Arthur Eloesser: Erinnerungen an Eduard Manet

Die Überschrift täuscht. Nicht Arthur Eloesser erinnert sich an den französischen Maler Èdouard Manet (so die korrekte Schreibweise des Namens), der vom 23. Januar 1832 bis zum 30. April 1883 lebte und seine letzte Ruhe auf dem Cimetiére de Passy fand. Der Beitrag, den Eloesser als allerersten für die „Neue Rundschau“ des S. Fischer Verlags verfasste, belegt auch nicht, dass er zunächst der Malerei zugetan war, ehe er sich Theater und Literatur zuwandte. Nein, „Erinnerungen an Eduard Manet“ ist nicht mehr als der redaktionelle Titel für etwas, das Eloesser in den folgenden Monaten, genauer von November 1897 bis November 1898, für die „Neue Rundschau“ betrieb: „Zeitschriften-Umschau“. Sieben Beiträge erschienen unter dieser schlichteren Überschrift, der achte und letzte in der November-Ausgabe 1898 hieß abweichend „Französische Zeitschriften“. Später hat er solche Arbeiten nicht mehr geliefert. „Die Wahrheit von gestern wird zum Irrtum von heute.“ So beginnt er auf Seite 710 der Juli-Nummer von 1897. Und formuliert sofort umstandslos, was damit gemeint ist: „Die Freiheit, die sich jeder nimmt, wird bald als Sklaverei empfunden. Der Naturalismus war eine neue Freiheit, er wurde zum Programm. Der Impressionismus war eine Entdeckung, eine neue Art zu sehen. Er wurde zur Mode, man malte impressionistisch, weil andere auch so malten. Die betriebsamen Nachahmer ruinieren das gesundeste Prinzip, und die Pioniere des Geistes schreiten vorwärts, um der Kunst neue Welten zu entdecken.“ Das ist ein Einstieg! 

Und es zeigt eine wesentliche Eigenschaft des Autors Eloesser: auch wo er scheinbar nur referiert, hat er eine eigene Sichtweise auf den Gegenstand, zu dem er sich äußert, hat er eigene Kenntnisse, die er einfließen lassen kann in seine Wertungen. Die „Revue blanche“ publizierte 1897 Erinnerungen von Antonin Proust an Manet. Die „Revue blanche“ erschien zwischen 1889 und 1903 aller zwei Monate, ihre Herausgeber waren drei Söhne des polnischen Bankiers und Kunstsammlers Adam Natanson: Alexander, Thaddäus und Ludwig-Alfred. Zu den Mitarbeitern zählten, um nur einige sehr berühmte zu nennen: Marcel Proust, Paul Verlaine, Claude Debussy, Henri de Toulouse-Lautrec, Alfred Jarry, Octave Mirbeau. Zur Schriftleitung gehörte Léon Blum. Dort also begann Antonin Proust (15. März 1832 – 22. März 1905) eine Artikelserie über seinen einstigen Mitschüler Manet. Sie sind laut WIKIPEDIA 1913 zusammengefasst als Buch erschienen, 1917 auch in einer deutschen Fassung im Verlag Bruno Cassirer, dem Verlag, in dem Eloesser später seine zweibändige Literaturgeschichte „Die deutsche Literatur vom Barock bis zur Gegenwart“ veröffentlichte. Die deutsche Ausgabe umfasst 127 Seiten und ist antiquarisch zu vertretbaren Preisen auch jetzt noch zu haben. Proust war zeitweise sogar Kulturminister in Frankreich im Kabinett von Léon Gambetta, dessen persönlicher Sekretär er zunächst war. 

Als der S. Fischer Verlag 1960 unter dem Titel „Der goldene Schnitt“ einen voluminösen Band erscheinen ließ, der „Große Essayisten der Neuen Rundschau 1890 – 1960“ versammelte, wählte Herausgeber Christoph Schwerin, den man eher als Sartre-Herausgeber kennt, auch eine Arbeit von Arthur Eloesser aus, eben die „Erinnerungen an Eduard Manet“. Sie stehen im Buch an fünfter Stelle nach Leo Tolstoi (Was ist Geld?), Otto Brahm (Gerhart Hauptmanns Friedensfest), Max Halbe (Polemik. Eine Gesellschaftskrankheit) und Wilhelm Bölsche (Ernest Renan). Das Nachwort benennt als Auswahlkriterium: „Die Auswahl der in diesem Band versammelten Essays wurde nach dem Gesichtspunkt der Repräsentanz eines einzelnen Aufsatzes für alle anderen, die Haltung und Zustand einer Epoche widerspiegeln, vorgenommen.“ Die einzelnen Essays folgen schlicht der Reihenfolge ihres zeitlichen Erscheinens in der Neuen Rundschau, für Eloesser war es zugleich der allererste Beitrag, dem bis September 1932 noch genau sechzig weitere folgten. Nur ein einziges Mal, in Heft 5 von 1898, fand er sich zweifach in einer Ausgabe. Der Herausgeber nennt ihn in den bio-bibliographischen Notizen einen „der führenden Essayisten und Literaturkritiker der Neuen Rundschau“ und zitiert als Bestätigung Thomas Manns Lob der zweibändigen Literaturgeschichte. 

