Arthur Eloesser sieht "Wilhelm Tell"
Hitler kam erst drei Tage später. So blieb dem langjährigen Theaterkritiker der Vossischen Zeitung eine Begegnung erspart, die ihm sicher zu zweifelhaftem Erlebniswert geraten wäre. Sein Blatt fand es am folgenden Tag immerhin einen ganzen Satz wert: „Reichskanzler Hitler wohnte gestern abend der „Tell“-Aufführung des Deutschen Theaters bei und wurde lebhaft begrüßt.“ Die einspaltige Meldung schwenkte nach diesem Satz übergangslos zu einer Reportage der „Funkstunde“, die zum gleichen Abend veranstaltet wurde und den hochgestochen-ehrgeizigen Titel trug „Auf dem Wege zum deutschen Nationaltheater“. Dass die wenigen Zeilen eher eine übernommene Pressemitteilung darstellten als einen anonymen Eigenbericht, erhellt dieser Satz: „Die Darsteller der Hauptrollen bekannten sich zu ihrem Stück und zu den neuen Aufgaben eines deutschen revolutionären Theaters.“ Der pfiffige Reporter hatte offenbar auch die alberne Frage gestellt, ob man vor einer Wiedergeburt Schillers stehe, worauf ihm Friedrich Kayßler, in der Inszenierung Darsteller des alten Attinghausen, bedeutete, Schiller sei immer lebendig: „Die Klassiker dürfen nicht zur Mode werden, sie sollen festtägliche, sonntägliche Ereignisse sein.“ Götz Georges Vater Heinrich George, so der Bericht, habe es bedauert, dass das Publikum des Rundfunks bedürfe, um auf die neue Inszenierung aufmerksam zu werden. Nun, auch eine Anzeigen-Dauerkampagne half wochenlang.
Eine große Anzeige stand sechs Seiten weiter hinten im Blatt, hatte auch schon Pressestimmen zur Hand, auffällig dabei: der Berliner Lokal-Anzeiger wird zweifach zitiert, die Nachtausgabe einmal wie auch die Deutsche Allgemeine Zeitung einmal. Die Vossische Zeitung fehlt in der Vossischen Zeitung und damit natürlich auch das Wort Arthur Eloessers zu diesem „Wilhelm Tell“, gedruckt am 6. Mai 1933 in der üblichen Zweiteilung: in der Morgenausgabe knapp sechseinhalb Zeilen als Nachtkritik, aber nicht als solche ausdrücklich gekennzeichnet, in der Abendausgabe dann die ausführliche Kritik im Unterhaltungsblatt, fast eine ganze Spalte lang im dreispaltigen Layout. Die Nachtkritik sei hier vollständig zitiert: „Für den Dichter jubelnde Zustimmung. Wo Schiller spricht, ist immer Volk und Menschheit aufgerufen. Die Aufführung von Karl Ludwig Achaz ist trotz jugendlichem Enthusiasmus recht ungleich. Am Schluss willkürlich ohne Nutzen. Hervorragende Leistungen: Friedrich Kayßlers Attinghausen und Heinrich Georges Geßler. Aber der Wilhelm Tell von Attila Hörbiger fand die Herzen nicht. A. E.“ Es wird schon hier deutlich, dass Eloesser wenig Begeisterung zu formulieren hatte. Gleich unter der knappen Nachtkritik fand der Leser eine ebenso knappe Meldung, die für mögliche Neben-Wirkungen der Hauptkritik klärend heranzuziehen wäre.
Sie hat diesen Wortlaut: „Im Anschluss an die gestrige Neuaufführung von „Wilhelm Tell“ im Deutschen Theater machte in einer Rundfunkreportage über die Vorstellung Alfred Ingemar Berndt bekannt, dass der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Dr. Goebbels, heute, Sonnabend, mit einer programmatischen Erklärung an die Öffentlichkeit treten wird, die an die Neuaufführung des „Wilhelm Tell“ anknüpfen wird.“ Alfred-Ingemar Berndt (22. April 1905 – 28. März 1945) war als Journalist und Schriftsteller Ministerialdirektor bei Goebbels, SS-Hauptsturmführer, später SS-Brigadeführer, laut WIKIPEDIA der vermutliche Schöpfer der „Wüstenfuchs“-Legende um Rommel. Nach dem „Personenlexikon zum dritten Reich“ von Ernst Klee war Berndt vorrangig derjenige, der im April 1933 den Reichsverband der deutschen Presse gleichschaltete, seit 1923 in der NSDAP, seit 1924 in der SA. Ab 1941 war er im Stab Rommels, zunächst Adjutant des Reichspressechefs Otto Dietrich. Diesen Herrn und seine Gebieter zum Feind zu haben, auch nur zum Gegner, war in jenen Tagen wenig wünschenswert, da auch die Vossische Zeitung fast täglich von Einlieferungen in Konzentrationslager berichtete, von denen nach dem Krieg sehr viele Deutsche behaupteten, nichts gewusst zu haben: es stand eben nur in der Zeitung.
