Arthur Eloesser: Erinnerungen eines Berliner Juden
Arthur Eloesser hätte, dessen bin ich mir sicher, seinen Lebensrückblick niemals „Erinnerungen eines Berliner Juden“ genannt, wenn er zwei Jahre früher hätte druckreif fertig sein müssen. So aber erschienen die insgesamt acht Folgen im Feuilleton der „Jüdischen Rundschau“ zwischen dem 21. September und dem 16. November 1934. Nur der Auftakt benötigte etwas mehr Platz als die drei Spalten des unteren Seitendrittels, eine vierte Spalte auf der nächsten Seite kam hinzu. Dann aber hielt der Autor sich exakt an die drei Spalten, sodass am Ende sich genau 25 Spalten summierten. Der allerletzte Satz, am 16. November 1934 auf Seite 10 zu lesen, lautete: „Und mit der Professur war es vorbei.“ Was wie eine willkürliche Zäsur erscheint, hat im Zusammenhang der Erinnerungen einen sehr tiefen Sinn. Ein Ende mit dem Eintritt in die Redaktion der „Vossischen Zeitung“ 1899 (oder dem Ausscheiden dort 1913) hätte den Akzent verschoben, der dem zurück schauenden Mann jetzt wichtig war. Man versteht das Ende, wenn man den Anfang, eine Art einleitenden Vorspanns, gelesen und verstanden hat. Dabei ist es natürlich nebensächlich, dass Redaktion und Korrektorat in den ersten Druckzeilen sogleich einen sinnentstellenden Fehler übersehen haben: „ist“ statt „mag“.
Denn die sachlich wenig korrekte Aussage des ersten Satzes fällt eher auf: „Der achtzigjährige Goethe, der die Geschichte seiner Jugend schrieb, der in seinen Tag- und Jahresheften täglich und fast stündlich über sich Buch führte, hat trotz allem das göttlich leichtsinnige Wort hinterlassen: Was ist Gestern? Gestern ist gar nichts.“ Natürlich weiß der Goethe-Kenner Eloesser, dass Goethe mit 80 Jahren die Geschichte seiner Jugend hinter sich hatte, er weiß auch, dass sich die täglichen, ja stündlichen Aufzeichnungen nicht in den „Tag- und Jahresheften“ finden, die im Gegenteil sehr oft sehr merkwürdige Akzentverschiebungen gegenüber tatsächlichen Ereignissen festschreiben. Es ist nur die sich vordrängende Tradition deutscher Germanistik: Man beginnt und endet mit Goethe. Und das noch viel eher, wenn es um eigenes autobiographisches Schreiben geht. Denn „Dichtung und Wahrheit“ hebt mit epochal grundlegender Programmatik an, man sieht und erlebt, wie sich Goethe zuvor selbst sein beliebtes Schema zurecht gelegt, wie er reflektiert hat über das noch nicht begonnene Tun. Man muss gar nicht spitzfindig sein, um zu erkennen, dass er seinen eigenen Theoremen in vier Bänden nur bedingt gefolgt ist: eigene Praxis war ihm mehr als eigene Theorie.
„Wir Juden und gerade wir, die wir uns für sehr assimiliert halten durften, haben trotz allen Schicksalsschlägen die eine Entschädigung gewonnen, und – ich muss das Wort hierher setzen – die glückhafte Erhebung erlebt, dass wir uns als Juden entdecken durften“. Das ist übergangslos hingeschrieben. Ging es eben noch um eine „Lebensreise, die oft einer Fahrt ins Blaue glich“, der auf dem Wege des Erinnerns „nachträglich die Stationsnamen anzubringen“ wären, ist nun das Subjekt des Erinnerns eingegrenzt. Eingegrenzt vorerst und zuerst auf ein Wir, nicht auf ein Ich. Jahrzehnte später wirkt es befremdlich, von einem deutschen Juden dessen Erleben seit 1933 als „glückhafte Erhebung“ bezeichnet zu finden. Kann der antijüdische Terror der frühen Monate des Hitlerregimes mit Boykott, Bücherverbrennung, mit dem Gesetz über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, freilich noch weit entfernt vom Holocaust, aber schon mitten im Rotieren der Gesetzgebung in Richtung Rassejustiz, kann das alles „glückhafte Erhebung“ sein? Man muss nur kurz innehalten, um zu verstehen: es kann. Eine Identität, die verleugnet, wenigstens verdrängt war, machte sich über Pressionen von außen geltend. Und man konnte sich identifizieren, tatsächlich.