„Niederdrückender als die Erfolglosigkeit mag das wehmütige Gefühl sein, wenn jemand so gründlich gesiegt hat, dass er seines Sieges nicht mehr froh wird, wenn Leute, die nicht Leib und Leben gewagt haben, die schwer erstrittene Beute lärmend unter sich verteilen. So ging es Zola, als er jetzt nach langer Unterbrechung wieder über Malerei zu berichten hatte.“ Der war Vorkämpfer gewesen dreißig Jahre früher und sieht jetzt einen solchen Sieg auf ganzer Linie: „Die Bresche, die sie geschlagen hatten, ist zur breiten, banalen Heerstraße geworden, auf der ein dichter Tross gemächlich wandelt.“ Anders, aber kaum besser hätte es Eloessers späterer Kollege Max Osborn auch nicht ausdrücken können. Hier ist jemand mit den Linie der Entwicklung bestens vertraut. „Zum ersten Male vielleicht lebt eine Generation, die gänzlich resigniert vorwärts schreitet, die sich bewusst ist, dass sie nicht erwirbt, um zu besitzen sondern um zu verlieren … Aber die Großen bleiben, die Kämpfer, die ihre Zeit bezwungen und die Zukunft befruchtet haben. Sie überragen die Trümmer ihrer Schulen.“ Wer Eloessers „Literarische Porträts aus dem modernen Frankreich“ kennt (S. Fischer 1904), könnte in dieser Generationsbeschreibung ein Fazit erkennen, das auch auf die dort vorgestellten Bühnenautoren zuträfe, weniger auf die ebenfalls vertretenen Romanciers. 

In einer sehr wichtigen Hinsicht unterscheidet sich diese allererste Zeitschriften-Umschau von allen späteren: ihr Verfasser konzentriert sich ausschließlich auf die genannte „Revue blanche“ und stellt in später so nicht mehr verfolgter Ausführlichkeit Manets Leben, Wirken und Nachwirken aus dem Blickwinkel Antonin Prousts vor. Eine gemeinsame Schulzeit und eine ihr folgende gemeinsame Studienzeit verband beide. „Geistvoll und skeptisch veranlagt war er doch naiv geblieben. Er wunderte sich über alles und konnte sich mit einem Nichts amüsieren. Dagegen machte ihn alles ernsthaft, was mit der Kunst zu thun hatte. Hier war er völlig unzugänglich. Seine Ueberzeugungen waren entschieden, unerschütterlich. Er ließ keine Meinungsverschiedenheit zu, geschweige denn einen Widerspruch.“ Man könnte anhand solcher Charakteristiken eine Übersicht erstellen, welche bedeutenden Namen bei Eloesser zu solchen Eigenschaften gestellt sind, um nach Verwandtschaften zu forschen. Denn immer war ihm das Einzelne dann besonders wichtig, wenn es zugleich auch das Typische verkörperte. „Dieser Mann, dessen Leben so reich an äußeren Kämpfen war, konnte von früher Jugend an gerade auf sein Ziel losgehen, weil ihm innere Kämpfe erspart blieben. Seine künstlerische Überzeugung hat er nicht als ein qualvoll Suchender erworben, sondern sie ist gleichsam mit ihm geboren und groß geworden.“ Und richtete sich auch gegen seinen Lehrer. 

