Arthur Eloesser und "Der Morgen"

Seine außerordentliche Philosophie-Professur an der Technischen Hochschule Darmstadt hatte Julius Goldstein offiziell noch nicht inne, als er im April 1925 die Zeitschrift „Der Morgen“ aus der Taufe hob. Ihr Untertitel: Monatsschrift der Juden in Deutschland. Sie erschien im Philo-Verlag, der vom Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) 1919 gegründet worden war und 1938 zwangsweise geschlossen wurde. Dieses Schicksal ereilte zeitgleich die Monatsschrift im noch jungen Jahrgang XIV mit dem Oktoberheft von 1938. Hans Bach, Mitglied der Redaktion von Beginn an, vielfacher Autor ebenfalls, durfte mit Heft 7, S. 265 – 270, noch den ersten Teil seiner Abhandlung „Boden unter den Füßen“ in seinen Händen halten, der für das Folgeheft angekündigte Schluss konnte nicht mehr erscheinen. Julius Goldstein (29. Oktober 1873 – 25. Juni 1929), seines 150. Geburtstages hätte erst kürzlich gedacht werden können, erlebte das Ende nicht mehr, er starb nach langem Krebsleiden in Darmstadt. Seine Frau Margarete (27. Februar 1885 – 28. April 1954), Mitglied der Redaktion, überlebte. Eine der Töchter, Elsbeth Juda, wurde eine bekannte Fotografin, sie starb im Alter von 103 Jahren am 5. Juli 2014. Dem Holocaust entging ebenfalls Rabbiner Max Dienemann (27. September 1875 – 10. April 1939), Redaktionsmitglied, wenn auch nur, um im Exil in Palästina zu sterben, wohin er nach seiner Haft im KZ Buchenwald über London gelangt war.

„Monatsschrift der Juden in Deutschland“ war ein besitzergreifender Titel, ein Programm schon vor jedem Programm. „Monatsschrift für Juden in Deutschland“ wäre bescheidener gewesen. Es steht zu vermuten, dass Arthur Eloesser sich 1925 kaum angesprochen gefühlt hätte. Zwar hatte ihm seine Ablehnung einer Konversion schon vor der Jahrhundertwende eine akademische Karriere gekostet, letztlich aber war sein Judentum, wie soll man es nennen, eines außer Diensten, im Schlummermodus, Standby. Das Jahr 1933 führte gewaltsam zu einem Neustart, um in der Sprache zu verbleiben, die hier metaphorische Dienste leisten musste. 1925 kam Eloessers Thomas-Mann-Biografie auf den Markt, er arbeitete frei für seine „alte“ Vossische Zeitung, nicht weniger als neun Arbeiten von ihm erschienen dort. Neun Beiträge brachte 1925 auch die „Weltbühne“ Siegfried Jacobsohns, immer noch zwei die „Neue Rundschau“ des S. Fischer Verlags. Eifrig schrieb er für „Die Glocke“, die als Wochenschrift für Politik und Wirtschaft, Kunst und Kultur seit 1915 erschien und mit der Nummer 31 vom 31. Oktober 1925 im elften Jahrgang eingestellt wurde. An Arbeit mangelte es ihm also nicht, vielleicht an Einkommen, was für freie Autoren bekanntlich eher der Normalfall als die bedauerliche Ausnahme war (und ist). Ob, wann und wie Eloesser auf die neue Monatsschrift aufmerksam wurde, ehe er gelegentlich ihr Autor wurde, ist derzeit unbekannt.

Jedenfalls stießen die Leser der Wochenschrift in der Dezember-Ausgabe 1933 (Heft 6) erstmals auf den Autorennamen Arthur Eloesser. Waren sie aufmerksame Leser, wussten sie, dass dieser Kritiker zu den Gründervätern des jüdischen Kulturbundes gehörte. Waren sie sehr aufmerksame Leser, wussten sie vielleicht sogar, dass der voll ausgeschriebene Name Arthur Eloesser in der Vossischen Zeitung an dem Tag letztmalig erschien, als das Blatt die Gründung des Kulturbundes vermeldete. Schon ohne darauf zu verweisen, dass er unter seinem Uralt-Kürzel „A.E.“ immer noch im Blatt aktiv war. Jetzt schrieb er also für „Der Monat“. Er schrieb über ein Büchlein, das im Philo-Verlag erschienen war, dem Verlag, der auch die Zeitschrift herausbrachte. Verfasser war Julius Bab (11. Dezember 1880 – 12. Februar 1955), innerhalb des Jüdischen Kulturbundes für das Vortragswesen zuständig und in dieser Zuständigkeit quasi der Vorgesetzte von Eloesser. Babs Buch trug den Titel „Rembrandt und Spinoza“. Aufmerksame Leser erinnerten sich womöglich, dass unter genau dieser Überschrift bereits im Oktober 1929 (5. Jahrgang, Heft 4) ein Beitrag im „Monat“ zu finden war, der gewissermaßen als Appetithäppchen auf das spätere Buch diente. Nun also das komplette Werk, 102 Seiten, Untertitel „Ein Doppelbildnis im deutsch-jüdischen Raum“, als Titelbild zu sehen die Rembrandt-Radierung „Synagoge“, die originale Vorlage im Besitz des Jüdischen Museums Berlin.