Die kollektive, jedenfalls als kollektiv behauptete Entdeckung Eloessers war, „dass wir, auf unsere Vergangenheit, demgemäß auf unsere Bestimmung zurückgewiesen, unser Sein aus sehr vergrabenen Wurzeln wieder erneuern, unsere zerrissene, scheinbar gerade in uns abgerissene Geschichte wieder verknüpfen konnten, die, ob glücklich oder unglücklich, vor allem wieder aktiv und eigengesetzlich werden soll.“ Zur Aktivität will der Autor führen und Aktivität spornt man nicht an mit Endzeit- und Untergangsvisionen. Deshalb beschreibt er alles als „beglückend“, deshalb auch beendet er seine Erinnerungen wie schon zitiert: der Ausschluss aus dem Kreis derer, die im wilhelminischen Deutschland Professor werden dürfen, ist in diesem Rahmen sozusagen der erste Umschlagpunkt. Hier wurde der sehr assimilierte Arthur Eloesser erstmals gezwungen, sich als Juden zu entdecken. Wobei Entdeckung hier eher metaphorisch verstanden werden soll. Nun erst ist der Weg frei zu den ganz eigenen, den ganz individuellen Erinnerungen. Als noch frisches Erlebnis hatte er dabei seine erste Palästina-Reise parat, er sah sich „zurückkehren an Stelle eines Ahnen“.
Die ersten eigentlich autobiographischen Aussagen der Beitragsfolge betreffen den sonderbaren Namen Eloesser, der mit einer Trennung zwischen dem o und dem zweiten e gesprochen wird und eben nicht mit einem ö. Die Herkunft dieses Namens bringt der Autor mit einem Zufall in Verbindung: Ein „arischer“ Bekannter seines Großvaters habe diesem geraten, doch seinen Namen anzunehmen, Eloesser eben, der also damals noch kein jüdischer Name war wie Rosenfeld oder Blumenthal. Es war das Jahr 1812, in dem in Preußen alle Juden bürgerliche Familiennamen annehmen mussten. Mit der Erwähnung des Namens Blumenthal gab er sogleich auch einen Fingerzeig auf die Familie seiner Schwester, deren Nachkomme W. Michael Blumenthal hochbetagt noch jetzt lebt, kurzzeitig Finanzminister in den USA und deutlich länger Gründungsdirektor des Berliner Jüdischen Museums war. Er feierte Ende vorigen Jahres seinen 95. Geburtstag. Alle auch möglichen, sogar jeweils eine gewisse Logik für sich beanspruchenden, Deutungsversuche der Namensherkunft weist Arthur Eloesser milde ironisch zurück. Und schon in diesem Auftakt macht er auch klar, wie unterschiedlich Juden selbst innerhalb einer Familientradition sein können.
Er beschreibt Unterschiede zwischen ostpreußischen und Vorfahren aus dem Raum Posen, also eher polnischer Verwandter. „Den Sommer nach meiner Geburt verlebten meine Eltern in Pankow“, die Mutter hatte vorher schon eine Sommerwohnung in Charlottenburg inne gehabt, wo der Sohn die knappe Hälfte seines Lebens dann ebenfalls verbrachte: zuerst in der Dahlmannstraße, dann am Lietzenseeufer. „Ein Jude konnte im 18. Jahrhundert wohl Hofbankier, Hofarzt eines deutschen Fürsten oder gar einmal Minister werden, aber zu einem zünftigen Gesellenbrief konnte er es nicht bringen, so wenig wie er Christoph heißen durfte.“ Hier wird schon der rote Faden erkennbar, der zum finalen Satz der Artikelfolge führt: auch Professor konnte der Jude nicht werden, selbst wenn er einen uralten keltischen Vornamen trug, wie Arthur. Dass das zu Zeiten auch einfach nur ein modischer Name war, erfährt man spätestens dann, wenn man sich die Namen der Kollegen ansieht, die zeitgleich mit Arthur Eloesser für die „Vossische Zeitung“ schrieben. Mindestens fünf hießen Arthur oder Artur, aber „man teilt einen Namen nicht gern, und besonders nicht, wenn er auch einen Seltenheitswert hat.“ In Zeiten des Internets ist ein seltener Name geradezu ein Geschäftsvorteil.
