Wolfdietrich Schnurre: Die Weihnachtsmannaffäre

Zu Weihnachten eine Weihnachtsgeschichte hernehmen, um über sie zu schreiben, ist ungefähr so originell wie das alljährliche Bettelbrief-Programm dutzender Hilfs- und sonstiger Organisationen. Meine wiederkehrende Reaktion: Woher haben die meine Adresse? Im Fernsehen läuft seit Jahren „Der kleine Lord“, in den Theatern läuft seit Jahren „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ und wenn dann wie jedes Jahr „Kevin allein zu Haus“ ist, ist die Weihnachtswelt in Ordnung. Man registriert vielleicht im Vormittagsprogramm mit Staunen, dass Wolfgang Staudtes berühmter DEFA-Film „Der kleine Muck“, gemessen an heutigen Diskurs-Übereinkünften selbst ernannter Diskurs-Leiter, eine pure Black-Facing-Orgie ist, gegen die noch jeder Schuhcreme-Othello des angeblich herkömmlichen Theaters wie ein Anti-Rassismus-Manifest auf der Bühne wirkt. Zeiten, die es toll finden, einen „Negerkönig“ bei Astrid Lindgren zu tilgen, sind freilich nicht schlimmer als Zeiten, die anderes tilgten: Tilger aller Länder vereinigt euch, wer lange tilgt, lebt lange, Tilgung ist Bücherverbrennung ohne Flammen nach dem Brief des Apostels Maulus an seinen Innen-Jünger. Man greife stattdessen zu Wolfdietrich Schnurre, der Not und Elend zu Weihnachten nicht anklagt, indem er anklagt, sondern sie in humorvolle Vater-Sohn-Geschichten verpackt, in richtig herrliche.

Man hätte auch „Die Leihgabe“ in die Überschrift packen können: wer aber kommt schon, wenn er Suchmaschine heißt, auf Weihnachten, wenn da Leihgabe steht statt Weihnachtsmann. „Die Leihgabe“, um es gleich zu sagen für alle, die es nicht wissen, also wahrscheinlich wirklich für fast alle, ist auch eine Weihnachtsgeschichte. Es kommt der Vater vor, es kommt der Sohn vor, es kommt Frieda vor, damit das Kernpersonal vieler Vater-Sohn-Geschichten Schnurres. Frieda ist mal angestellt bei einem Destillenwirt, mal reißt sie Karten im UFA-Kino ab, wichtig daran ist für Vater und Sohn vor allem, dass sie die Miete bezahlt und bisweilen für Essen sorgt. Vater und Sohn haben mangels Heizwärme, die wiederum mit der Not, Heizkosten zu zahlen, eng verbunden ist, die schöne Gewohnheit angenommen, in öffentlichen Museen Wärme zu tanken. Mal stehen sie im Naturkundemuseum am Heizkörper unter dem Dinosaurier-Skelett, mal wärmen sie sich im Pergamonmuseum auf und plaudern mit den dortigen Wärtern. Ich lese das gern, weil ich einst ein Pförtner war im Naturkundemuseum und an mir wäre keiner vorbeigekommen zum Aufwärmen, weil es an mir vorbei gar nicht ins Museum ging, sondern nur zum Parkplatz für Angestellte. So gruslig unsozial können Zeiten gar nicht gewesen sein, die kostenlosen Museumszugang erlaubten.

Also in „Die Leihgabe“ ist die Leihgabe ein Weihnachtsbaum, den Vater und Sohn heimlich in der Nacht im Friedrichshain ausgraben, zu Hause schmücken, damit Arbeitslosen-Weihnachten eben auch ein bisschen Weihnachten ist, und nach getanem Dienst wieder eingraben. „Den Baum haben wir noch häufig besucht, er ist wieder angewachsen. Die Stanniolpapiersterne hingen noch eine ganze Weile in seinen Zweigen, einige sogar bis in der Frühling.“ Dazu ist sagen, dass Schnurre seine Geschichten den Sohn erzählen lässt, diese hier sogar rückblickend nach vielen Jahren, denn das Ende der Geschichte verrät, dass der Baum inzwischen recht groß geworden ist: „Es mutet merkwürdig an, sich vorzustellen, dass wir ihn mal zu Gast in unserer Wohnküche hatten.“ Das ist sehr leicht vorstellbar. Diese Stärke von Schnurres Geschichten ist leider auch ihre Schwäche: man versteht sie, man braucht keinen Ratgeber, der im postgradualen Studium seine Habilitation über die Geschichte der Kurzgeschichte mit Humor in Deutschland in den Jahren 1945 bis zum Mauerbau ausgearbeitet hat, um anschließend stellvertretender Leiter des Goethe-Instituts auf der Insel Nauru zu werden. Nimmt Schnurre gar die Weltwirtschaftskrise, denn um diese handelt es sich in beiden Weihnachtsgeschichten, nicht ernst genug, macht er sie mit und durch Humor klein und harmlos?

