Franz Fühmann: Die Literatur der Kesselrings
Der Titel dieser Broschüre aus dem Jahr 1954 (Verlag der Nation, 56 Seiten) vollzieht, was der Text zu vermeiden vorgibt: er verallgemeinert. Unter Fühmann-Freunden und Kennern wird das Pamphlet eher verschämt verschwiegen. Es ist eben ein Pamphlet mit all seinen dazu organisch gehörenden Unarten, die man freundlicher Eigenheiten nennen möchte, weil es sich eben um Franz Fühmann handelt. Man schätzt ihn. Nie ist, so weit ich sehe, jemand auf die Idee gekommen, ihm frühen Übereifer um die Ohren zu hauen oder gar nach geheimen Stalin-Gedichten zu fahnden, die man in sein Dossier einordnen könnte. Heute besteht eher die Gefahr, ihn nur noch unter die großen Förderer sortiert zu finden. Denn wie Günter Kunert einst in „Sinn und Form“ Hans Löffler der gehobenen Öffentlichkeit der DDR präsentierte (ein breiteres Publikum hatte das Zweimonatsheft der Akademie nie), so tat es Franz Fühmann mit Uwe Kolbe, der ihm dafür hörbarer (lesbarer) dankte als Löffler Kunert. In „Die Literatur der Kesselrings“, in mindestens zwei Auflagen in mir unbekannter Höhe gedruckt, macht sich der schuldbewusste Soldat der deutschen Wehrmacht die Luft des sich verführt Wissenden. In Albert Kesselring (30. 11. 1885 – 16. 7. 1960), seit 1940 Generalfeldmarschall, sieht er den Idealtypus des unbelehrbaren, verlogenen Kriegsverbrechers.
Hans Richter, Fühmann-Kenner und Biograph, schrieb dazu: „Unter den Schriftstellern der DDR ist Fühmann einer der ersten, die sich den literarischen Begünstigungen einer Wiederaufrüstung des westdeutschen Teilstaats mit eindringlicher Kritik widmen; sein Pamphlet „Die Literatur der Kesselrings“, 1954 im Verlag der Nation erschienen, beweist es. Wie der Titel der Schrift schon andeutet, geht es darin um mehr als um Äußerungen eines einzelnen Hitlergenerals. Doch dass gerade der Fall Kesselring Fühmann ganz besonders herausfordern muss, lässt sich leicht verstehen. Generalfeldmarschall Albert Kesselring, in der Zeit des Spanienkriegs Chef des Generalstabs der deutschen Luftwaffe, fungierte von 1941 bis 1945 als Oberbefehlshaber Südwest, also gleichsam unweit des in Griechenland eingesetzten Nachrichtensoldaten Fühmann. Im Mai 1947 wegen Massenmordes an der italienischen Zivilbevölkerung von einem britischen Militärgericht zum Tode verurteilt, wird er zu lebenslänglicher Haft begnadigt, aber 1952 freigelassen. Dass er dann gleich mit einem Erinnerungsbuch - „Soldat bis zum letzten Tag“ (Frankfurt a. M. 1953) – aufwarten kann, gilt Franz Fühmann als ein alarmierendes Zeichen für den „Übergang von der heimlichen zu offenen Remilitarisierung Westdeutschlands.““ Richter nennt dazu ergänzende Zeitungspublikationen.
Diese Aufsätze, 1954 in der „Nationalzeitung“ der DDR publiziert, dem Zentralorgan der NDPD, einer Block-Partei, der Fühmann angehörte, sind seither nicht wieder gedruckt worden. Sie können hier unberücksichtigt bleiben, da sie offenbar nur jener im Titel vorgegebenen Verallgemeinerung seines Pamphlets nachträglich das Material unterlegen, das in der Broschüre leider fehlt. Die Titel der Zeitungsbeiträge seien jedenfalls genannt: „Literatur zur Abrichtung von Fremdenlegionären“; „Der leere Lorbeer“; „Von der Süße des Atomtodes“ und „Der Stahlhelm. Porträt einer Zeitung“. Aus angesichts des Pamphlets nachvollziehbaren Gründen ist bis heute, wenn ich nichts übersehen habe, keine Sammlung Fühmannscher Publizistik erfolgt, so wie es auch keine Sammlung der frühen Literaturkritiken und Essays der Jung-Germanistin Christa Wolf gibt oder der anderen eifrigen Jung-Germanistin Eva Braun, die bald zu Eva Strittmatter wurde. Nicht nur Stalin-Gedichte erzeugen besondere Schlaglichter auf Autoren der jungen DDR. Dass der Name Christa Wolf hier fällt, ist nicht zufällig: der Aufbau Taschenbuch Verlag legte 1998 unter dem Titel „Monsieur – wir finden uns wieder“ die „Briefe 1968 – 1984“ als Buch vor, Herausgeberin Angela Drescher, deren einschlägige Verdienste vermutlich nur guten Kennern vertraut genug sind, sie auch zu würdigen.