Die erste Fortsetzung erhielt, ob vom Autor oder der Redaktion, wissen wir nicht, die Überschrift „Das Erbe im Blut - „Simson““, sie beginnt mit diesem Bekenntnis: „Ich bedauere heute, dass ich von meinen Vorfahren kaum mehr als die beiden Generationen vor mir übersehen kann, wenn sie ihr Dasein auch in unscheinbarer Mittelmäßigkeit verbracht haben.“ Solches Bedauern mag uns alle verwundern, denen es nicht anders geht oder noch schlechter. Schon zwei Generationen vor uns zu kennen, ist heute eher Ausnahme, die Regel scheint die, dass Entsorgungsunternehmen es regeln, einen Gesamtnachlass wie Sperrmüll aus den Fenstern leer gestorbener Wohnungen in Container zu werfen, ohne dass sich jemand um das kümmert, was da fliegt. Für Arthur Eloesser ist die Situation die: „... wir Juden haben ja heute besondere Veranlassung, unsere nächste, wenn auch bescheidene Vergangenheit festzustellen, wenn wir zu unserer großen Vergangenheit zurück gehen wollen. Innerhalb der umfassenderen schicksalshaften Erbschaft von Stamm und Rasse stellt die Familie eine Summe von Möglichkeiten, von Eigenheiten, Energien, Fähigkeiten oder Unfähigkeiten dar, wobei gewöhnlich nicht genügend beachtet wird, dass ein Mensch, wenn er seine selbständige Entwicklung erfährt, sich auch über die Annahme von Erbschaften entscheiden kann.“
Alle biographischen Details seiner Erinnerungen ordnen sich genau dieser Sichtweise unter oder zu. Er will seine Lebensgeschichte nicht interessanter machen als sie ist und weist deshalb vieles zurück, was er durchaus auch hätte stehen lassen können. So korrigiert er den anonymen Kritiker seiner zweibändigen Literaturgeschichte, der ihm in der „Jüdischen Rundschau“ vom 23. März 1932 einen großen Rabbiner in die Ahnenreihe stellen wollte, „einfach aus dem Grunde, weil er der Erzeuger der zweiten Frau meines Großvaters war, mit der ich verwandtschaftlich nichts zu tun hatte.“ So korrigiert er den holsteinischen Dichter Timm Kröger (29. November 1844 – 29. März 1918), der ihn brieflich wiederholt als „Lieber alter Kriegskamerad!“ anschrieb, Arthur mit seinem Onkel Simson verwechselnd. Interessant ist, dass Eloesser selbst sich hier offenbar falsch erinnerte. Er will dem „Jubilar“ einen Glückwunschartikel in der „Vossischen Zeitung“ gewidmet haben, der aber weder zum 60., noch zum 65., noch zum 70. Geburtstag Krögers im Blatt nachweisbar ist. Zum 70. Geburtstag gratulierte Hanns Martin Elster (11. Juni 1888 – 17. November 1983), den Eloesser sicher aus der Kleiststiftung kannte, der sich aber spätestens 1933 als aktiver Nazi zu erkennen gab.
