Schüler Arthur Eloesser
Aus vollen Archiven schöpfen, Zugang zu Briefkonvoluten erhalten, die bisher unter Verschluss standen, letzte Zeitzeugen sprechen – das sind Bedingungen, unter denen jeder Autor, der denn überhaupt ins Biographische steigen will, sein Tagewerk freudig beginnen wird. Was aber, wenn nichts davon zur Hand ist, Archive vernichtet, Nachlässe verbrannt, Zeitzeugen längst verstorben sind, gar nicht von denen zu reden, die ermordet wurden? Man kann Verzicht üben. Man kann auch so tun, als ließe sich aus der Hälfte eines Briefwechsels die nicht überlieferte andere rekonstruieren, obwohl der überlieferte Teil so gut wie nie auf den nicht überlieferten eingeht. Wir nennen keine Namen, obwohl der schwerwiegendste auf der Hand liegt wie von Stein. Arthur Eloesser, geboren am 20. März 1870, erlebt die ersten 48 Jahres seines Lebens im jungen, bald nicht mehr ganz so frischen deutschen Kaiserreich, drei Kaiser agierten in der Geburtsstadt Berlin ihre jeweilige Zeit, es gab einen eisernen Kanzler, dann weitere, die etwas weniger metallisch daher kamen. Das Interesse an Bismarck, das Interesse am dritten der drei Kaiser hat Eloesser nie verloren. Man kann es als Interesse an der eigenen Kindheit und Jugend deuten. Man ist als Historiker und Kritiker an Umständen interessiert, die einen prägten, falls man nicht für alles nur Ideen verantwortlich macht.
In seiner von mir nun schon so oft zitierten zweibändigen Literaturgeschichte „Die deutsche Literatur vom Barock bis zur Gegenwart“, Band II, „Von der Romantik bis zur Gegenwart“ (Berlin 1931 bei Bruno Cassirer) gibt es das Kapitel X, „Die literarische Revolution“. Es beginnt zu den Stichworten „Im neuen Reich. Schule und Haus“. „Der junge Mensch, der in Deutschland und besonders in Preußen zwischen 1860 und 1870 geboren war, ging in eine Schule, die mit ihrem alten philologischen Betrieb vordem etwas weltfremd zu Hellas und Rom gehört hatte, die aber nun, von dem Staatsgedanken mächtig beherrscht, dem neuen Reiche tüchtige, zuverlässige Staatsbürger erziehen sollte. Die Antike war das Lehrbuch für staatlich abgenommene Bildung, die Kenntnis der klassischen Sprachen die Voraussetzung für alle Prüfungen und höheren Laufbahnen. Das andere Lehrbuch war die Bibel, mit ihrer Kompetenz mehr auf die private Moral eingeschränkt, die sich im übrigen von selbst verstand.“ Zwanzig Jahre früher, 1911, hatte Arthur Eloesser zu einem Buch beigetragen, einem Sammelwerk, in dem der Herausgeber Alfred Graf (30. April 1883 – 24. November 1960) Erlebnisse und Urteile namhafter Zeitgenossen unter dem Titel „Schülerjahre“ zusammentrug, veröffentlicht 1912 in Berlin-Schöneberg, Fortschritt (Buchverlag der „Hilfe“).
Ohne sehr konkret zu werden, es fällt kein einziger Name, kein einziges Datum ist genannt, bezieht sich Eloesser ausschließlich auf die beiden Berliner Gymnasien, zu denen er Erfahrungen vorweisen kann. Nicht einmal die Namen der Gymnasien werden genannt, die offenbar obwaltende Vorsicht ist übergroß. Wir wissen, dass er von 1883 bis 1888 das Sophiengymnasium besuchte, das nach der Gründung 1865 zunächst in der Großen Hamburger Straße 2 seinen Sitz hatte, dann rasch in einen Neubau in der Weinmeisterstraße 15 umzog. Den Turnhallen-Neubau 1904 in der Steinstraße erlebte Eloesser nicht mehr als Schüler. Auf alle Fälle hatte er von der Prenzlauer Straße 26, wo die Familie wohnte, keinen weiten Schulweg. Der Wikipedia-Eintrag für das Gymnasium führt Eloesser unter den bekannten Schülern, er nennt auch eine stattliche Anzahl von Lehrern. Man könnte unter denen solche namhaft machen, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch seine Lehrer waren. „Unter den Lehrern habe ich im wesentlichen zwei Typen beobachtet: den des philologischen Drillmeisters und Pedanten, der uns die Antike verekelte, und den modernen des Reserveleutnants, der Schneidigkeit und Patriotismus in geräuschvollen Phrasen verbreitete. … Die allerschlechtesten und die allerbesten Erinnerungen habe ich an die Lehrer der Mathematik und Naturgeschichte“.
