Arthur Eloesser: Willy Levin

Wir wissen aus heutigen Erfahrungen, dass große Redaktionen sich auf den Tod bestimmter Personen so vorbereiten, dass sie den fertigen Nachruf gewissermaßen nur aus der Schublade ziehen müssen, wenn es so weit ist. Wobei die Zahl der Redaktionen, die es sich leisten dürfen, so zu arbeiten, wohl sehr überschaubar ist. Denn sie können ja nicht erst eine geheime Ausschreibung veranstalten, die dann gerade nicht öffentlich zugänglich sein dürfte, um einen geeigneten Mann, eine geeignete Frau zu finden. Die Ressort-Chefs haben ihre Telefonverzeichnisse, sie wissen, wen sie anrufen müssen, weil das ihr Job ist, die anderen schreiben. Anruf genügt, wenn Verlässlichkeit vorausgesetzt werden darf, Sachkenntnis vor allem, möglichst auch Wissen um intime Details, was nur für den SPIEGEL auch Bettgeheimnisse sein dürfen. Nachrufe sollten nicht von bekennenden Feinden der Verstorbenen stammen, denen bleibt Zeit. Womit wir bei Arthur Eloesser wären. Der hatte in der Abendausgabe der Vossischen Zeitung vom 20. November 1926 seinen Nachruf auf Willy Levin. Und begann ihn so: „Am 19. November starb unser Mitbürger Willy Levin: ...“. Wäre Eloesser sicher gewesen, dass sein Beitrag am 20. November im Blatt steht, er hätte wohl „gestern“ geschrieben. Das muss aber niemandem auffallen. Es ist nur eine Frage der Zeitungs-Aktualität.

Jetzt, da ich dies zu meinem Thema mache, muss ich bekennen: der Name Willy Levin sagte mir bis vor kurzem nichts, gar nichts. Wohl ist der nämliche Beitrag in der Vossischen Zeitung in meinen Übersichten der weit mehr als tausend Arbeiten Eloessers für die Vossische Zeitung an genau der Stelle verzeichnet, wo er hingehört, mehr aber nicht. Und wenn ich, das Bekennen geht weiter, nach neuen Schreibanlässen zu meinem Langzeit-Forschungsgegenstand Eloesser gesucht hätte, wäre ich mit ziemlicher Sicherheit nicht auf Willy Levin verfallen. Man muss nur seine Suchmaschine zu Rate ziehen und sieht: noch nicht einmal das genaue Geburtsdatum ist bekannt, nur das Jahr (1860), nur der Geburtsort (Stolp), den Eloesser natürlich kennt. An der ärmlichen Wikipedia-Seite haben Autoren mitgearbeitet, die sich Rechtschreibratte oder Onkelkoeln nennen, ich würde sie vermutlich zu keiner Frage je im Leben konsultieren. Keiner der Bearbeiter kennt natürlich den Nachruf von Eloesser und die einzig genannte Literatur zu Levin stammt von Walter Hettche und ist in einer Publikation verborgen, die schlicht unzugänglich ist. Man suche „Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens“, Heft 1 von 1996. Wer es findet oder wenigstens weiß, wo es gefunden werden kann, der möge den ersten und auch den zweiten Stein werfen, ich sitze ruhig im Glashaus.

Es erreichte mich eines Abends wie fast immer zu ungünstiger Zeit ein Anruf, meine Kenntnisse zu Arthur Eloesser betreffend. Mit inzwischen mehr als 80 Publikationen zu ihm darf ich natürlich auch dann nicht, wenn ich eben im Fernsehsessel Platz nehmen will, was der Anrufer ja nicht wissen kann, so tun, als hätte jener sich verwählt. Das geht mit meinen medizinischen Kompetenzen längst routiniert, wenn, leider sehr regelmäßig, nach meinen Sprechstunden gefragt wird. In Sachen Literatur aber hilft mir kein Leugnen. Die Frage des Anrufers galt meinem Wissen um eine „Fluchtburg“ unterhalb der Schneekoppe, Zusammenhängen mit Gerhart Hauptmann und dann eben Willy Levin. Dem habe der mir gut bekannte Arthur Eloesser einen Nachruf gewidmet. Und der liest sich, wie ich nunmehr weiß, wie der Nachruf aus dem Mundes eines engen Vertrauten, wohl eher sogar Freundes. Es ist Ullrich Junker aus Bodnegg, dem ich den Hinweis danke und das nicht nur, weil ich alle Hinweise mag, die meine Neugier wecken. Inzwischen danke ich ihm einen neuen Hinweis. Denn auf der beschrieben jämmerlichen Wikipediaseite fehlt nicht nur der Nachruf von Eloesser, es fehlt auch eine Dissertation, die sich mit Willy Levin beschäftigt. Verfasst hat sie Christian Cöster, Jahrgang 1975, in Kassel geboren, der, wie ich sehe, in Dresden promovierte.