Tatsächlich aber enthält die Morgenausgabe der „Vossischen Zeitung“ vom 17. März 1906 einen mittleren Einspalter Eloessers zu Novellen von Timm Kröger, weitab von jedem Jubiläum. Und dort findet sich die ironisch gemeinte Prognose, der kaum bekannte Landsmann und Kollege von Theodor Storm werde vielleicht zu seinem 70. Geburtstag die längst fällige Anerkennung erfahren und von der Universität Hamburg zum Ehrendoktor ernannt werden. Auch ein reichlich fünf Monate später gedrucktes, recht umfangreichen Porträt von Kröger (31. August 1906, Seite 2 der Morgenausgabe) lässt keinen Bezug zu einem Jubiläum des Porträtierten erkennen. Ein hübsches Porträt widmet Neffe Arthur seinem Onkel Simson: „Wie ich mich noch überzeugen konnte, gab es kein Quantum Bier, mit dem mein Onkel Simson nicht fertig wurde.“ Später, 1888, „schenkte er mir zum Abiturium ein paar sehr kostbare Paradeschläger“. Das waren Gerätschaften, die studentische Verbindungen benötigen, wenn ihre Mitglieder den Ehrgeiz entwickeln, sich entsprechend zu „schlagen“. Die Drohung mit einer Kaufmannslehre stachelte den Schüler Eloesser, erfahren wir, zu mehr Lerneifer an. Konjugation unregelmäßiger griechischer Verben übte er bei einem der Brüder seines Vaters in Schlesien, nicht bei jenem Onkel Simson, dessen wirklichen Namen wir aus den „Erinnerungen“ nicht erfahren, was die Anführungsstriche des Zwischentitels am Anfang erklärt.
Der einzige Teil der „Erinnerungen eines Berliner Juden“, der bisher einen Neudruck erfahren hat, ist Teil III, die zweite Fortsetzung mit dem Zwischentitel „Das Haus“. Das Verdienst gebührt Kerstin Schoor (Jahrgang 1963), die im Wallstein Verlag Göttingen 2010 den Band „Zwischen Rassenhass und Identitätssuche. Deutsch-jüdische literarische Kultur im nationalsozialistischen Deutschland“ herausgab. Dort kann man „Das Haus“ komplett nachlesen, auf knapp einer Seite außerdem noch ein Stück von „Jüdische Feste“, das war die dritte Fortsetzung, Teil IV insgesamt, zuerst gedruckt am 12. Oktober 1934. Auf dem Schutzumschlag sieht man auch, sehr gut lesbar, Eloessers letztes Buch „Vom Ghetto nach Europa“, das wie die „Erinnerungen“ einen Nachdruck verdient hätte, idealerweise einen photomechanischen Nachdruck mit neuem Register, denn das vorhandene von 1936 ist extrem lückenhaft. Doch das wäre ein anderes Thema. „Das Haus“, dessen genaue Lage mit Straße und Hausnummer hier nicht genannt wird, ist das Haus Prenzlauer Straße 26. Näheres hierzu unter http://www.eckhard-ullrich.de/buecher-buecher/4440-arthur-eloesser-prenzlauer-strasse-26, seit dem 1. Dezember 2021 im Netz und deshalb nicht zu wiederholen.
Wohl aber bleibt zu betonen, dass auch hier Erlebnisse und Erfahrungen benannt sind, die erst im Nachhinein, eben im Rückblick der „Erinnerungen“, ihren spezifischen Wert gewinnen. Da ist die Hierarchie innerhalb des Hauses, zwei Etagen im Vorderhaus gehören wohlhabenden Juden, die sich Personal leisten können. Da ist das Gewahrwerden anderer Juden, die ganz anders sind und scheinbar mit einem selbst wenig bis nichts zu tun haben. Sie sprechen in gewisser Weise sogar eine andere Sprache und sehen einen selber aus ihrer Perspektive nicht als „richtige“ Juden an, was unter anderem damit zusammenhängt, welche Feste gefeiert, welche Rituale eingehalten werden, welche Bräuche befolgt. Neue Erfahrungen ergeben sich mit dem Laubhüttenfest, das die armen Nachbarn feiern. Und in „Jüdische Feste“, dem Teil IV, am 12. Oktober 1934 zuerst gedruckt, lesen wir die Frage der Nachbarn: „Was, ihr seid Juden, kam es im stärksten Berlinisch herauf, und habt keine Mazze!“ Mazze ist das ungesäuerte Brot, das in der Pessach-Zeit gegessen wird. Jetzt, 1934, sieht Eloesser es anders und neu: „Mit einiger Verspätung muss ich diese Kritik und diesen Anspruch als berechtigt anerkennen.“ Oder anders formuliert: Diese Sicht wäre auch früher denkbar gewesen.