Bereits am 27. April 1933 konnte man die erste Ankündigung von Bücherverbrennungen lesen, die Premiere von „Wilhelm Tell“ am 5. Mai lag nur fünf Tage vor dem großen Scheiterhaufen auf dem Opernplatz, den die Vossische Zeitung wie sicher auch alle anderen Blätter anzukündigen hatte und ankündigte. Einer der ersten Namen von Autoren, deren Bücher brennen sollten, war Alfred Kerr, der Theaterkritiker und Kollege von Arthur Eloesser. Es ist nicht überliefert, wie oft beide nebeneinander oder in einer Reihe saßen seit Beginn des Jahrhunderts, sie kannten sich auf alle Fälle, bevor Eloesser auf Vorschlag Paul Schlenthers Ende 1899 in die Branche eintrat. Und wenn man heute, wo sich der überlieferte Bestand an Kritiken Eloessers langsam überschauen lässt, nach seinen Texten zu Schiller-Inszenierungen sucht, glaubt man seinen Augen kaum zu trauen: der Klassiker aller Klassiker der deutschen Bühne kommt bei ihm wohl immer wieder vor, doch sehr selten im Vergleich zu anderen Dramatikern. Man kann es bei „Wilhelm Tell“ deutlicher belegen als bei anderen Schiller-Werken. Als Gerhart Hauptmann höchstselbst Regie führte 1913, ging Alfred Klaar, als Leopold Jeßner 1919 Regie führte, ging Alfred Klaar, als Jürgen Fehling 1932 Regie führte, ging Monty Jacobs. Auch 1909, als Eloessers persönlicher Freund Kainz in Berlin gastierte, ging Alfred Klaar, da gab es freilich keinen „Tell“. Die Chefs gingen, Eloesser eben nicht.
Für 1913 und 1919 kann man anmerken, dass er da gar nicht mehr zum Kritiker-Stamm des Blattes gehörte, weil er selbst an einem Theater arbeitete als Dramaturg und sogar Regisseur, sonst aber hätten sich wohl Gelegenheiten finden lassen. So stehen wir vor der leicht seltsamen Tatsache, dass der Kritiker Arthur Eloesser 63 Jahre alt werden musste, ehe er zum ersten Male vor der Aufgabe stand, sich zu einer „Tell“-Inszenierung zu äußern. Da war die Chance, einem großen Regisseur auf die Finger zu schauen, wie er seinen Darstellern zu großem oder weniger großem Spiel verhalf, nicht mehr gegeben. Der Regisseur Carl Ludwig Achaz, in der Nachtkritik sogar noch falsch geschrieben, war ein Neuling auf großer Bühne. Ihn hatte Max Reinhardt noch Mitte Januar 1933 zum Direktor des Deutschen Theaters gemacht, wenig später war Reinhardt kein Thema mehr in Berlin. Der kürzlich im Alter von 94 Jahren verstorbene Theaterhistoriker Günther Rühle fasste es in diese Worte: „Achaz machte als erste Inszenierung „Wilhelm Tell“ im Mai, sechs Monate nach dem „Tell“ Fehlings im Staatstheater. Mit Attila Hörbiger als Tell: jung, naturbürschig, es fehlte an Ausstrahlung; aber exzessiv Heinrich George als Geßler, Kayßler als Attinghausen: sehr würdig.“ Rühle zitiert Herbert Ihering; was er selbst schreibt, klingt jedoch deutlich eher nach Eloesser.