In der Literaturgeschichte heißt es: „Der Religionslehrer, der eigentlich nicht zum Gymnasium gehörte, rangierte nicht höher als der Zeichenlehrer oder der Musiklehrer. Diese Generation wuchs ohne Musik heran und ohne Religion, wenn sie nicht als die der deutschen Vorsehung ausgelegt wurde … der eiserne Kanzler galt den Lehrern der Jugend als unfehlbar, war schon zu Lebzeiten eine legendarische Figur.“ Dazu passt, was Arthur Eloesser am 27. Januar 1925 in der „Weltbühne“ erscheinen ließ unter der Überschrift „Ein Journalist“: „Vor vielen Jahren kamen wir, einige Sekundaner, in einem berliner Hause zusammen, das sich, wenigstens für mich, dadurch auszeichnete, dass darin Musik gemacht wurde. Musik, das war für unsre Eltern die „Hugenotten“ und „Madame Angot“, für uns Jungen die Wachtparade, für unsre Schwestern die Klavierlehrerin und der tückische Klaps auf die steif gespielten Finger. Um mich keiner Geringschätzung auszuliefern, ich bin natürlich später trotzdem musikalisch geworden, aber damals schien mir eine Kunst schon dadurch komisch, dass die Genießenden dazu ein so verklärt andächtiges, die Ausübenden ein geradezu verzweifeltes Gesicht machen mussten.“ „Madame Angot“ war eine Oper von Charles Lecocq, am 4. Dezember 1872 uraufgeführt. „Die Hugenotten“ waren etwas älter.
Vor allem aber waren sie von Giacomo Meyerbeer (5. September 1791 – 2. Mai 1864), am 29. Februar 1836 uraufgeführt. Und der gehört bei Eloessers gewissermaßen zur Familie. Man lese dazu W. Michael Blumenthals „Die unsichtbare Mauer. Die dreihundertjährige Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie“, insbesondere das fünfte Kapitel. „Als höchst Erlaubtes galt dem denkenden jungen Berliner und Sekundaner ernste männliche Sammlung, und so fühlte ich mich erst nach verübter Musik sicher, wenn wir Jungen uns mit einem Glas Tee – man denke: Tee statt Weißbier – zurückziehen durften, um höhere geistige Gesichtspunkte zur Debatte zu stellen. Manchmal wurden auch eigne Gedichte gemeinsamer Kritik ausgeliefert, ohne Dichterei wären wir unvollständige Jünglinge gewesen, das kostete mich eine fürchterliche Anstrengung.“ Nebenher also auch das Geständnis, selbst Gedichte geschrieben zu haben. In „Schülerjahre“ hieß es 1912 dazu: „Das Schülermaterial war von geringer Qualität, bezeichnet durch geistige Unselbständigkeit, Unregsamkeit und eine trübe seelische Dumpfheit. Irgendwelche, nicht vorgeschriebene Interessen habe ich nur bei den lebhafteren jüdischen Mitschülern wahrgenommen, die literarischen und künstlerischen Neigungen nachgingen.“ Seine Zugehörigkeit zu ihnen bekennt er hier nicht explizit.
„Ich bin ein Anhänger des humanistischen Gymnasiums trotz meiner Erfahrungen; die griechischen Tragiker wurden so gründlich behandelt, dass wir in zwei Jahren genau ein Viertel des rasenden Ajax lasen. … Ebenso mangelhaft war der Unterricht im Deutschen, und es bedurfte einer starken eigenen Passion, um die Liebe zu unseren großen Dichtern gegen die Schule zu erhalten.“ Solche Wirkungen der Schule haben sich vollkommen systemunabhängig in Deutschland stets lebendig gehalten, Schriftsteller in Ost und West bekundeten es. „Vertrauen zum Lehrer war so gut wie nie vorhanden; wir standen im Verhältnis des Sklaven zu seinem Aufseher“. Woraus sehr viel später die Position des Vertrauenslehrers erwuchs mit der schönen Aufgabe, eigenen Vertrauensaufbau in der Schülerschaft den Kollegen zu ersparen. In der Literaturgeschichte steht: „In der Schule wurden nächst der Antike die deutschen Klassiker, wenigstens Lessing, Goethe, Schiller gelesen, die dann Heinrich von Kleist als patriotischer und wehrhafter Dichter zu ergänzen hatte; die drei Großen wurden philologisch durchgenommen, nicht viel anders als Homer, Herodot, Sophokles, ohne Andeutung, dass sie in einem Weltreich des Gedankens und der Humanität gewohnt hatten, ohne Folgerung, dass sie uns eine Erbschaft hinterlassen hatten, die auch eine Verpflichtung enthielt.“