Während ich dies schreibe, finde ich ein Exemplar des Originals für 31 Euro ohne Versandkosten bei einem amerikanischen Anbieter, ein weiteres als ebay-Angebot für 120 Euro mit einer echten Besonderheit. Es trägt eine Widmung von Julius Bab: „Paul Fechter in alter Verehrung. 7. 12. 33“. Der Anbieter erlaubt nicht nur detaillierte Blicke auf die Rarität, er liefert auch sehr ausführliche Angaben zum Verfasser wie zum Empfänger. Und er ermöglicht eine überraschende Erkenntnis. Arthur Eloesser hat, warum auch immer, in Anführungszeichen einen Satz von Julius Bab zitiert, der so gar nicht wörtlich auf der ersten Seite des Buches zu finden ist. Dem Sinn nach scheint alles völlig richtig, dennoch greife ich hier auf das Original zurück: „Aber wenn ein deutscher Jude heute ein Buch schreibt – das Thema mag lauten, wie es wolle – so wird er auch wissen müssen, dass er einen Beitrag liefert zu der zentralen Frage seines Daseins – der Frage nach seiner Existenz als Deutscher und Jude.“ Einen winzigen Akzent setzt der Kritiker anders als der Autor, den er wörtlich zu zitieren vorgibt: der Buchschreiber werde einen Beitrag liefern müssen. Bei Bab aber ist der Beitrag vollkommen unzweideutig bereits mit dem geschrieben Buch gegeben. Es wäre sehr interessant zu wissen, wie Bab reagierte, als ihm die Besprechung vor Augen kam, ob Eloesser eine Erklärung hatte oder ob am Ende einfach die Redaktion eigenmächtig Anführungszeichen setzte.

Eloesser, so scheint es, hat hier keinen Ehrgeiz, Babs Buch im herkömmlichen Sinne zu besprechen. Am Ende steht der freundliche Satz: „Julius Bab gab uns ein Büchlein, das uns in wohltuender Weise warm macht und auch zu denken gibt.“ Bezüglich Spinoza: „Bab hatte hier keine fachlichen philosophische Forschungen zu treiben“, was ihn, mit Verlaub, bei all seiner Qualifikation wohl auch überfordert hätte. Für Eloesser war ein ganz anderer Aspekt, weitab von der philosophischen Bedeutung, wichtig: „Hier heißt es von den aus Spanien eingewanderten Marannen, mit denen ja auch Spinoza kam, dass sie seit drei Generationen in der christlichen Tradition lebten, dass sie dem Judentum, zu dem sie unter dem Chok der Verfolgungen zurückkehrten, gänzlich entfremdet waren.“ Dem Wissenden spricht Arthur Eloesser hier von sich selbst, ohne einer vordergründigen Gleichsetzung das Wort zu reden. „Das 20. Jahrhundert hat wieder seine Marannen.“ Deutlicher lässt es sich kaum sagen: Das 20. Jahrhundert produziert mit dem Schock der Verfolgungen, die Ende 1933, wir wissen es besser, verglichen mit späteren, noch fast keine waren, Rückkehrer zum Judentum. Plötzlich fließt buchstäblich neues Licht auf fast alles. „Der Morgen“, das nebenher, brachte im Heft 1, April 1930, 6. Jahrgang 1930/31, eine Arbeit von Cecil Roth (5. März 1899 – 21. Juni 1970), später Herausgeber der Encyclopaedia Judaica, Titel: „Der Apostel der Marannen“.