Es geht nun keineswegs folkloristisch mit Festen und Bräuchen weiter, wie man erwarten könnte, sondern mit Jüdischem im Familienleben. Das koppelt Arthur Eloesser an „Sorgfalt der Erziehung“, an die „selbstverständliche Autorität der Eltern, die jeden offenen Widerspruch als undenkbar ausschloss“. Bis zu seinem Auszug aus der Prenzlauer Straße habe er in zwei Welten gelebt und mit etwa 15 Jahren erst sich „einen offenen Widerspruch gegen meinen Vater erlaubt“. Da war ein älterer Freund nach einem Schlag gegen den Kopf gestorben. Dessen Vater lud Arthur zu einem Schnaps nach dem Begräbnis. Das war eine Anerkennung: der Sonntagsanzug mit den ersten langen Hosen verwandelte den Jungen äußerlich in einen Erwachsenen. Ähnlich deutet der Sohn auch die milde Kritik zu Hause, wohin er spät zurückkehrt. Er kontert, „wenn bei uns so etwas vorkommt, wird ein Glas Rotwein getrunken. Die Leute haben aber keinen, und kaputt waren sie auch.“ Und der Vater sah ihn mit einem Male offenbar auch „als einen beinahe Erwachsenen.“ Jetzt erst wenden sich die „Erinnerungen“ der Schulzeit zu. „Die Schule“ bildet mit je drei Spalten am 26. Oktober und am 2. November gemeinsam mit den je drei Spalten von „Akademische Jahre“ am 9. und am 16. November zugleich den längsten Abschnitt der „Erinnerungen eines Berliner Juden“.
Sowie auch eine willkommene Ergänzung zu einem 22 Jahre älteren Rückblick. 1912 war Arthur Eloesser einer der zahlreichen Beiträger eines Sammelbandes, den Alfred Graf (30. April 1883 – 24. November 1960) veranstaltet hatte, es war Grafs zweites Buch. Sein Titel: „Schülerjahre. Erlebnisse und Urteile namhafter Zeitgenossen“, Berlin-Schöneberg, Fortschritt GmbH (Buchverlag der „Hilfe“). Darin versammelt (in der Reihenfolge des Buchs) Juristen und Männer des öffentlichen Lebens, Philosophen und Philologen, Theologen, Mediziner, Naturforscher, Historiker und Literaturhistoriker, Dichter und Schriftsteller, Bildende Künstler, Musiker und Bühnenkünstler. Arthur Eloesser erscheint in der kleinen Gruppe der Historiker und Literaturhistoriker, sein Beitrag umfasst nicht mehr als anderthalb Druckseiten. Nur ein einziger Satz dort bezieht sich ausdrücklich auf Jüdisches: „Irgendwelche, nicht vorgeschriebene Interessen habe ich nur bei den lebhafteren jüdischen Mitschülern wahrgenommen, die literarischen und künstlerischen Neigungen nachgingen.“ Diese alte Wahrnehmung wird 1934 zum Kern der Aussagen über die eigene Schulzeit bis zum Abiturium 1888. Jetzt geht es um weitere Eigenheiten der jüdischen Schülerschaft, nur ganz ausnahmsweise um individuelle, rein private Ereignisse und Erlebnisse.
