Heinz Drewniok: Die Sau

Sie, die Sau, spielt im Stück des am 6. August 1949 geborenen und am 28. August 2011 im Alter von nur 62 Jahren schon wieder verstorbenen Autors Heinz Drewniok eine untergeordnete Rolle. Auf die Bühne schafft sie es ohnehin nicht, sie ist nicht der Pudel, mit dem Caroline Jagemann den langjährigen Weimarer Intendanten Goethe zum Aufgeben bringt, sie ist noch nicht einmal etwas wie ein echter Katalysator. Die Sau soll geschlachtet werden, den Anlass liefern für eine in den Augen des Vaters glaubhafte Einladung an den Sohn Günter. Denn früher gab es immerhin echte Schlachtfeste, wie sie ein ordentliches Dorf alljährlich mit sich bringt und feiert. Diese Sau des im schlesischen Gleiwitz (Gliwice) geborenen Dramatikers flüchtet zu allem auch noch, ehe sie dem Metzger ans Messer geliefert werden kann. Sie findet sich dann aber wieder von selbst an und wird, als Pointe kaum ansprechbar, auch tatsächlich geschlachtet. Da aber ist die eigentliche Geschichte schon wieder vorbei, die Sau hat ihre Schuldigkeit getan, die Sau kann gehen. Und weil sie im Titel war und weil sie Aktionen auslöste, ohne die ein Stück dann doch nie zur Gänze auskommen kann, ist alles in Ordnung. 2011 trauerten um Heinrich Peter Drewniok, so der vollständige Name, öffentlich Ulrike Wolf und Michael Rötzsch stellvertretend für den Mitteldeutschen Rundfunk.

Wie das danach mit dem ehrenden Andenken wurde in Leipzig und Dresden, weiß ich nicht zu sagen. An Goethes Geburtstag zu sterben, ist immer gedenkschädlich. Immerhin, die Ursendung des Dreipersonenspiels, das eigentlich nur ein Zweipersonenspiel ist und damit einer bestimmten Vorliebe des Autors entspricht, ist bis heute in der ARD-Hörspieldatenbank verzeichnet. Sie war am 16. November 1985 auf „Stimme der DDR“ 45'27 Minuten lang zu hören, Regie Horst Liepach, es sprachen den Vater Horst Hiemer (22. April 1933 – 4. Juli 2023), den Sohn Günter Henry Hübchen (geb. 20. Februar 1947, lebt noch), dessen Frau Karin Schröder (geb. 7. April 1942, lebt auch noch, auf ihrer Wikipdiaseite fehlt dieses Hörspiel). Es ist sehr viel von Wahrheit die Rede im Spiel, gemeint sind Wahrheiten der beteiligten Personen, die nur ihre Wahrheiten sind, wie sich bald zeigt. Zwischen Sohn und Vater scheint ein eher gespanntes Verhältnis zu herrschen; weder offenbart sich in den wichtigsten Dingen des Lebens der Vater dem Sohn noch umgekehrt. Der Vater, dem die Frau starb, der seither allein im großen Haus auf dem Dorf lebt, möchte das Haus verkaufen und zu seinem Sohn ziehen für die restlichen Jahre seines Lebens. Wir erfahren nicht, wie alt er ist. Nur vom Sohn Günter hören wir, dass er noch 37 Jahre alt ist, er würde gern mit Frau zum Vater ziehen.

Denn er hat in seinem Berufsleben, von dem wir ebenfalls nichts erfahren, als dass ihm ein neuer Vorgesetzter bescheinigt, mit seinen Leistungen nicht zufrieden zu sein, einen Punkt erreicht, der eher Fluchtgedanken als Motivation für bessere Leistungen auslöst. Das weitgehend leerstehende Haus des Vaters sieht plötzlich wie eine Alternative aus, das eben noch verpönte öde Landleben gewinnt in der Krisenphantasie ungeahnten Farben. Der Vater dürfte DDR-Üblichkeiten folgend kaum älter als Mitte 60 sein, sein Gesundheitszustand, das wird nur angedeutet, ist nicht der beste, was aber kaum etwas besagen muss. Nicht körperliche Hinfälligkeit, nicht einmal die Einsamkeit seit dem Tod der Frau treiben ihn an oder doch nur, indem sie ihm Zwangsvorstellungen einflößen. Er glaubt Stimmen, seine Frau im Haus ihr Wesen oder Unwesen treiben zu hören. Seinem Sohn gegenüber hat er Anflüge von schlechtem Gewissen, wenn er auch von seinen Überzeugungen erst einmal keinen Deut abzurücken bereit ist. Der Sohn sieht im Vater vor allem den Egoisten, der immer zuerst an sich selbst denkt, der einst auch seine Frau ohne große Heimlichkeiten betrog. Sohn Günter durfte den Vater einmal sogar zu Frauen begleiten, Einzelheiten breitet Drewniok dazu nicht aus. Der Vater sieht sich noch immer als Macher, als Stärkeren, den Sohn als Schwächling.