Ein halbes Jahr verging, ehe sich Eloesser erneut als Buchkritiker im „Morgen“ präsentierte. Es galt dem ersten Erzeugnis der Jüdischen Buchvereinigung, die später auch „Vom Ghetto nach Europa“ herausbrachte, das letzte Buch des Kritikers. Es geht um den Roman „Eine Zeit stirbt“ von Georg Hermann (vgl. meine Darstellung „Arthur Eloesser und Georg Hermann“). Auch hier verweist der Kritiker nunmehr auf Verdienste für das deutsche Judentum, die er in frühen Aussagen zu Georg Hermann so nicht akzentuiert hätte. Dafür hält er sich am Vorwort Hermanns fest, „da wir nicht alle die früheren Romane in unserem Besitz oder in unserem Bewusstsein haben können“. Eloesser nennt nicht einmal die Titel dieser früheren Romane, ein indirektes Eingeständnis, das ihm früher sicher sehr peinlich gewesen wäre. Jetzt aber, nachdem am 28. Juli 1933 große Teile seiner soliden Bibliothek im Auktionshaus Max Perl versteigert worden waren, fehlte ihm vieles, was vordem der einfache Blick auf die eigenen Regale, der Griff nach einem schon besprochenen Buch ersetzt hätte. Hermann „einen späten Nachkommen unseres alten Nomadenvolkes“ zu nennen, wäre ihm auch nur anderthalb Jahre früher wohl kaum eingefallen. Jetzt, mit der Erfahrung seiner ersten Reise nach Palästina, über die er am 12. und am 15. Juni 1934 in der „Jüdischen Rundschau“ berichtet hatte, im Kopf, hat sich die neue Perspektive befestigt, denkt er in ihren Dimensionen und Assoziationen.

Komplette zwei Jahre später druckte „Der Morgen“ eine Buch-Besprechung von Hilde Cohn (Heft 4. Juli 1936) zu Eloessers „Vom Ghetto nach Europa“. Das war eine von insgesamt fünf Arbeiten Cohns, die sich zwischen März 1935 und März 1937 im „Morgen“ nachweisen lassen, je eine davon galt Stefan Zweig und Thomas Mann. Da der Name Hilde Cohn nicht selten genug war, sie heute zweifelsfrei zu identifizieren, es gibt allein mehrere Stolpersteine an unterschiedlichen Orten in Deutschland für eine Hilde Cohn, sind an dieser Stelle leider keine Angaben zu ihr als Autorin möglich. Sie sieht das Buch wohlwollend kritisch, merkt am Ende sprachliche Flüchtigkeiten, fehlerhafte Zeichensetzungen an, vermutet als Ursache dafür aber eine „technisch allzurasche Fertigstellung“. Für sie „leidet das an sich dankenswerte Unternehmen an der stofflichen Fülle, der zu wenig markante, unterscheidende Ordnungen mitgegeben wurden. Dem gebildeten Autor fällt bei der an sich hübschen, lockeren Art des Vortrags noch zu viel ein an Vergleichen, Assoziationen und Zitaten.“ Das ist ein überaus seltener Vorwurf an ein Buch, in der Regel fällt Autoren zu wenig ein, was dazu führt, dass sie ihre Einfälle zu Tode reiten. Cohn fragt zugleich, ob tatsächlich alle von Eloesser behandelten Autoren einem Weg „Vom Ghetto nach Europa“ zugeordnet werden dürfen: „Ist nicht ihre bloße Rassezugehörigkeit eine vorwiegend biographische Tatsache?“

Auch das ist bemerkenswert: eine jüdische Autorin stellt eine „Rassezugehörigkeit“ nicht in Frage. Die spärliche, dennoch durchaus vorhandene Rezeption des späten Eloesser-Buches, nach jetzigem Kenntnisstand ausschließlich in jüdischen Publikationen nachweisbar, darf somit auch in Relation zu Hilde Cohn und ihren Anmerkungen gelesen werden. Sie glaubt, dass das Buch vor allem für „den Leser, der mit ähnlichen Voraussetzungen wie der Autor an das Buch herangeht, sehr unterhaltsam sein kann.“ Womit ein verräterisches Wort eingeführt ist: Unterhaltsamkeit von Büchern gilt bis heute eher als Makel, wenn es um solche mit dem Anspruch geht, ernst genommen zu werden. Auch hier wird die Neugier, wie der Autor Eloesser auf seine Kritiker reagierte, wohl auf immer unbefriedigt bleiben. Die Flüchtigkeiten im Druck werden ihn geärgert haben, Probleme mit der Zeichensetzung gab auch schon in frühen Zeitungsbeiträgen, was an den Setzern gelegen haben kann. Wir können uns Blätter, die Botenjungen ausschickten, Manuskripte in die Redaktionen zu holen, heute nicht mehr vorstellen. Wir können uns aber auch Blätter nicht mehr vorstellen, die gegen Abend von Lehrern im Ruhestand aufgesucht wurden, die als Korrektoren beschäftigt waren. Ich habe solche noch gekannt. In der Ausgabe, die Hilde Cohns letzte Arbeit für den „Morgen“ enthielt (Heft 12, März 1937), findet sich auch Eloessers letzter Beitrag: unmittelbar hinter Cohn.

