W. Somerset Maugham: Books and You

Ich weiß nicht, ob es eine literaturhistorische Statistik gibt, die verzeichnet, welchen Autoren (und Autorinnen) es in ihrem Leben gelang, etwas zu erreichen, was man finale Gelassenheit nennen dürfte. Ich weiß, dass man nach den Regeln von Onkel Herbert und Tante Sidonie nicht mit „ich“ beginnen sollte, was freilich jedermann schwer fällt, der ein Ich in sich zu empfinden meint. Den Briten William Somerset Maugham halte ich für einen Menschen, der finale Gelassenheit erreichte. Es wäre zu erkunden, wann er dies Stadium erreichte, ob er es sofort an sich selbst bemerkte oder andere ihn darauf aufmerksam machen mussten (was ich eher nicht glauben möchte). Er selbst hat in dem Buch, dessen Titel ich obenan setzte, irgendeiner musste es sein, Balzac als denjenigen benannt, der „als erster Schriftsteller die Bedeutung des Ökonomischen“ erkannte. Bei Marx und seinen Musterschülern gedieh daraus ein „Balzac-Effekt“ des Realismus von hinten durch die Brust ins Knie, nachdem der Bärtige aus Trier selbst den Franzosen einfacher als Demonstrationsobjekt für eigene Theoreme der Politischen Ökonomie heran- und herumgezogen hatte. Warum auch nicht?

Es lässt sich die Arbeitshypothese aufstellen, dass die erwähnte finale Gelassenheit etwas zu tun hat mit dem Kontostand bei der Hausbank und andernorts. Um es überdeutlich zu sagen: Wer sehr wohlhabend ist oder gar reich, kann es sich nicht nur besser leisten, ständig beim Biobauern das Fleisch zu kaufen, das mit Mozart-Musik aus der Stereo-Stallanlage ausreifte, er kann auch Dinge gelassen sagen, denken und tun, die andere zu einer Risikoabwägung drängen würden. „Books and You“ ist ein Buch phänomenaler Gelassenheit. Es wagt nicht nur einfache Sätze, es wagt einfache Gedanken im sicheren Wissen, dass es Menschen gibt, die bei einfachen Gedanken in einfachen Sätzen sofort zu allergischen Reaktionen neigen wie fixiertem Stirnrunzeln und verächtlichem Mundwinkelzucken. Zum Beispiel ist Maugham der Ansicht, dass Lesen Vergnügen bereiten solle. Das wiederholt er mehrfach, obwohl ihm, wie er ebenfalls mehrfach wiederholt, nur eine begrenzte Menge Platz zur Verfügung stand. Denn die drei großen Abschnitte des Buches standen zunächst in einer Zeitschrift, bevor sie mit dem eigens geschriebenen Vorwort zwischen Buchdeckeln landeten.

Es ist nicht schädlich, „Books and You“ der Reihe nach von vorn bis hinten zu lesen, doch auch die Lektüre in anderer Abfolge dürfte kaum bleibende Nebenwirkungen hinterlassen. Das Buch hat, welch wunderbare Idee des Verlages (Diogenes Zürich), ein Personen-Register. Man kann also sogar gezielt herumsuchen, um das Bändchen nach entsprechenden Fundstellen beiseite zu legen. Man wird, wenn man aus der erzpatriotischen Ecke hineinschaut, erschrocken feststellen, dass Maugham nur einem einzigen deutschsprachigen Autoren Platz eingeräumt hat: Goethe. Was er da schreibt, bereitet, was er vom Bücher-Lesen generell forderte: Vergnügen. „In einem Kreis von Berliner Intellektuellen erregte ich einmal größtes Erstaunen, als ich meine Bewunderung für Wilhelm Meister zum Ausdruck brachte. Keiner von ihnen hatte das Buch gelesen, denn man hatte ihnen zu verstehen gegeben, dass es unsäglich langweilig sei.“ Als er die Verächter nach ein paar Monaten wieder traf, hatten sie das Buch gelesen und lachten nicht mehr über den seltsamen Engländer. „Meiner Meinung nach ist es ein sehr interessantes und bedeutsames Buch.“ Schreibt er.

Die Literarische Welt, damals noch wöchentlich im Blatt mit separater Seitenzählung und Spalten über die volle Seitenlänge, die neue Bücher kurz und knapp vorstellten, informierte ihre Leser so über „Books and You“: „Völlig unprätentiös preist W. Somerset Maugham in seiner „persönlichen Geschichte der Weltliteratur“ Klassiker an. Noch den geringsten Hauch von Bildungshochmut hat er aus seiner Sprache getilgt und wirbt doch beredt für die Literatur: „Sich das Lesen zur Gewohnheit zu machen, heißt, sich einen Ort zu schaffen, an dem man sich vor fast allem Elend des Lebens zurückziehen kann.“ Maugham tritt entschieden ein für den Anspruch des Lesers auf Lektürevergnügen: „Für meine Begriffe wäre man schlecht beraten, das Lesen als Pflicht zu betrachten. Lesen ist ein Vergnügen, eines der größten, die das Leben zu bieten hat. Die Auswahl der Autoren, die Maugham empfiehlt, ist konventionell: Dickens gehört dazu, Austen, Goethe, Dostojewski, Tolstoi, Balzac, Stendhal, Flaubert. Aber wie er sie rühmt ist lehrreich, da er als Autor großes Augenmerk auf die handwerklichen Fragen des guten, unterhaltsamen Erzählens legt.“