Der Briefwechsel ist ergänzt durch Lebensdaten der Schreib-Partner. So liest man unter anderem, was dem Pamphlet eine zusätzliche Dimension gibt, dass Fühmann 1938 in die Reiter-SA eintrat, sich 1941 freiwillig zur Wehrmacht meldete und zuerst in einer Fernschreibkompanie in der Sowjetunion eingesetzt wurde. Der Einsatz in Griechenland fällt in die Jahre 1943 und 1944, die Gefangenschaft erlebte er zunächst im Kaukasus, absolvierte in Moskau eine Antifa-Zentralschule, wurde selbst Lehrer an solchen Einrichtungen, ehe er 1949 als später Heimkehrer in die DDR entlassen wurde. Wie weit der Weg von etwas, das man ruhigen Gewissens Umschulung nennen kann, bis zu dem, was man Gehirnwäsche nennen müsste, tatsächlich war in jenen Jahren unter der heute kaum mehr vorstellbaren Brachialherrschaft Stalins in der Sowjetunion und dann auch in den Ländern, die „Volksdemokratien“ genannt wurde laut offizieller Sprachregelung, könnten nur echte Zeitzeugen beschreiben. Und eben die haben bis zum Ende der DDR und zum großen Teil noch danach geschwiegen. In ihrer Trauerrede 1984 verriet Christa Wolf: „Ja, rigoros ist er gewesen, und er war mir ein wenig unheimlich in seiner Unbedingtheit“. Und ergänzte: „Er konnte verachten, anhaltend und unversöhnlich.“ Der frühe Nachkriegs-Fühmann fehlt bei Christa Wolf auffallend.
Dass Franz Fühmann sich in „Die Literatur der Kesselrings“ bis zum Belfern und Kläffen versteigt, gehört zu den Unarten von Pamphlets, das muss wiederholt werden, es macht die Sache aber nicht besser, wenn man sie aus der Distanz liest. Natürlich kann jeder, der militärische Hierarchien kennt und verinnerlicht hat, sogar so verinnerlicht, wie sie Nachrichten-Muschkote Fühmann verinnerlicht haben musste als freiwilliger „Herren-Reiter“, die ungeheure, ja die ungeheuerliche Entlastung körperlich nachempfinden, die dem niederen Mannschaftsdienstgrad die hemmungslose und von keiner Sanktion bedrohte Beschimpfung des höchsten Militärdienstgrades überhaupt bereitet haben muss. Noch in meiner ach so ganz anderen, vorgeblich sozialistischen Armee NVA fiel der einfache Gefreite angesichts eines leibhaftigen Obersten fast in Schreckstarre, Menschen mit roten Streifen an den Hosenbeinen sah man als gewöhnlicher Wehrdienstleistender selten bis nie und wenn, dann erzählte man sich davon und zu Hause auch: ich habe im Manöver mit dem Fernglas unseren General gesehen. Man muss solches Erleben und Empfinden nur zwanglos extrapolieren, dann hat man diese unendliche Distanz, die Franz Fühmann für sich mit seiner Beschimpfungskanonade überwand: „Die Literatur der Kesselrings“ ist auch und für ihn vielleicht sogar zuerst Autotherapie.