Und wieder 1912: „Die Schule, die den geistig Anspruchsvolleren nichts zu bieten wusste, hat bei ihnen einen Zustand hochmütiger Faulheit hervorgebracht, der in den akademischen Jahren erst sehr allmählich nachgab.“ Ob Arthur Eloesser das Thema auf sich selbst bezogen je vertiefte, ist derzeit nicht bekannt. Immerhin enthält es ein Selbstbekenntnis über eigene akademische Jahre in Berlin und Genf. „Die Erzieher der Jugend, die sich nach 1870 immer mehr als Offiziere in Zivil fühlten, verharrten im Grund auf dem Standpunkt von Johann Gottfried Gervinus, als er das vorläufige Ende der deutschen Literatur auf den Tag von Goethes Tode festsetzte.“ Als Zäsur seiner beiden Bände nimmt auch Eloesser Goethes Tod und ist dabei keineswegs allein. „Der Schule, die der erste Zivildienst vor dem militärischen und vor dem staatspolitischen der Universität war, entsprach das Haus.“ 18 Jahre vorher: „Die Angst vor dem Lehrer gründete sich auf die Angst vor dem Vater, der über schlechte Zensuren und Strafzettel mit den üblichen Hausmitteln quittierte. Das war das Zusammenwirken von Schule und Familie mit dem Resultat ziemlich allgemeiner Verstumpfung und Verschüchterung.“ Immerhin: „In jedem achtbaren Hause war noch die Klassikerbibliothek, dazu eine Weltgeschichte und ein Konversationslexikon als die Bürgschaften der Bildung.“
Die ausführlichste zusammenhängende Darstellung eigener Schul- und Schülerjahre aber gab Arthur Eloesser erst 1934. Da schrieb er für die „Jüdische Rundschau“ die „Erinnerungen eines Berliner Juden“ in insgesamt acht Folgen. Ich verweise dazu auf meinen reichlich zwei Jahre alten Text in meiner Rubrik BÜCHER BÜCHER (https://www.eckhard-ullrich.de/buecher-buecher/4509-arthur-eloesser-erinnerungen-eines-berliner-juden). „Die Schule“ war Thema am 26. Oktober (Nummer 86) und am 2. November 1934 (Nummer 88). Der Gesichtspunkt war nun, fast zwei Jahre nach Hitlers Machtantritt, gezwungenermaßen ein gänzlich anderer. „In den jüdischen Familien herrschte immer noch ein starker sozialer Ehrgeiz oder Auftrieb … die Hoffnungen der Eltern gingen gewöhnlich höher als auf eine bloße Versorgung ...“. Bekannt klingt: „Wenn die jüdischen Schüler, wenigstens die aus sozial schon gehobenen Familien, etwas gemeinschaftlich hatten, so waren es literarische und künstlerische Neigungen“. Hoffnungslose Talentlosigkeit und Abneigung gegen die Mathematik attestiert sich der zurückblickende Eloesser 1934. „Ich kann nicht sagen, dass wir jüdischen Schüler zusammenhielten; Juden haben immer etwas aneinander auszusetzen. … Wir waren alle weicher erzogen als unsere Umgebung, wir stammten aus einer urbaneren Rasse“
„Wir waren gewohnt, mehr Anteil aneinander zu nehmen, mehr ineinander hineinzusehen: jeder Jude möchte, dass der andere weiß, wie ihm zumute sei“. Jüdischen Religionsunterricht gab es erst ab Prima und der Lehrer, an den Eloesser gern zurückdachte, „kam weder von Mose und den Propheten noch überhaupt von unserer alten Geschichte her, sondern einmal von Spinoza, einmal von Kant, an dem ich mich damals mit sehr unzureichenden Kräften versuchte“. Den Abschnitt zur Schule beendet Eloesser mit einer Referenz an einen Schuldirektor, der ihm wohlgesonnen war. Der sagte zu ihm: „Oh, oh, lieber Freund, ich sehe Sie schon als Journalist. Worauf ich nicht ohne hochmütige Ablehnung sehr fest erwiderte: Ich werde Professor der Geschichte!“ Geklappt hat das nicht, nicht einmal das Studium wurde, was es werden sollte. „Auf meinem Abiturientenzeugnis – ich hatte in einer mittleren Klasse die Schule gewechselt – stand am Schluss: Er verlässt die Schule, um Geschichte zu studieren.“ Ganz falsch war das dennoch nicht, auch wenn immer mehr die Literaturgeschichte ins Zentrum rückte, wurde aus Arthur Eloesser kein Schmalspur-Philologe. Ob er als Professor den Spuren seines akademischen Lehrers Erich Schmidt gefolgt wäre oder nach eigenen Wegen gesucht hätte, wissen wir nicht. Er wurde, wie der Schuldirektor ahnte, Journalist.