Immerhin lässt sich anhand eines schlichten Satzes der Tag der Einschulung Eloessers relativ präzis datieren: „In dem üblichen Alter von etwas über sechs Jahren kam ich in die Schule.“ Der sechste Geburtstag fiel auf einen Montag, es war Frühlingsanfang und im Königlichen Opernhaus erlebte Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“ ihre Uraufführung. In die Schule kam man damals und noch viele Jahre später zu Ostern, was auch den für heutige Leser irritierenden Abschluss des Abiturs zwölf Jahre später im Herbst schlüssig erklärt. Da Ostersonntag 1876 der 16. April war, Ostermontag der 17. April, darf vermutet werden, dass die Einschulung am 18. April oder sehr kurz darauf erfolgte. „Da es in den Vorschulklassen noch keinen Religionsunterricht gab, wurde es mir nicht bewusst, dass ich zu einer „Minorität“ gehörte.“ Auch dieser Anfang, muss abermals betont werden, hätte vermutlich noch zwei Jahre früher nicht am Beginn eines Rückblicks auf die eigene Schulzeit gestanden. Den jüdischen Kindern stand keine mittlere Beamtenlaufbahn offen, ihnen blieb eine kaufmännische Lehre oder das Studium: „In den jüdischen Familien herrschte immer noch ein starker sozialer Ehrgeiz oder Auftrieb“, man sprach „von den Glaubensgenossen, die schon mit patrizischem Ansehen in den Villen des Tiergartens saßen“. Was Arthur Eloesser nie gelang.
Ob es freilich je sein eigener Ehrgeiz war, muss dahin gestellt bleiben. Eine entsprechende Annahme von Andreas Terwey in seiner Dissertation zu Eloesser würde ich zurückweisen wollen. „... ich kann jedenfalls die Beobachtungen und Schlüsse der Entwicklungszeit kaum entbehren, wenn ich jüdische Eigenheiten und Eigenschaften abzuschätzen suche.“ Früher machte ein lernfähiger jüdischer Sohn ein Talmud-Studium und wurde auf diesem Wege ein „Vornehmer“, aber auch ein „Erwerbsunfähiger“. „Diese durch Jahrhunderte getriebene geistige Dressur hat uns viel gekostet, aber auch viel eingebracht“. Doch von dieser Tradition lebte im Berlin des Schülers Arthur nicht mehr viel, in anderen Bezirken der Stadt sicher noch deutlich mehr. „Wenn die jüdischen Schüler, wenigstens die aus sozial schon gehobenen Familien, etwas gemeinschaftlich hatten, so waren es literarische und künstlerische Neigungen, obgleich sie im Zeichnen nachzustehen pflegten.“ Damit geht Eloesser bereits zu seiner Zeit am Gymnasium über: „In der Sexta begann der Religionsunterricht und somit fand die erste offizielle Trennung oder Unterscheidung in der Schülerschaft statt … Für die jüdischen Schüler war kein Religionsunterricht vorgesehen, und unsere Eltern dachten auch nicht daran, diese Lücke auszufüllen“.
Zurückweisungen, Diskriminierungen, gar antisemitische Attacken thematisiert Arthur Eloesser gar nicht, allenfalls höchst vorsichtig andeutend, etwa wenn er von Lehrern schreibt, „die seit den achtziger Jahren zuerst durch die Stöckersche Bewegung berührt wurden.“ Gemeint ist hier der Theologe Adolf Stöcker (14. Dezember 1835 – 2. Februar 1909), der antisemitischer Aktivist war. Bismarck entließt ihn aus seinem Amt als Hofprediger. „Ich kann nicht sagen, dass wir jüdischen Schüler zusammenhielten; Juden haben immer etwas aneinander auszusetzen.“ „Wir waren alle weicher erzogen als unsere Umgebung, wir stammten aus einer urbaneren Rasse...“. Neues gibt es dann in der Prima, der obersten Gymnasialklasse, da „wurden wir infolge einer neuen Verfügung zum jüdischen Religionsunterricht angehalten.“ Hier erinnert sich Eloesser sogar an einen Lehrer, für alle früheren Schuljahre hatte er das konsequent vermieden. „Jahrzehnte später habe ich eingesehen, dass wir mit der Entbehrung einer Religion aufgewachsen sind, die zugleich unsere Geschichte und die daraus hervorgehende alte Verbindlichkeit bedeuten musste.“ Eine Tante, „die gern außer der Reihe ging“, schenkte dem Schüler Arthur zu seinem 14. Geburtstag eine Bibel, das ist eine der ganz wenigen handfesten biographischen Informationen dieser „Erinnerungen“.