Eine wirklich gute Basis für ein neues, ein spätes Zusammenkommen ist das natürlich nicht. Aus heutiger Sicht will es scheinen, als ob Heinz Drewniok, ohne die DDR auch nur mit einer Silbe zu erwähnen, ohne irgendwelche Sozialismus-Indikatoren unauffällig zu verbauen, vorführt, dass die Menschen in dieser DDR, in diesem Sozialismus auf deutschem Boden, nicht anders sind als andere auch. Die neuen Menschen, von denen um so mehr gesprochen wurde, je weniger sie im wirklichen Leben als solche zu erkennen waren, die gab es offenbar gar nicht. Dem Auge des aus einem Sozialismus in Polen in einen anderen gewechselten Dramatikers und Hörspielautors zeigte sich Menschliches, Allgemeinmenschliches, weniger das Allzumenschliche, das gern wie ein Anhang des Menschlichen genommen wird. Der Vater träumt von Beförderungen des Sohnes, von Karriere, wie das zu DDR-Zeiten gar nicht hieß. Der Vater will gern mehr scheinen als sein, seinem Sohn dichtet er für fragende Nachbarn an, er sei Werkdirektor, obwohl er bestenfalls Bereichsleiter oder Abteilungsleiter sein dürfte. „Man muss immer was machen im Leben, Günter. Nicht hinsetzen und in die Luft gucken. Nicht müde werden. Jede Gelegenheit nutzen. Für sich, erstmal für sich.“ Sagt der Vater zum Sohn, „Ordnung muss sein, Günter. …War sowieso alles anders, früher. Besser.“

„Der Zweifel – der macht dich klein und hilflos. … Das Wichtigste, du darfst nicht noch dein eigner Feind werden.“ Mit solchen Maximen will der Vater den Sohn aufrichten, der aber in plötzlicher Ehrlichkeit sich selbst gegenüber einräumt: „Es stimmt, dass ich meinen Hintern breitgesessen habe!“ Vor allem Peter Reichel (Jahrgang 1939), der in jungen Jahren zu Gottfried Benns gereimter Weltanschauung publiziert hatte und sich danach auf jüngere und junge DDR-Dramatiker und ihre Werke spezialisierte, kann als eine Art Mentor für Drewniok angesehen werden. Er verfasste das Nachwort zur ersten und einzigen DDR-Buchausgabe mit Drewniok-Texten in der dialog-Reihe des Henschelverlages Berlin (1987), er interviewte Drewniok für „Theater der Zeit“ (1981) und schrieb auch über ihn (und Christian Martin) in dem Band des Essay-Reihe des Mitteldeutschen Verlags „Im Blick: Junge Autoren. Lesarten zu neuen Büchern“ (1987). Zum Verhältnis der Generationen auch in „Die Sau“ schrieb er: „Allerdings bewegt den Autor an diesem Abnabelungsprozess mehr das Verbindende als das Trennende. Es ist auch sein Respekt vor dem Alter, der ihn vordringlich die Frage nach der Kontinuität, nach der funktionierenden Weitergabe humanistischer Lebensinhalte stellen lässt.“ Wenn man nur Lebensinhalte nicht auf humanistische einschränkt, stimmt das wohl.

Wenn es so ist, wie Reichel behauptet, dass Vater und Sohn in „Die Sau“ nur auf der Basis des Tauschwertes miteinander verkehren, dann wäre das eben auch nicht gerade das, was man in der DDR traditionell als humanistische Werte sah. Der heimgekehrte Günter wird von seiner Frau daran erinnert, dass er zur Ruhe kommen wollte, neu anfangen wollte, nun aber will er sich gerade nicht beruhigen. Den neuen Anfang erwähnt er nicht. Auch der Vater hatte von einer anderen Art Leben gesprochen, ohne der Vorstellung nähere Konturen zu geben. Sein Satz: „Das Leben setzt sich zusammen aus sehr praktischen Gründen“ ist geeignet für eine Überlegung: Also weniger aus theoretischen, aus ideologischen, auch „hochgestochenen“, wie man auch sagen könnte? Oder ganz und gar nicht aus solchen? Reagiert Heinz Drewniok ganz unspektakulär auf eine unausrottbare Frage gar nicht nur des DDR-Umgangs mit Literatur: „Was wollte der Dichter damit sagen?“ Es wäre vonnöten, auch die anderen überlieferten Bühnenarbeiten, die Hörspiele Drewnioks, zu Rate zu ziehen, um „Die Sau“ nicht am Ende interpretatorisch zu überfordern. „Ihr würdet nur auf meinen Tod warten.“ Das weiß der Vater auch für den Fall, dass der Sohn das Gegenteil versichern würde. Sehr praktische Gründe sind es, die ein gemeinsames Leben in einem Haus also verhindern.


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