Ihrer heißt „Gehen und Kommen“, seiner „Eine Reise nach Jerusalem“. John Ervine (28. Dezember 1883 – 24. Januar 1971) hatte das Tagebuch einer Reise vorgelegt, deren Art und Umfang den Kritiker zweifeln ließ, ob sich früher darauf überhaupt ein Buch hätte aufbauen lassen. (Dass seine eigene Palästinareise 1934 viele Jahre nach seinem Tod ebenfalls zu einem Buch werden würde, wenngleich nur zu einem sehr schmalen, konnte er nicht voraussehen.) Ervines Werk habe in der englisch-amerikanischen Welt Aufsehen erregt, weiß Eloesser. Heute zählt so etwas immer als hinreichender Grund für einen Nachklapp im deutschen Feuilleton. Ob Eloesser ein früher Ahne des Verfahrens war, mag ich weder behaupten noch ausschließen. „Der Reisende ist Theaterkritiker am Observer und neuerdings auch Verfasser eines Lustspiels.“ Das ist insofern nicht ganz korrekt, als Ervine schon seit 1911 etliche Bühnenwerke verfasst hatte, auch einige der sieben Romane lagen 1937 bereits vor. Selbst eine Professur hatte er inne. „Mittelmeerreisen waren bis vor kurzem noch ein beschauliches Genießen mit Komfort und Bildung.“ Da mag Eloesser vielleicht an seine eigene Griechenland-Reise zusammen mit Bernhard Guttmann gedacht haben. Jetzt, reichlich zehn Jahre später, ist die Lage anders: „Das Mittelmeer hat sich nun gründlich politisiert, und die Orientalische Frage, wie man früher sagte, ist uns erheblich auf den Leib gerückt, nicht zuletzt uns Juden.“

Es ist durchaus vorstellbar, dass Eloesser hier bereits an seine zweite (und letzte) Palästina-Reise dachte, von der er Ende 1937 schwer krank zurückkehrte. Jetzt aber bereitet ihm der in Belfast geborene Ervine Lesevergnügen: Er „ist ein angenehmer Reisebegleiter schon durch seine Unbefangenheit und Bescheidenheit; so gibt er zu, dass er nicht griechisch kann, und wenn er Baalbek besucht, gesteht er, auch noch nicht einmal den Namen der hellenistischen Trümmergroßstadt gehört zu haben. Aber er liest, etwas zu zitatenfroh, unablässig während der Reise“. Das Lesevergnügen kommt für Eloesser auch aus einer empfundenen Kollegialität: „Lassen wir Ervine seine Liebhabereien und Abschweifungen, die manchmal in weitem Bogen um das Thema herumgehen. (Die Neigung dazu stammt wahrscheinlich aus seiner theaterkritischen Tätigkeit.)“ Wer wüsste das besser als eben der buchstäblich tausendfache Theaterkritiker Eloesser? Der referiert allerdings auch Ervines Bericht aus einem schmutzigen syrischen Dorf: „so eine Mutter braucht ein krankes wimmerndes Kind als Kapital, um Bakschisch daraus zu schlagen.“ Es steht zu vermuten, dass ein deutschsprachiger Neudruck des Ervine-Tagebuches heute nur mit einer modischen Triggerwarnung erfolgen würde, zu sehr steht es den Voreingenommenheiten aktueller Ideologieträger entgegen, wenn es um das Verhältnis von Arabern und Juden in der Region geht.

„Die Araber haben sich nicht befreit, mein Ervine, sondern sie sind von den Engländern befreit worden. Wenn sie die türkische Herrschaft dafür verantwortlich machen, dass Palästina verkam, so sollten sie jetzt zeigen, was sie können, und das Arbeiten bei den Juden lernen. Die Juden sind auch wieder Bauern geworden, wie sie es in biblischen Zeiten waren, und sie hörten auf, es zu sein nicht anders als die Iren, die sich nicht zu ihrem Vergnügen von der Scholle lösten“. 1934 und 1937 konnte Eloesser sehen, wie die Rückverwandlung bei Emigranten aus Deutschland und Europa in diesem Besiedlungsgebiet aussah, sein eigener Sohn Max war diesen Weg gegangen. Nun beendet er seine Betrachtung zu John Ervines Buch so: „Palästina, so heißt es am Schluss, braucht die Initiative der Juden und die Dauerhaftigkeit des Arabers; dann wird es aufblühen wie eine Rose. Ich denke, dass unser Glaube nicht geringer sein darf.“ Darf man das einen frommen Wunsch nennen, auch wenn ihn ein durchaus unfrommer Mann niederschreibt? Im Leben von Arthur Eloesser schreibt die Zeitschrift „Der Morgen“ nur ein ganz kleines Kapitel, vielleicht nicht einmal mehr als einen Abschnitt in einem Kapitel. Womit er sich für sie beschäftigte, waren drei Bücher, von deren Autoren er zwei persönlich gut kannte. Und Zeile für Zeile war er es auch selbst in seinen späten Lebensjahren, von denen er nicht ahnte, dass es seine letzten waren. Am 14. Februar 1938 starb er.


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