Diese Bibel wurde zum Auslöser seines Studienwunsches. Schüler Arthur wechselte einmal das Gymnasium, die „Erinnerungen“ benennen weder das eine noch das andere, besteht das Abitur im Herbst 1888 mit dem Willen, Geschichte zu studieren. Er bekennt, die Bibel heute, 1934, anders zu lesen als in der Schulzeit, als ihn Helden, Propheten, Abenteurer und Märtyrer interessierten, jetzt liest er sie „als das Gesetzbuch und als das prophetische Buch, das all unser erlebbares Schicksal vorweggenommen hat.“ Mit seinem Geschichtsstudium will er sich für hohe und große Aufgaben qualifizieren: „So wollte ich vom Katheder aus die Völker und die Regierungen mit den besten Methoden versehen.“ Doch schon der Direktor warnt ihn vor absehbaren Schwierigkeiten, die in den „Erinnerungen“ nicht näher bestimmt werden. Dieser namenlose Direktor ist es auch, der beim Abschied sagt: „Oh, oh, lieber Freund, ich sehe Sie schon als Journalist.“ Und damit durchaus keine hellseherischen Fähigkeiten beweist, sondern nur Welt- und Lebenskenntnis für die wilhelminische Epoche am Ende des 19. Jahrhunderts. Dass es vom Wunsch, Geschichte zu studieren bis zum tatsächlichen Geschichtsstudium Hürden zu überwinden galt, erfuhr Arthur Eloesser umgehend.
Die beiden letzten Fortsetzungen der „Erinnerungen eines Berliner Juden“ sind mit „Akademische Jahre“ überschrieben. Erst hier fallen Namen in größerer Zahl, auch hier bleibt der Autor auffällig zurückhaltend, was Erlebnisse antisemitischer Aktionen und Aktivitäten betrifft. Selbst den berüchtigten Antisemiten Heinrich von Treitschke (15. September 1834 – 28. April 1896) nennt er zuerst den „größten akademischen Redner, den ich je gehört habe“. Zunächst aber erfahren die Leser, dass Abiturient Arthur eine Empfehlung an den jüdischen Privatdozenten Ignaz Jastrow (13. März 1858 – 2. Mai 1937) mit auf den Weg bekam, der ihm wiederum staatsrechtliche und juristische Vorlesungen empfahl. Eloesser hörte bei Adolf Wagner (25. März 1835 – 8. November 1917), der „nicht geradezu antisemitische Bemerkungen, doch solche gegen den jüdischen Geist der Wirtschaft machte“. Als Eloesser zu studieren begann, hatte eben Gustav Schmoller (24. Juni 1838 – 27. Juni 1917) seine Zeit als Rektor beendet, bei ihm scheint der angehende Historiker nicht gehört zu haben, sein Name fehlt auch unter den 1893 am Ende der Dissertation angegebenen. Dafür nennt Eloesser den Namen Eugen Richter, gegen den Treitschke regelmäßig wetterte. Der Parlamentarier Richter (30. Juli 1838 – 10. März 1906) galt als großer politischer Rhetoriker.