Leider hat uns der Kritiker nicht mitgeteilt, wie für ihn eine unkonventionelle Klassiker-Liste hätte aussehen müssen. In den paar Zeilen, die er sich gönnte, wäre das freilich auch gar nicht möglich gewesen. Das Wort konventionell allein reicht in Deutschland, demonstratives Desinteresse auszulösen. Dabei ist, noch einmal zu Goethe, Maughams kurze Charakteristik des Wilhelm Meister doch, gemessen am konventionellen Bild, fast eine Provokation: „Es ist der letzte der Romane der Empfindsamkeit des achtzehnten Jahrhunderts, der erste der romantischen Romane des neunzehnten und Vorläufer der autobiographischen Romane, … Die Hauptfigur ist so farblos wie die Hauptfiguren der meisten autobiographischen Romane.“ Maugham fabuliert dann darüber, woran es denn liegen könnte und hält für sich fest: „Aufregende, nichtalltägliche und romantische Dinge erleben anscheinend immer nur die anderen.“ Er auf der einen Seite von Picadilly Circus, das tolle Leben auf der anderen. Wir wissen, dass es ganz so nicht war für ihn, siehe dazu auch mein „W. Somerset Maugham: Lord Mountdrago“ (www.eckhard-ullrich.de; Jahrestage, 16. Dezember 2015).

Der schon erwähnte Untertitel von „Books and You“ lautet vollständig „Eine kleine persönliche Geschichte der Weltliteratur“. Diese Geschichte ist dreigeteilt: Englische Literatur, Europäische Literatur und Amerikanische Literatur. Europa also, zu dem England in dieser Perspektive nicht gehört, flankiert von England (England First, würden heutige Brandredner fordern und rufen) und Amerika. Wir wollen darob nicht unglücklich sein: „Deutschland, Deutschland über alles“ sang lange vor unseren eigenen Brandrednern ein deutscher Urdemokrat. Und letztlich geht es um das, was dieser William Somerset Maugham zu den einzelnen Namen und Buch-Titeln zu sagen hat. Zu Goethe war es klar und deutlich: „die Wanderjahre kann ich nicht empfehlen, sie sind unerträglich“, zu allen anderen ist er immer ähnlich klar und ähnlich deutlich. Er findet und erfindet Superlative. Es wäre längst Zeit, eine ellenlange Abhandlung über Kritiker-Superlative „im Wandel der Zeiten“, über „Fluch und Segen“ des Kritiker-Superlativs oder was dergleichen erzoriginelle Titelfindungen sein könnten, zu Papier zu bringen. Es lohnt sich, eine Blütenlese solcher Sätze zu versammeln.

Über Daniel Defoe: „Keinem englischen Schriftsteller sind echtere Figuren gelungen als Defoe.“ Über Jonathan Swift: „Niemand hat das Englische, diese schwere Sprache, je klarer, konziser und natürlicher geschrieben als Swift.“ Über Henry Fielding: „Tom Jones ist wohl der stärkste Roman der englischen Literatur.“ Über Shakespeare, um den es eigentlich gar nicht geht: „Er ist nicht bloß der größte Dichter aller Zeiten, sondern der Ruhm unserer Nation.“ Über Cervantes und seinen Ritter von der traurigen Gestalt: „Nie hat die menschliche Phantasie eine Figur erschaffen, die großherzige Naturen so tief beeindruckt.“ Über Leo Tolstoi: „Er zeichnete das Porträt eines ganz natürlichen, charmanten, lebhaften jungen Mädchens, der vielleicht zauberhaftesten Heldin der Romanliteratur...“. Über Dostojewskis Brüder Karamasow: „Ich kenne keinen Roman, in dem menschliche Größe und Niedertracht so meisterlich vorgeführt werden ...“. Zur französischen Literatur: „Sie ist die reichste und mannigfaltigste der Welt“. Über Voltaires Candide: „Noch nie hat jemand mehr Witz, mehr Spott, mehr schelmische Einfälle, mehr Verstand und mehr Späße in ein so schmales Buch gepackt.“ „Alles in allem dürfte Balzac der größte Romanautor aller Zeiten sein.“