Albert Kesselring, wenige Jahre zuvor der höchste Vorgesetzte Fühmanns, ist jetzt „dieser erbärmliche und ehrlose Wicht“ (S. 42), ist ein Beispiel dafür, „wie sie ihre kleine, armselige Person zu einer gigantischen Persönlichkeit aufplustern“ (S. 23). Schon 1933, nach den entsprechenden Verschärfungen der Strafgesetzgebung, noch viel mehr aber 1945, als Standrecht jedes Strafrecht beinahe vollständig abgelöst hatte, wären beide Äußerungen ausreichend gewesen für sofort zu vollstreckende Todesurteile. Das sollte man nicht ganz ausblenden, will man Fühmanns Attacken einordnen. Natürlich hat er vollkommen recht, wenn er schreibt: „So kann auch unsere Schrift, so gerne sie es auch wäre, keine geistige Auseinandersetzung sein, denn da ist nichts an Geist, womit es sich auseinandersetzen ließe.“ Aus seiner Sicht hat er recht. Ansonsten ist ein argumentativer Umgang immer besser. Ungeist heißt leider nicht: kein Geist. Die Technik des Ungeistes verdient Analyse, denn sonst steht Hilflosigkeit im Raum. Die sich selbst in einem Satz wie dem folgenden noch offenbart, der scheinbar so klar ist: „Die Verderber priesen sich als Retter an, so lange, bis wir in ihnen in der Tat die Retter sahen.“ Wenn das so war, dann muss zuvor ein sehr großer Bedarf an „Rettung“ vorhanden gewesen sein. Wovon oder wovor aber suchte einer wie Fühmann Rettung?
„Die Wahrheit ist, dass wir für die schlechteste Sache der Welt tapfer, dass wir der ehrlosesten Sache der Welt gehorsam und treu gewesen sind. … Die ganze Wahrheit und die wichtigste Wahrheit ist die, dass es für eine schlechte, ungerechte Sache keine Tugenden geben kann. … Die Wahrheit ist, dass auf einer schlechten Seite keine ehrenhaften, rühmlichen und guten Taten begangen werden können.“ Das klingt überzeugend, ist zweifelsfrei natürlich vollkommen ehrlich gemeint und hat doch seine Tücken. Fühmann, der, um die Kriegsziele der im kalten Krieg der frühen fünfziger Jahre längst zerfallenen Anti-Hitler-Koalition zu verdeutlichen, ohne die geringste Einschränkung öffentliche, veröffentlichte Äußerungen Stalins zum Beleg nimmt und mit denen westlicher Hardliner konfrontiert, muss buchstäblich aus allen Wolken gefallen sein, als er von Geheimprotokollen hörte, von Absprachen, die auf Annexionen hinausliefen, deren Folgen noch heute gar nicht sehr unterschwellig wirken im Osten Europas. Dass Stalin ein Verbrecher war: wie lange konnte das einer, der nahe Moskau geschult wurde und entlassen, als der Kult anlässlich des 70. Geburtstages von Stalin 1949 seinen Höhepunkt erreichte, vor sich selbst verdrängen? 1954, das zeigt das Pamphlet überdeutlich, hielt sich Franz Fühmann auf der Ebene billigster Propaganda.
Er folgte vorgegebenen Agitprop-Zielstellungen, wenn er Naziverbrecher und den Bundeskanzler Konrad Adenauer munter in einen Topf warf, wenn er den Anschein erweckte, als hätten sie alle zusammen kein höheres Ziel, als rasch ein dritten Weltkrieg zu entfesseln, möglichst gar einen Atomkrieg. Das war und ist barer Unfug, selbst wenn in diesem und jenem Kopf dieser und jener Gedanke in diese Richtungen gewesen sein sollte. Man musste sehr ignorant sein, die Geschichte Adenauers als Oberbürgermeister von Köln einfach auszublenden, man kann sie in zeitgenössischen bürgerlichen Zeitungen auch nach dem 30. Januar 1933 bequem nachlesen. Wiederbewaffnung, natürlich, um die ging es, Einbindung in ein westliches, ein antikommunistisches, antisowjetisches Bündnis, natürlich, darum ging es. Aber war es klug, bei dieser Gelegenheit auch gleich und wild entschlossen alles, was auf ein gemeinsames Europa hindeutete, blind und billig zu verteufeln? Die EVG (Europäische Verteidigungsgemeinschaft, 1952 initiiert) baut Fühmann in seinem blinden Verurteilungseifer auf zur europäischen Nachfolgestruktur des deutschen SS-Staates. Das liest sich so: „... mit der EVG geht es ins nationale Verderben, in die nationale Vernichtung.“ Und so: „Das Europa der EVG soll werden, was das Europa der SS war.“ Das war zu keinem Zeitpunkt wahr.
