich nur eine politische Meinung, wenigstens im Vorderhaus, während das Hinterhaus sich des Lebens überhaupt enthielt.“ In dieser Hinsicht ist heute das Hinterhaus nach vorn gedrungen. „Der beste Hass ist immer der, für den man keine Gründe mehr braucht.“ Und damals gab es noch keine Hass-Kommentare im Netz und keine Bundesbeauftragten für Hass-Verfolgung. „Wer das Volk nicht früh kennen gelernt hat, als Kind unter Kindern, der wird es überdies nie ganz verstehen, und wenn er Abgeordneter werden sollte.“ Kann man das treffender sagen? „Der Tiergarten, die Zelten und was weiter westlich kam, war uns ja nicht unbekannt, aber diese feinen Gegenden, denen man nur wohlgewaschen, in sonntäglicher Verkleidung und unter elterlicher Aufsicht nahte, erfreuten sich keiner Schätzung unseres Barbarentrotzes.“ Schon im frühesten Text sind Konstanten: Namen aus der Literatur, das Theater.
 
Und so kann man das Büchlein durchblättern: Fichte und die Humboldts, Ludwig Gurlitt und Ellen Key, Fontane, Schopenhauer und Flaubert, Shakespeare, Rabelais, Goethe, Dickens, Lessing, Ludwig Thoma, Horaz, E. T. A. Hoffmann, Heine, Freud, Karl Scheffler, Strindberg, Balzac – ich hoffe, keinen vergessen zu haben. Das ist nicht Protzerei mit Bildung, seit 1968 wird dergleichen gern verächtlich gemacht, das ist Kultur, das Gegenteil von Klopapier-Hamstern unter anderem. Köstlich ist Eloessers erinnernder Griff in die eigene Studentenzeit: „Der Dicke“ von 1908 erzählt davon. Und ist es nicht die ewige Wahrheit über uns alle: „Wir waren damals viel klüger als heute, von einer harten Erhabenheit, und es gab in der Vergangenheit wenig, in der Gegenwart nichts, was vor unseren radikalen Ansprüchen bestand.“ Und später: „Die Arbeit, die immer egoistisch macht, brachte uns auseinander; einige oder sogar mehrere, die diesen Egoismus durchaus nicht lernen wollten, gingen ziemlich schnell und gleichmütig zugrunde.“ Das hat sie seinerzeit und später immer wieder mal zu Helden der Literatur gemacht. Die Zeit der Dicken aber sieht Eloesser als vergangen an: „Man schätzt das soziale Ansehen nicht mehr nach den Beefsteaks, die einer im Leibe hat, seitdem die reichen Leute Salatesser von ängstlicher Diät geworden sind.“ Die Grünen?
 
In „Großstadt und Großstädter“ (1909) heißt es: „Auch die Friedrich- und Leipziger Straße sind nur nützliche Wesen; man verkehrt mit ihnen nicht, wenn man sie nicht braucht.“ „Und der neue Westen selbst ist geschichtsloses Anschwemmungsgebiet.“ Nach dem Boom des alten Ostens, der Mitte, ist längst wieder vom neuen Westen die Rede, vom neuesten neuen Westen. „Allein der historische Kern des alten Charlottenburg hat sich seinen Residenzcharakter behauptet.“ Und dann kommt eine verblüffende These: „Eine Großstadt kann ihre Anziehungskraft nur dadurch vermehren, dass sie nichts dafür tut“. Und auf der nächsten Seite: „Unsere Snobs schreien Tag und Nacht nach Kultur.“ Ein Feindbild Eloessers verrät den Mann des Theaters, „die bekannten Garderobenstürmer im Theater“, die er auch unverdrossen den besseren Kreisen zuordnet. „Wirkliche Großstädter sind nämlich immer phlegmatisch.“ In „Pro Gentilezza“ (1910) steht, auch pro domo: „Der Gebildete oder Wohlhabende hält alles an sich für kostbar, auch seine Zeit, auch wenn er Überfluss daran hat.“ „Der Spaziergang am Sonntag vormittag unter den Linden war eine vorgeschriebene Zeremonie“, erinnert er sich, weiß aber schon 1911, „der Berliner geht unter den Linden nicht mehr spazieren“.
 
1911 lebte Eloesser mit Frau und den beiden Kindern Max und Elisabeth schon drei Jahre in der Dahlmannstraße 29: „Wer einmal dem Zuge nach Westen gefolgt ist, findet den Weg nicht mehr zurück.“ 1910 schrieb er bereits: „Den Gegnern Berlins geben wir Berliner in jeder Beziehung recht mit dem schmunzelnden Vorbehalt, dass wir sie alle einmal widerlegen werden.“ 1912: „Der anstellige Berliner schickt sich in alles, wenn seinem Lerneifer, seiner Gewissenhaftigkeit ein Prinzip vorgesetzt wird.“ Und: „Der Berliner von heute weiß nicht, wo er hingehört und wo er nicht hingehört; er ist der begehrlichste Großstädter, den die Welt kennt, und er schlingt alle Leckerbissen in sich hinein, ohne je zur Verdauung zu kommen.“ 1918 entstand „An der Stadtbahn“: „Frage den Berliner, was rechtes und linkes Spreeufer ist; es wird eine von den weniger Antworten sein, die er dir schuldig bleibt.“ 16 Minuten fuhr Eloesser von Charlottenburg bis zum Lehrter Bahnhof. Das war bis 2012 der Zusatzname des neuen Hauptbahnhofs, der an seiner Stelle errichtet wurde. Station für Station der Tour hat er beschrieben. Genüsslich zu lesen. Und mir gefällt natürlich die Erzählung vom Bahnhof Charlottenburg am besten, plus Savignyplatz und von man schließlich wohin geht.
 
Ein Jahr nach Erscheinen von „Die Straße meiner Jugend“ erlebte Berlin die zum 1. Oktober 1920 rechtsgültige Metamorphose zu Groß-Berlin. Jetzt erst gehörten Wilmersdorf und Charlottenburg, Köpenick und Lichtenberg, Spandau und Neukölln wirklich zu Berlin. 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke wurden eingemeindet. Berlin war plötzlich nach London und New York die bevölkerungsreichste, nach Los Angeles die flächenreichste Stadt der Welt. Arthur Eloessers  Berliner Feuilletons von 1920 bis 1922, die Horst Olbrich 2011 in seinem eigenen Verlag unter dem Titel „Wiedereröffnung“ neu erscheinen ließ, können auch vor diesem Hintergrund gelesen werden. „Die Natur hat dem Berliner nichts geschenkt; er musste auch das in die Hand nehmen.“ So hieß es in „An der Stadtbahn“. Zu wissen, dass man da, wo seit Urzeiten der Bahnhof Alexanderplatz steht, scheinbar seit Urzeiten natürlich nur, einst Krebse essen konnte, ist vielleicht nicht das, was man wissen muss, um diesem Leben gegenüber gewappnet zu sein. Aber ich weiß nun, dass das Kind Arthur Eloesser beinahe den ersten Krebs seines Lebens dort gegessen hätte, wäre er ihm nicht in den Dreck gefallen: Gut erzogene Kinder essen nicht mehr, was einmal unten lag. Das kenne ich.


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