Eloesser zitiert den Maler aus seinen jungen Jahren im Atelier von Thomas Couture: „Wenn ich ins Atelier komme, glaube ich in ein Grab zu steigen. Ich weiß wohl, dass man ein Modell nicht in der Straße ausziehen kann. Aber da sind die Felder, und wenigstens im Sommer könnte man das Nackte im Freien studieren, da das Nackte das erste und letzte Wort der Kunst ist.“ Im Musée d'Orsay in Paris kann man die vielleicht berühmtesten alle Manet-Nackten sehen: die „Olympia“ von 1863 und „Das Frühstück im Grünen“ aus demselben Jahr. Das damalige Aufsehen ist heute kaum mehr vorstellbar oder aber erst wieder, seit das allgemeine Aufregen eigene Medien gefunden hat, die sich auch noch soziale nennen. „„Geschichtsmaler“ war die blutigste Beleidigung, die er für einen Künstler in Bereitschaft hatte.“ Und daran knüpfte sich seine Überzeugung: „Es giebt nur eine wahre Sache. Auf den ersten Hieb machen, was man sieht.“ Es sei zwischenzeitlich wenigstens angemerkt, dass Eloesser natürlich, wo er zitiert, die eigene Übersetzung zitiert, denn die „Revue blanche“, das versteht sich, erschien in französischer Sprache, die er exzellent beherrschte. In den „Literarischen Porträts aus dem modernen Frankreich“ dagegen gefiel es ihm vielfach, immer wieder besonders markante kurze Passagen unübersetzt zu lassen, was die Lektüre klar erschwert. 

Manets nur 51 Jahre währendes Leben ist wesentlich, natürlich nicht ausschließlich, von den mehrfachen Zurückweisungen geprägt, die seine Bilder seitens des „Salon“ erfuhren. Das führte zwangsläufig zur Suche nach Alternativen und eine war und ist bis heute eben die eigene Ausstellung. „Das Bild wurde vom Salon des Jahres 1860 zurückgewiesen. Damit beginnen die heroischen Kämpfe des Künstlers, dem in seiner Laufbahn nichts erspart geblieben ist – der Fluch der Lächerlichkeit, Hass, Verleumdung, stumpfer Widerstand und endlich zu später Lorbeer für einen müden Mann.“ Vom Bild „Der Absinthtrinker“ war hier die Rede, 1858/59 entstanden, WIKIPEDIA datiert die Zurückweisung schon in das Jahr 1859. Gleich drei Bilder wurden 1863 abgelehnt: „Mademoiselle V... im Kostüm einer Stierkämpferin“, „Junger Mann im Mayo-Kostüm“ und „Das Frühstück im Grünen“, die beiden ersten sind heute im Metropolitan Museum of Art in New York zu sehen, das 2004 212 seiner Werke in Berlin zeigte und damit das Kürzel MoMA in aller Mundes brachte, in alle Feuilletons sowieso. „Der Schmerz hat ihn nicht getötet, aber die fortgesetzte Notwendigkeit, den Schmerz zurückzukämpfen, hat seinen Willen verbraucht.“ Es ist offen, ob hier Eloesser selbst spricht oder ob er lediglich Aussagen von Antonin Proust wiedergibt. 

„Dieser Mann, der in den Kampf gedrängt wurde, war zum naiven Lebensgenuss, zur liebenswürdigen Offenheit, zu froher Kameradschaftlichkeit geboren. So schildert ihn sein tapferer Herold Emile Zola.“ (In der „Neue Rundschau“ stand „Emil“) Und Proust zeichnete auf: „Man weiß nicht, was es heißt, fortwährend beleidigt zu sein. Das macht Ekel und bringt einen um.“ Und dann bringt ausgerechnet ein quasi Staatsbesuch eine völlig neue Lage: der zweite Napoleon besucht nicht nur den „Salon“, sondern auch den „Salon des refusés“, den der Zurückgewiesenen, und steht lange vor dem „Frühstück im Grünen“. „Als er wenige Jahre darauf seine bleiche „Olympia“ ausstellte, musste das Bild durch besondere Vorkehrungen der Verwaltung gegen die Stöcke und Schirme des moralisch entrüsteten Publikums verteidigt werden. Eloesser verweist auf Zolas Roman „Der Werk“, in dem der ungeheure Lacherfolg geschildert sei, den eine Ausstellung auslöste, die Manet 1867 mit 50 seiner Bilder an der Alma-Brücke veranstaltete. „Die Männer führten dorthin ihre Frauen, die Frauen ihre Kinder, um ihnen ein billiges Vergnügen zu bereiten. Die Kritik übte ihren Witz an dem wehrlosen Opfer. Riesengroß, allmächtig stand die Dummheit vor dieser neuen Offenbarung der Kunst, vor dieser bitteren Konsequenz eines Charakters.“ 