Man könnte alle diese Urteile apodiktisch nennen, einem Internetportal wie nachtkritik.de wäre das Grund genug, jede Zusammenarbeit mit einem potentiellen Kritiker a la Maugham für immer abzulehnen. Auch der selige Marcel Reich-Ranicki war der unglückseligen Meinung, man müsse seine Urteile auf den Punkt bringen. Den Meistern des sowohl-als-auch, des vielleicht und womöglich, des aber und des unter Umständen ginge dies alles gegen den Strich, der in ihrem Falle freilich stets eine unterbrochene Wellenlinie ist. „Reichere Schöpfungen der komischen Phantasie hat unsere Zeit nicht gesehen“, behauptete Maugham über Proust. „Poe schrieb die schönsten Gedichte, die je in Amerika geschrieben wurden.“ Man könnte als ein allerdings marginales Fazit in diesem Zusammenhang festhalten: Zur amerikanischen Literatur hat Maugham kaum Superlative parat. Er führt schon damit ein, dass die amerikanische als eine noch sehr jungen Literatur mit mehr Zurückhaltung, mit vorläufiger Nachsicht zu behandeln ist. „Ich selbst habe beschlossen, mich nicht hinreißen zu lassen, einen Bestseller innerhalb von zwei oder drei Jahren nach Erscheinen zu lesen.“

Würden sich professionelle Kritiker auf einen solchen Standpunkt stellen, würden die Marketing-Bosse der großen Verlage reihenweise aus ihren Bürofenstern springen. Ein neues Buch muss heute möglichst innerhalb einer Woche, maximal zehn Tagen, in allen wichtigen Feuilletons und allen noch viel wichtigeren Werbe-Verkaufsshows für Bücher im öffentlich-rechtlichen Fernsehen präsent gewesen sein, sonst verfällt es der Zweitverwertung, ehe die Erstverwertung richtig begann, sprich, das Buch taucht als Mängelexemplar im entsprechenden Distributionsverkehr auf. Graham Greene, der einmal auch über Maugham schrieb, schrieb unbarmherzig: „Finanzielle Sorgen sind selten die Voraussetzung für hervorragende Leistungen.“ Leider hat er niemals über Jakob Wassermann geschrieben, es wäre „the proof of the pudding“ geworden. Auch wenn Greenes Meinungen zu W. Sommerset Maugham wenig Platz beanspruchen, sie wären besonderer Würdigung wert. Nur hat er eben „Books and You“ nicht erwähnt, weshalb er hier vorerst die Bühne verlassen muss. Dafür bekommt Hilde Spiel, Grande Dame des österreichischen Feuilletons, hier ihren kurzen Auftritt.

Sie hat mit sicherem Griff ein Maugham-Zitat gefunden, das auch nicht in „Books and You“ zu finden ist: „Das beste Kompliment, das man mir jemals gemacht hat, kam von einem amerikanischen Soldaten in Neu-Guinea. Er teilte mir mit, dass er eben einen meiner Romane gelesen habe und kein einziges Wort habe im Lexikon nachschlagen müssen. Darum hat mein Stil sich gehalten. Nur ein schöner Stil wird unmodern.“ Ansonsten folgt Hilde Spiel geradezu auf verblüffende Weise Graham Greene, ohne selbigen auch nur zu erwähnen. Und weil sie seine Sammlung „Sämtliche Essays“ sehr verschnupft ebenfalls besprach, können wir unser Bild dahingehend abrunden, dass sie dort den Namen Maugham nicht erwähnte als Gegenstand eines jener Essays. „Die Natur hat ihm viel versagt. Er rächte sich an ihr, indem er sich seine eigene Welt konstruierte, in ihr Befriedigung fand und sie dazu noch profitabel verkaufte.“ Für die Harten im Garten sei noch erwähnt, dass Maugham eine Art Langfassung von „Books and You“ unter dem Titel „Zehn Romane und ihre Autoren“ als Buch in Umlauf brachte, beginnend mit Henry Fielding.

Für diese Essay-Sammlung schrieb er eigens auch eine Einleitung mit dem Titel „Die Kunst des Romans“. Diesen Titel gab es preiswert bei Henry James, der wiederum seine Essay-Sammlung „Die Kunst des Romans“ mit einem Kapitel über „Die Zukunft des Romans“ ausstattete, ehe er sich seinen Autoren zuwandte, die nur teilweise mit denen von Maugham übereinstimmen. Wem es dann immer noch nicht reicht, bevor er endlich einen der 27 Romane von W. Somerset Maugham zur Hand nimmt, dem sei final das „Notizbuch eines Schriftstellers“ ans Herz gelegt, dort gibt es einen 80 Seiten langen Essay von Thomas und Simone Stölzl über den „Gentleman-Autor“. Der vom Roman „Der Amerikaner“ von Henry James übrigens schlicht schrieb: „Die Figuren sind keine Menschen, die Männer gleichen gestärkten Hemden und die Frauen Krinolinen.“ Hier hätte der Soldat in Neu-Guinea vielleicht doch nachschlagen müssen: Was sind Krinolinen? „Pathos ist immer Glückssache. Wenn es gutgeht, erreicht man den Gipfel, wenn nicht, fällt man ins Lächerliche.“ Wirklich schade, dass Maugham an unserem Jakob Wassermann vorbeigeschaut hat.


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