„Es bildete sich an der Universität eine jüdische Landsmannschaft, meistens aus wohlhabenden, stattlich gewachsenen Jungen, die es sich zur Ehrensache machten, jeder Provokation entgegenzugehen oder soviel wie möglich Mensuren zu liefern. Zerhauenere Gesichter als bei der Makkabäergarde, die aber keine jüdische Kulturpolitik führte, habe ich in meinem Leben nicht gesehen.“ Onkel Simsons Paradeschläger sind also doch zum praktischen Einsatz gekommen, sie werden jedenfalls indirekt erwähnt: „Ich trank und focht nicht ungern, aber ich hatte keine große Lust, auf Befehl zu trinken“. Er blieb also eher draußen, „verkehrte mit Freunden meist kleiner Herkunft“, die sich auch der sozialen Frage stellten, aber: „Wir waren im Gegenteil untereinander sehr uneinig, und jeder behielt sich sein eigenes Programm vor für die soziale Hebung und sittliche Veredelung der Menschheit.“ Sein Semester in Genf erwähnt er nur mit einem halben Satz, was sehr schade ist, doch auch verständlich: von dort hatte er offensichtlich rein gar nichts zu erzählen, was in seinen für diese „Erinnerungen“ gewählten Rahmen passte. Dafür kommt er ausführlicher als bei anderen auf seinen wichtigsten akademische Lehrer, auf Erich Schmidt (20. Juni 1853 – 30. April 1914) zurück, der erst seit 1886 in Berlin als Professor die deutsche Literaturgeschichte vertrat.
„Mit unserem Erich, wie wir ihn nannten, kamen wir früher zu einem selbständigen kritischen Verhalten.“ Und in jener Zeit, erfahren die Leser der „Jüdischen Rundschau“ fast nebenher, als noch Theodor Fontane und schon Otto Brahm aktiv waren, war es „die Theaterkritik an der Vossischen Zeitung, die damals eben soviel wie ein akademischer Katheder galt.“ Arthur Eloesser hatte also, darf man das deuten, durchaus einen „Katheder“ errungen, als ihn Paul Schlenther 1899 an die 1704 begründete Zeitung rief. „Als ich im Hauptfach Germanist geworden war, ergab sich mir der beste kameradschaftliche Verkehr aus der gemeinsamen wissenschaftlichen Beschäftigung, die überdies keine Einseitigkeit duldete und eine vielseitige Berührung mit allen Gebieten der Geisteswissenschaft voraussetzte. … Wir waren eine konfessionell sehr gemischte Gesellschaft, so etwa halb und halb, vertrugen uns ausgezeichnet, debattierten, wenn wir Lust hatten, und tranken, wenn wir Durst hatten.“ Eloesser nennt noch den Namen seines Freundes Max Osborn als den eines Übriggebliebenen, nennt Ludwig Geiger (5. Juni 18148 – 9. Februar 1919) als jüdischen Dozenten und Sohn von Abraham Geiger (24. Mai 1810 – 23. Oktober 1874), den er selbst in seinem letzten Buch „Vom Ghetto nach Europa“ als großen Reformrabbiner noch ausführlicher behandelt hat.
„Trotz allem dachte ich an nichts anderes als an eine akademische Laufbahn, auch als meine Freunde aus dem Symposion, schon um ihren meist kargen Wechseln aufzuhelfen, sich früh und lebhaft im Journalismus zu tummeln begannen. Meine Familie erwartete in dieser Hinsicht von mir keinen Beitrag, zu den nötigen Opfern an Geduld und Hilfe entschlossen, bis ich ihr Professor sein würde.“ Die Vossische Zeitung, an die Arthur Eloesser 1899 zunächst als Nachtkritiker berufen wurde, war das alte Familienblatt der Familie Eloesser. Dort fand sich 1870 die Kleinanzeige seiner Geburt, dort gab er später auch die Geburt seiner beiden Kinder bekannt. Die Voss, wie sie genannt wurde, „galt auch meinem geduldigen Vater als vollgültiger Ersatz für ein akademisches Katheder.“ Als die „Jüdische Rundschau“ im Herbst 1934 die „Erinnerungen eines Berliner Juden“ in acht Teilen druckte, war seit dem endgültigen Ende der Vossischen Zeitung schon wieder fast ein halbes Jahr vergangen, Arthur Eloesser hatte wichtige Aufgaben im Jüdischen Kulturbund übernommen, eine erste Reise nach Palästina absolviert, wohin sein Sohn Max zeitig emigriert war. Das ihm nur noch knapp dreieinhalb Jahre blieben bis zu seinem Tod am 14. Februar 1938, war nicht absehbar.