Warum die Ihering-Kritik (Berliner Börsen-Courier vom 6. Mai 1933) in allen Ihering-Ausgaben fehlt, lässt sich heute kaum noch klären, von Eloesser hat Günther Rühle schlicht gar keine Notiz genommen. Andere waren da kaum besser. Was also sah der Kritiker? „Beides, das historisch-politische Drama und die Sage vom Schützen, einigt sich auf der Höhe der Apfelschußszene, die gestern wie immer zu ihrer ungeheuern Wirkung kam. Dieselbe enthusiastische Zustimmung hatte die Rütliszene gefunden, aus der Tell, der Abseitige, der Alleingänger, sich ausgeschlossen hat. Die Verschwörer des Rütli verkünden Menschenrechte, der Mann der Tat, der nicht erst wägt, handelt triebmäßig im Namen eines Naturrechts, das die Notwehr heiligt.“ Seine Sätze zum Drama lassen sich in Beziehung bringen zu seinen Aussagen in seiner großen zweibändigen Literaturgeschichte. Eloesser sah den „Wilhelm Tell“ dort durchaus kritisch. Aber er schied sauber zwischen dem Drama als Text und dem Drama auf der Bühne: „Wir rechnen dem Tell Fehler in der Handlung, Seichtheiten in der Charakteristik nach, bedauern besonders die fatale Abirrung zu dem konventionellen Liebespaar Rudenz und Bertha; jede Vorstellung genügt, um uns über unsere Bedenken hinwegzutragen.“ So bot sich ihm auch die Achaz-Inszenierung dar wie ein Beleg.
Zuvor sei noch einmal sein erster Band von 1930 zitiert: „Der Schütze, der Wanderer Tell sollte eine primitive undurchdringliche, rein aus der Intuition handelnde Existenz sein, er weiß allerdings um seine hartnäckige Einsamkeit zu gut Bescheid und hätte nicht der Rechtfertigung seiner Tat vor dem Verwandten- und Kaisermörder Johannes Parricida ausgesetzt werden sollen. Die Ermordung Geßlers setzt eigentlich die Bedeutung des Rütlischwurs herab. Aber gerade die Schwierigkeit, den Alleingänger in den Zug der Handlung hineinzustellen, hat Schillers Beherrschung der Bühne zu wahren Großtaten der Technik hinausgetrieben. Es ist ein Meisterwurf der Apfelschußszene, wenn der Pfeil während der erregten Einrede der entsetzten Landleute abgedrückt wird, und ein anderer, wenn das tödliche Geschoss die von den Klagen der Armgard erschütterte Luft durchschneidet. Die Tat kommt jedesmal so vorbereitet wie überraschend, so erschreckend wie befreiend.“ Das verrät ganz nebenher natürlich, dass Eloesser am 5. Mai 1933 keineswegs seinen ersten „Tell“ sah. Er hatte, als er ihn mit Kritiker-Blick für seine erste Besprechung sah, sehr präzise aus dem Text selbst erwachsene Vorstellungen, wie welche Rolle zu spielen sei, wie also auch der einsame Tell sein oder keinesfalls sein sollte. Attila Hörbiger entsprach dem erwarteten Rollenprofil nun gerade nicht.
„Der Regisseur Carl Ludwig Achaz, der sich zum ersten Male an einem großen Werk und auf dem Boden eines großen Vorgängers versuchte, hat diese beiden Linien nicht immer zu einer Ueberschneidung bringen können. Sein Tell, nicht nur Titelheld, sondern auch Hauptperson, lief etwas nebenher. Sein Tell von Attila Hörbiger war auch zu jung; es fehlt ihm, dass er den Karl Moor noch nicht gespielt hat. Tell ist ein Instinkt- und Naturmensch, dann aber auch ein Hausvater, der nicht jeden Tag auf Menschen schießt. Ein geruhsamer Mensch, der in Ruhe gelassen sein will. Auf dieser Bank von Stein will ich mich setzen. Die Bank war nicht da und der Vers auch nicht. Diesem Tell fehlte das Herz des starken Einsamen und überhaupt ein Herz. Wo er allein auftrat, hätte das Schauspiel „Der Wildschütz“ heißen können.“ Hörbiger erreichte also nicht nur die Herzen der Zuschauer nicht, ihm fehlte selbst auf der Bühne dieses sich übertragende Herz. Das aber verschiebt innerhalb der Inszenierung die Gewichte, verletzt die Dramaturgie. Wenn der Tyrann glänzt, weil sein Darsteller glänzt und der alte Attinghausen auch, weil er der Rolle etwas hinzugewinnt, dann spricht beides für die Mimen, keinesfalls aber für den unerfahrenen Regisseur. „Die Parricida-Szene mit Tells allzu bewusster Selbstrechtfertigung war gestrichen und ist auch wie gewöhnlich nicht vermisst worden.“ Abermals ist Wissen um die Inszenierungsgeschichte präsent.