In der großen DDR-Ausgabe der Zola-Werke, von Rita Schober veranstaltet im Verlag Rütten & Loening Berlin, findet sich ein ausführliches und hoch informatives Nachwort von ihr, Titel „Zola und der französische Impressionismus“. Ihre Sichten mit denen Eloessers zu vergleichen, wäre sicher reizvoll, würde hier jedoch zu weit führen. Immerhin wies sie, als sie den von Eloesser porträtierten Henri Becque vorstellte, keine Kenntnis seines Textes aus. Dazu demnächst mehr. Ein Bild, das „Bon bock“ heißt, „Das gute Bockbier“, aus dem Jahr 1873, brachte ihm den ersten allgemeineren Erfolg. Es ist heute in Philadelphia zu sehen. „Aber es erregte noch die größte Verwunderung, als die berühmte Firma Durand-Ruel einen großen Teil seiner älteren Gemälde aufkaufte.“ Paul-Marie Joseph Durand-Ruel (31. Oktober 1831 – 5. Februar 1922) kaufte für nicht mehr als 35.000 Franc 23 Gemälde von Manet, er kaufte zeitiger als andere auch Claude Monet, Camille Pissarro und wurde so eine exemplarische Gestalt des Kunstmarkts im 19. Jahrhundert. Fast beiläufig kommt Eloesser dann auf Méry Laurent zu sprechen. „Schnell vertraut, beginnt er mit ihr von allem was ihn bewegt zu sprechen, von seiner Scheu vor den Museen, von den Aufgaben der Porträtmalerei, und vor allem von seinen geliebten Spaniern, von Velasquez und Goya.“ 

Dass Méry Laurent (29. April 1849 – 26. November 1900) auf sieben Gemälden Manets zu sehen ist, erwähnt Eloesser nicht. Sie lebte noch, als der Text in der „Neuen Rundschau“ erschien. Ihr gelang es auch, einige Bilder zu verkaufen und privat eine kleine Manet-Sammlung aufzubauen. Dafür erzählt er einige Episoden aus dem Leben Manets, vor allem von seinen Bekanntschaften mit dem Schauspieler Coquelin, mit dem Sänger Faure, den er als „Hamlet“ malte. „Er war der Ansicht, dass ein Porträt an dem Tage, wo es angefangen wird, vollendet sein muss – wenigstens für den Künstler.“ Bei seinem Freund Antonin Proust benötigte er sieben, acht Versuche, ehe es ihm gelang. Mit Porträts beschickte er den Salon 1880, die erhoffte Medaille bekam er nicht, auch wenn die Jury eine Verleihung zunächst erwogen haben soll. Proust sollte auch das Modell für einen Christus am Kreuz sein. Zu ihm soll Manet gesagt haben: „Aber das Bild des Heroismus, das der Liebe, werden niemals das Bild des Schmerzes wert sein. Das ist der Grund der Menschheit. Das ist ihr Gedicht.“ Proust hat Manet die Grabrede gehalten und noch mehr getan: „Im Frühjahr 1884 veranstaltete er eine Ausstellung der Werke Manets in der Ecole des Beaux-Arts. Es bedurfte seines ganzen amtlichen Einflusses, damit dieses Heiligtum, in dem die Tradition gehütet wurde, sich dem größten und dem für die Kunstgeschichte bedeutendsten der modernen Maler Frankreichs erschloss.“ 

Die Vorrede zum Katalog der Ausstellung verfasste Emile Zola. Arthur Eloesser resümiert, nun ganz ohne die Stütze der „Revue blanche“: „Diese Gesammtausstellung machte einen überwältigenden Eindruck, man war berauscht von dieser Fülle des Lichtes, von der lebendigen Athmosphäre, in der die Dinge schwammen, und man staunte zugleich über die Einfachheit und Klarheit dieser Kunst. Jetzt erkannte man den Meister der Epoche, den Vater des Impressionismus, der die Augen einer ganzen Generation von Künstlern umgebildet und ihr Schaffen inspiriert hat.“ Auch für die Pariser Weltausstellung von 1889 veranstaltete Antonin Proust eine Sammlung von Kunstwerken, „welche die künstlerische Entwicklung Frankreichs seit der großen Revolution in ihren ihren bedeutendsten historischen Momenten darstellen sollte. Im Ehrensaale hatte Eduard Manet den Ehrenplatz.“ Und rund dreißig Jahre später, am 28. Februar 1928, fanden die Leser der Weltbühne in Nummer 9 des Jahres eine kleine Arbeit von Rudolf Arnheim, nur „Edouard Manet“ betitelt, in der weder Antonin Proust noch Arthur Eloesser erwähnt sind. Und doch steht da: „Schöpferischer Blick war ihm angeboren und damit zwangsläufig eine nie dagewesene Art zu malen und zu sehen ...“. Wenn das nicht ziemlich genau dem entspricht, was Eloesser, Proust folgend, 1897 fast wörtlich ebenso sah?

 

 

 


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