Schon wer die Frage stellt, hat das Lied „Die Gedanken sind frei“ vermutlich nicht oft genug gesungen. Wolfdietrich Schnurre hat als tatsächlicher Sohn seines tatsächlichen Vaters genügend Weltwirtschaftskrise und später genug Weltkrieg erlebt, dass ihm der Gedanke gar nicht kommen konnte, etwas nicht ernst zu nehmen, dessen Ernst am Ende ganz und gar blutig war. Etwas anderes aber ist es, Geschichten zu schreiben, die eine Hommage an den eigenen Vater sind, der vielleicht gar nicht so war wie in diesen Geschichten, aber so hätte sein können oder so gewünscht wurde. In beiden Weihnachtsgeschichten ist der Vater arbeitslos, nichts als arbeitslos, er repariert auch keine ausgestopften Tiere wie sonst manchmal in anderen Geschichten. Hier hat er eine Freundin, die es auch im wirklichen Leben gab in einer Reihe von Freundinnen im Lauf der Jahre, die erst einmal ausgezogen ist, in „Die Weihnachtsmannaffäre“. Der Vater hört, als er mit Sohn im Kaufhaus Wertheim, wir sind immer in Berlin, zum Aufwärmen ist, weil es im Pergamonmuseum nicht mehr ging wegen eines Hausverbots für alle, nachdem einer auf eine der antiken Säulen eine Nachricht schrieb, dass die beim Arbeitsamt angeforderten acht Weihnachtsmänner nicht gekommen sind. Der Vater wittert eine Chance, er hat auch die nötigen Leute bei der Hand, die nötige Aushilfe zu stellen.

Zu den Merkwürdigkeiten der Werkgeschichte Schnurres gehört, dass „Die Weihnachtsmannaffäre“ zuerst 1964 in einem Buch stand mit dem Titel „Ohne Einsatz kein Spiel. Heitere Geschichten“. Dann stand sie in einem Buch mit dem Titel „Manche gehen lieber in den Wald. Grüne Geschichten“. Das war 1979. Das Buch war identisch mit dem ersten, hatte aber einen völlig neuen Titel, nur die Geschichten, die einige Jahre heiter waren, waren nun (angeblich) grün. Wieder einige Jahre später stand die Geschichte in einem Buch mit dem Titel „Es ist wie mit dem Glück. Erzählungen mit Zeichnungen des Autors“. 2010 waren aus den Geschichten somit Erzählungen ohne nähere Charakteristik geworden. Alle drei Bücher erschienen in einem jeweils anderen Verlag, zunächst im Walter Verlag Olten und Freiburg im Breisgau, dann im Ullstein Verlag und zuletzt im Berliner Taschenbuch Verlag. Das verstehe wer mag. An Frische eingebüßt haben die Geschichten nicht. Vom Vater heißt es zum Beispiel: „Nicht dass er Aufsässigkeit gepredigt hätte, der Typ war er weniger. Nein, er hielt seine Freunde lediglich zu einer soliden Unzufriedenheit an.“ Ich finde den Gedanken an eine solide Unzufriedenheit hochgradig aufregend, weil mir sofort einige unsolide Unzufriedenheiten einfielen, denen ich täglich begegne. Auf Beispiele wäre kein Preis auszuloben.