„Aber wie der Regisseur am Schluss die Rütlihandlung und die Tellhandlung zusammenbringt mit den äußerlichen Hülfen der Drehbühne, der Beleuchtung, mit vielem Fahnenschwenken und dumpfem Volkslärm, das ließ auch die widerstandsfähigste Dichtung fast verstummen. Man kann einem Schiller, man kann dem gewaltigsten Sprecher der Bühne nicht das Wort entziehen. Sein Wort, mit dem er, wie Jakob Grimm sagt, Schlachten gewonnen hat. Dass Herr Achaz noch kein Feldherr der Bühne ist, braucht ihre Veteranen, braucht die Persönlichkeiten, die ihren Stil haben, nicht zu stören.“ Und das zielt zuerst auf Heinrich George und Friedrich Kayßler, die auch in der ausführlichen Kritik besonders herausgehoben werden. „Herzhaft und einfach der Walter Fürst von Eduard von Winterstein; etwas zu schön beredt, wenn es auch die Rütliszene antrieb, der Stauffacher von Theodor Loos. Richtig war Schürenbergers Rudenz, ein ritterlich aufgeputzter Junge, dem noch die Bravheit im Gesicht steht. Claus Clausen, vor kurzem ein glänzender Prinz von Homburg, überzeugte wieder von einer Begabung, die aber der Führung bedarf. Aber Clausen kann auf jeden Fall Verse sprechen, was nicht jedermanns Sache schien.“ Und schon zu Zeiten, als Goethe noch Intendant in Weimar war und die Uraufführung besorgte, ein ernstes Problem war.
„Von den Frauen, Fransica Kinz, Sonik Rainer, Irmgard Willers, Elisabeth Marcus, hatte auch fast jede eine andere Sprache, die nicht immer die von Schiller war. Es war auch nicht immer glücklich gestrichen und allzu bemerkbar, wo man den Königsmantel seiner Diktion verkürzt und wieder vernäht hatte. Aber kein Dichter trägt wie Schiller, wenn man sich ihm nur gläubig anvertraut; der Enthusiasmus war da aus der Leuchtkraft seines Wortes, auch wo es am Schliff noch mangelte.“ Liest sich das heute nicht wie aus ferner Welt: welche Regie vertraut sich dem klassischen Dichter einfach an, gar noch gläubig? Seit fünfzig und mehr Jahren gilt als hohe Tugend, Klassikern zu misstrauen; „Wilhelm Tell“ trifft es regelmäßig noch doppelt und dreifach, weil das Drama als zu inszenierender Spruchbeutel, als Bühnen-Büchmann lustvoll missverstanden wird. Der „Tell“ von Achaz lief bis zum 2. Juni 1933 täglich in Berlin, ging dann auf Tournee. Die Vossische Zeitung meldete in ihrer Abendausgabe vom 17. Juni 1933: „Im Riesenraum der Dortmunder Westfalenhalle hat das „Tell“-Gastspiel des Berliner Deutschen Theaters begonnen. Das Spiel des durch 400 Mitwirkende verstärkten Ensembles (Attila Hörbiger, George, Winterstein, Loos, Clausen, Kayßler) machte tiefen Eindruck. Die Aufführung steht unter dem Protektorat des Reichsministers Dr. Goebbels, der einer Aufführung beiwohnen wird.“ Der gleich noch das Dortmunder Theater rettete.