Denn das Europa der SS, wenn es schon so bezeichnet werden soll, war ein Europa der „Endlösung der Judenfrage“, war ein Europa, wo noch in der letzten Ecke Opfer für den Massenmord gesucht und gefunden wurden, sie in die Vernichtungslager zu transportieren. Hier aber sind wir direkt am vielleicht heikelsten Punkt des Pamphlets: an einem entscheidenden Platz seiner Polemik gegen Albert Kesselring fehlen in der Aufzählung der Opfer die Juden ganz, ebenso die Zigeuner (S. 48), da hilft es kaum, wenn der Generalfeldmarschall „eine jämmerliche Spottgeburt“ genannt wird. An anderer Stelle tauchen dann zwar Zyklon, Auschwitz, Todeskammern und Krematorien auf, auch Maidanek, aber wer die Opfer dort vor allem waren: Fehlanzeige (S. 30). So absurd und eigentlich gar nicht nennbar der Unterschied ist: Geiselerschießungen in Italien bilden eine völlig andere Dimension des in der Sache gleichen Verbrechens als etwa die Ausrottung der ungarischen Juden in wenigen Wochen des Jahres 1944, wo es um sechsstellige Zahlen ging. Wobei Aufrechnungen hier noch unmöglicher sind als sonst. Was hier nur heißen soll und will: Franz Fühmann stand nicht annähernd auf der Höhe seines Themas. Sein Eifer mündete schließlich in eine Polemik gegen James Joyce und dessen Roman „Ulysses“, wie sie wahrscheinlich weltweit ihresgleichen nie fand.
Selbst wütende Verächter der literarischen Moderne innerhalb spätbürgerlicher Kunst und Kultur, wie sie unter den Adepten des missverstandenen sozialistischen Realismus keineswegs selten waren, sind meines Wissens nie auf die einfach dumme und zudem natürlich völlig falsche Idee verfallen, den Leopold Bloom des Romans wie eine wirklich lebende Person zu behandeln und zu verurteilen und dann, als das Tüpfelchen auf dem I, auch noch in Bezug zu setzen zu einem Nazi-General namens Kesselring. Das liest sich bei Fühmann so: „Wir hatten nach der Lektüre des Romans von James Joyce einen unbezähmbaren Ekel vor dem impotenten Fäkalienschnüffler Leopold Bloom. Seitdem wir das Buch von Kesselring gelesen haben, erscheint uns Leopold Bloom als sympathische und liebenswerte Gestalt.“ Blöder geht kaum, doch Fühmann nimmt Zeilen später alles zurück: „Nein, man soll Leopold Bloom nicht Unrecht tun. Man soll ihn doch nicht mit den Kesselrings vergleichen.“ Nach solchen geistigen Totalausfällen nimmt es kaum Wunder, dass Fühmann allen Ernstes zweimal Hitler, den er dann auch noch Schicklgruber nennt, wie man lange und gern Goebbels auf seinen Klumpfuß brachte, die Ideologie dahinter nicht einmal vermutend, und einmal Göring, mit Shakespeares Hamlet und Schillers Wallenstein in Verbindung bringt.
So viel Ehre durfte und darf diesen Kriegsverbrechern und Verbrechern gegen die Menschlichkeit niemand antun. Auch nicht in allerbester Absicht. Wenn ich jetzt in Fühmanns Buch „Erfahrungen und Widersprüche“ blättere (Hinstorff Verlag Rostock 1975), das mir in meiner Studentenzeit fast eine Offenbarung wurde an mir aus dem Herzen sprechender Kritik gegen viele Dinge, die ich just so empfand, wie Fühmann sie beschrieb, dann sehe ich, welchen Weg er zurücklegen musste, um dahin zu kommen. Der umfangreichste Text des Buches heißt „Das mythische Element in der Literatur“, war ursprünglich ein Vortrag, den er am Tag nach meinem 21. Geburtstag vor Studenten der Humboldt-Universität hielt, zu denen ich noch nicht gehörte, dann für das Buch überarbeitete und erweiterte. Fühmann begann mit drei Zitaten: zuerst das „Abendlied“ von Matthias Claudius, dann den Schluss der zweiten Vorrede zur „Unsichtbaren Loge“ von Jean Paul, schließlich zuletzt ein Stück aus dem Schluss des „Ulysses“ von James Joyce. Kein Wort mehr vom Ekel, den „wir“ empfanden, keine Reminiszenz mehr an diesen kruden Pluralis majestatis. Gemeinsam sei allen drei Texten: „... eine Macht streckt ihre Hand aus und fasst uns an und wir erliegen“. Bisweilen war mir Fühmann selbst so eine Macht, bisweilen erlag ich ihr auch. Bekenne ich an seinem heutigen 100. Geburtstag gern. Von einem, der nie einen Roman schrieb, ist anderes geblieben als sein Pamphlet.