Es gibt Otto und Else in dieser Geschichte, Otto saß früher im Knast, Else ist schwanger von ihm. Sie wohnen in der Gipsstraße, es spielt auch die Grenadierstraße eine Rolle und die Münzstraße. Die Wohnung in der Gipsstraße verlieren Otto und Else auf dem Wege der Zwangsräumung. Sie haben also kurz vor dem Fest des Friedens nicht nur keine Wohnung mehr, auch alles, was irgendeinen Wert verkörperte, ist beschlagnahmt worden. Mit dem Rest müssen sie in einen Rohbau umziehen, wo Else dann auch ihr Kind bekommt, leicht vorzeitig. Währenddessen spielt sich draußen der Kampf und den Weihnachtsmannjob ab zwischen zwei Gruppen Arbeitsloser. Die um den Vater bringt fast keine kriminelle Energie auf, die andere um Mieke dagegen sehr viel. Diese Clique lässt es sogar auf einen nächtlichen Einbruch in der Spielwarenabteilung von Wertheim ankommen, nachdem einige aus ihrer Gruppe zuvor schon die kostenlosen und natürlich nicht sehr wertvollen Gratisgeschenke des Kaufhauses für Groschen verscherbelten. Am Ende geschieht Unglaubliches: bis auf einen Stoffzwerg, der verschwunden bleibt, wird alles zurückgebracht. Und dieser eine kleine Stoffzwerg findet sich auch noch: als Geschenk für das neugeborene Baby. Weil der Sohn das erzählt und wie er es erzählt, bleibt es meilenweit von jedem Weihnachtskitsch weg.

Wo sonst wurde je die Frage gestellt, „warum sollte ein Weihnachtsmann keine Plattfüße haben?“ Der Vater vermutet auch laut, „vielleicht schämt sich im Grunde jeder, der stiehlt.“ Im Rechtsstaat lautet der Grundsatz. Im Zweifel zugunsten des Angeklagten. In der Schnurre-Welt des Vaters  gilt der Grundsatz: im Zweifel zugunsten jedes Menschen. Das ist, Verzeihung, gar nicht so weit weg von der Moral einer gewissen Bergpredigt. Der sie hielt, war nicht Ethik-Professor, sondern wollte nur, das Menschen menschlich sind. Fehlbarkeit inklusive. Der Sohn bei Schnurre erinnert in fast jeder Geschichte an die Schnurrbartenden des Vaters, auf denen dieser kaut. Hier natürlich auch. Auch Otto wurde ein wenig rückfällig, als er sah, dass man Geld nehmen kann für die Geschenke und er gibt Groschen für Groschen alles für Else und das Kind. „... sie hatten aus Liebe geheiratet. Der beste Beweis hierfür war, dass Else in Kürze ein Baby erwartete, das sie auch dann Otto nennen wollte, wenn alles dafür spräche, man habe es mit einem Mädchen zu tun.“ Von der Namensgebung erfahren wir Leser dann lieber doch nichts, es könnte also sein, dass da irgendwo in der Nähe des Alexanderplatzes ein Mädchen namens Otto geboren wurde 1929 oder 1930. Von Frieda aber sagt der kleine Erzähler: „Denn keine von Vaters Freudinnen war so lange bei uns geblieben wie sie.“

Kurz vor seinem Tode sprach Wolfdietrich Schnurre mit Barbara Bronnen (vgl. mein älterer Text zu ihr: http://www.eckhard-ullrich.de/buecher-buecher/1403-barbara-bronnen-fliegen-mit-gestutzten-fluegeln). Es geschah im Rahmen von Vorbereitungen für einen Film, der dann nicht mehr zustande kam. Da betrachteten Schnurre und Bronnen alte Fotos, das Tonband lief dabei: „Das ist Frieda. Kommunistin. Bestreitet’s heute. Du kennst: Als Vaters Bart noch rot war. Die.“ Bronnen: „Triffst du sie noch?“ Schnurre: „Ja, ja, ich wär längst wieder fällig … Fast so alt wie Tante Ilse. Für mich die allerallerwichtigste.“ Damit ist klar, warum sie in diesen schönen Geschichten immer wieder da ist, warum sie fast immer kluge Sachen sagt, den Vater von diesem oder jenem Höhenflug zur Erde, zum Boden zurück dirigiert. Im Gespräch sagt Schnurre auch den merkwürdigen Satz über seinen Vater: „Ich hab ihn immer gehasst.“ Man könnte glauben, dass dann der Hass die Grundlage für unübertreffliche, sagen wir: schwer übertreffliche Vater-Sohn-Geschichten geworden ist. Vermutlich aber war dieser Hass gar keiner. In „Die Leihgabe“ lädt Friedas Chef, der Destillenwirt, zum Essen: „Es gab eine tadellose Nudelsuppe, anschließend Kartoffelbrei mit Gänseklein. Wir aßen, bis wir uns kaum noch erkannten.“ Vielleicht von hierher kommt unsere Völlerei zu den Feiertagen?


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