So die Propaganda für den Propaganda-Minister. Eloesser: „Der „Tell“ ist das einzige Schauspiel von Schiller mit einer Landschaft dahinter, die wahrlich die heroische, reine, über die Menschen gebietende Luft des Hochgebirge hat, obgleich es unser armer Dichter nur aus Beschreibungen kannte. Dies ist das eine Wunder. Es ist das andere Wunder, dass diese Dichtung sich über nachrechenbare Fehler hinwegsetzt mit ihrer Gemütsgewalt, mit ihrer geistigen Geräumigkeit, die Volk und Menschheit einfasst, und nicht zuletzt auch mit einer unvergleichlich gebliebenen Technik des Theaters.“ In „Die deutsche Literatur. Vom Barock bis zur Gegenwart“ lesen wir: „Schiller ist kein Dichter von internationaler Wirksamkeit wie Goethe und Heine; aber er wurde ein Erwecker, Befreier, eine heroische Figur für die kleineren europäischen Völker, die sich von fremder Zwangsherrschaft zu emanzipieren hatten. Sein Reich, das des Dichters vom Carlos und vom Tell, ist da, wo um die ersten Menschenrechte gekämpft wird. Erwachende Nationen, in die europäische Geschichte mit dem Anspruch eintretend, haben deutsch und europäisch an ihm lesen gelernt, der so für Deutschland moralische Eroberungen machte und noch beständigere gemacht haben würde, wenn wir ihm treuer geblieben wären.“ Diese Feststellung gibt sich ganz unverblümt als Forderung.
„Wer in der Heimat der Tellsage am Vierwaldstätter See gewesen ist, wird diese Landschaft als eine von Schiller angeeignete, aus großer Anschauung nachgeschaffene empfinden. Diese Natur handelt in den Menschen, berechtigt sie zu einer Art von edler Simplizität.“ Dass Eloesser sich hier eigene Erinnerungsbilder vor Augen ruft, darf als sicher gelten. „Schillers Figuren sind so, wie die Schweizer in ihren idealen Augenblicken, im Gefühl der Verpflichtung gegen ihre Geschichte sein möchten.“ Das referiert der Kritiker als die Sicht Gottfried Kellers, die dieser in seinem Roman „Der grüne Heinrich“ entwickelt hat, nachlesbar in der ersten Fassung in Kapitel 8. „Tell selbst mit seinen Überlegungen vorher und nachher kann die Handlungsstärke des Stückes nicht aufhalten, seine Einheit nicht zersplittern. Das Drama hat zwei Quellen des Enthusiasmus, die unversieglich fließen und zusammenfließen, die Erklärung der unentreißbaren Volks- und Menschheitsrechte in der Rütliszene und die Selbsteinsetzung des Naturrechts in der Notwehr durch Wilhelm Tell. Die Freiheit wird durch die Idee geheiligt und durch die Tat.“ Und es hat seinen gewichtigen Platz für Schiller selbst: „Schiller hat sich zum Fürsten der deutschen Bühne gemacht; es war ein kurzer, steiler Siegeszug vom Wallenstein bis zum Wilhelm Tell.“ Nach Arthur Eloesser gab der „Tell“ seinem Dichter das Vertrauen in die historischen Stoffe wieder. Nur viel Lebenszeit blieb ihm nicht.
Wenn Adolf Hitler, und darauf wird bis heute gern hingewiesen, zuletzt auch in der Weimarer Inszenierung von 2019, die noch läuft, ein „Tell“-Zitat über ein Kapitel seines Zwangsbestsellers „Mein Kampf“ setzte, entnommen der dritten Szene, dann ist das natürlich nicht Schiller anzulasten. „Der Starke ist am mächtigsten allein.“, sagt Tell und es stellt ihn vorerst lediglich in Gegensatz zu den Rütli-Verschwörern. Auf Hitler bezogen, der sich natürlich als den Starken sah, ist es nur ein Missverständnis: Wer allein am mächtigsten ist, braucht keine Partei, keine SA-Schläger, keine SS, keinen Massenmord an Juden. Dass der „Tell“ auch andere Seiten, zuallererst sogar andere Seiten hat, ging dem „Führer“ spät auf. Man kann das spätere Schicksal des Dramas im dritten Reich in Georg Ruppelts auch als Buch erschienener Dissertation „Schiller im nationalsozialistischen Deutschland“ (1978) nachlesen. Am 3. Juni 1941 unterzeichnete Reichsleiter Martin Bormann eine vertrauliche Anweisung Hitlers: „Der Führer wünscht, dass Schillers Schauspiel „Wilhelm Tell“ nicht mehr aufgeführt wird und in der Schule nicht mehr behandelt wird. Ich bitte Sie, hiervon vertraulich Herrn Reichsminister Rust und Herrn Reichsminister Dr. Goebbels zu verständigen. Heil Hitler!“ Acht Jahre zuvor, am 2. Juni 1933, sah Berlin den „Tell“ des Deutschen Theaters zum vorerst letzten Mal. Das Verbot erlebte Arthur Eloesser nicht mehr, er starb am 14. Februar 1938.