Es scheint, als sei Arthur Eloesser der einzige gewesen in den großen Berliner Blättern, der Willy Levin einen Nachruf widmete. Dafür wartete das Berliner Tageblatt am 21. November mit gleich vier Todesanzeigen auf, eine von der Familie, unterzeichnet von Gattin Natalie, von Dr. Ernst Levin, von Dr. Kurt Levin mit ihren Gattinnen, von Margot Kantorowicz, Gertrud Treidel, Dr. Oskar Treidel, beide Haifa, sowie sechs Enkelkindern. Die drei anderen Anzeigen gaben die Inhaber, die Angestellten und die Zwischenmeister der Firma Levin & Co aufgegeben. Als Traueranschrift ist die Pariser Straße 30/31 in Berlin angegeben, der Termin der Beerdigung ist am 22. November 1 Uhr in Weissensee. Das Lexikon der Berliner Grabstätten von Hans-Jürgen Mende weist für den Jüdischen Friedhof Weissensee keine Grabstätte für Willy Levin aus, genannt ist lediglich ein Generalkonsul Siegmund Levin. Dass Willy Levin fehlt, besagt freilich nicht mehr, als er den vom Lexikon-Autor verwendeten Auswahlkriterien nicht entsprach, mangels brauchbarer Informationen vermutlich. Fast drei komplette Spalten im Seitenkeller füllte Eloesser, er war zu diesem Zeitpunkt noch nicht wieder fest bei der Vossischen Zeitung, belieferte sie dennoch sehr regelmäßig mit eigenen Beiträgen. Von seiner Dahlmannstraße bis zu Levins war kein langer Weg.

Die Adresse Pariser Straße 30/31 beherbergte große Wohnungen mit Dienstmädchenkammer, heute ist dort Olivaer Platz 5, ein Verlegeort für Stolpersteine. Willy Levin wird dort keinen bekommen können, denn er starb, wie die Anzeige der Familie aussagt, nach kurzem Krankenlager, nicht wie der gleichaltrige Robert Gumpert 1942 in Theresienstadt, nicht wie Alfred Schmidt-Sas unterm Fallbeil in Plötzensee. „Wen habe ich in seinem Hause, das er mit seiner Frau, einer geradherzigen Rheinländerin von gern duldendem Humor, so offen hielt, an berühmten Musikern, erfindenden und ausübenden, im Laufe der Jahrzehnte nicht getroffen?“ Eloesser nennt die Namen: Hans Pfitzner, Richard Strauß, Julius Lieban, Paul Knüpfer. Die Büsten von Pfitzner und Strauß habe Levin sich von Hugo Lederer anfertigen lassen. Bei Julius Lieban müssen wir schon nachschlagen, er war ein Opernsänger aus Wien (19. Februar 1857 – 1. Februar 1940). Auch Paul Knüpfer war Opernsänger (21. Juni 1866 – 5. November 1920). Wir sehen: Eloesser blickt Jahre zurück. Besonders lang seien die Abende gewesen, wenn Pfitzner kam. „Willy Levin war einer der liebenswürdigsten Menschen, die mir je begegnet sind; wer ihn kennen lernte, gestand den Zauber ein.“ Der Kommerzienrat des Tages „verwandelte sich in der Dämmerstunde ... in einen Freund der Musik und der Musiker.“

„Die freundschaftlichen Beziehungen von Levin wurden nicht durch sein besonderes Verhältnis zur Musik begrenzt. Hermann Bahr, von diesem Berliner entzückt, frühstückte so gern mit ihm, wie Josef Ruederer ihm seine Stücke vorlas, wie Hugo von Hofmannsthal bei ihm mit Richard Strauß konferierte, und so hat unser Freund auch zu den allerersten gehört, die das noch kleine Theaterunternehmen des jungen Max Reinhardt vertrauensvoll unterstützten. Diesen unvergleichlichen Freund und Helfer habe ich selten empfindlich oder verärgert gesehen.“ Auch hier der klare Hinweis auf Zeugenschaft Eloessers. „Es war niemals so, dass Willy Levin sich für einen Künstler interessierte, weil er berühmt war ...“. Levin übernahm, so Eloesser, vornehme Verpflichtungen, die eigentlich Sache des Staates oder die „viel großartiger gestellter Wirtschaftsführer“ hätte sein sollen und können. Stinnes, Thyssen, Hugenberg nennt er mit ihren Namen, die nichts dergleichen taten. Umgekehrt tat Levin mehr, als bekannt wurde: „Es soll auch durch mich, den er vor mancher Hilfeleistung ins Vertrauen zog, nicht bekannt werden, was dieser Inhaber eines Berliner Konfektionshauses so heimlich wie freudig geleistet hat.“ Die heutige Regel des Marketing: Tue Gutes und rede darüber, galt noch nicht, oder nicht für diesen Willy Levin.

„Einmal traf ich ihn zögernd, als in schwerer und auch für ihn nicht mehr sorgenloser Zeit eine ungewöhnliche Leistung von ihm verlangt wurde, und zwar mit der Begründung, dass das deutsche Volk zur Förderung einer besonders wertvollen Kraft schnell eingreifen müsste. Na gut, sagte er schließlich, so werde ich wohl wieder das deutsche Volk sein müssen.“ Eine Seite der Eloesser-Biografie, die wohl auf immer fragmentarisch dokumentiert bleiben muss, zeigt sich hier auf. „Was er hingab, war für ihn nie das, was man ein Opfer nennt“. Eloesser sprach auf Levins Wunsch wie auch Max von Schillings nach einer Berliner Aufführung der Pfitzner-Oper „Palestrina“. Levin habe aber darauf bestanden, „dass nie auf ihn geredet wurde“. „Heute, mein lieber Willy Levin, habe ich dich zum ersten Male mit einiger Feierlichkeit ansprechen dürfen, aber ich glaube mich beauftragt zu fühlen durch eine gemeinsame Aufforderung aller der Männer von Ruf und Rang, die dich als brüderlichen Freund geliebt, aller der Strebenden und Ringenden, die dich als väterlichen Helfer geehrt haben. Und die dich nicht vergessen wollen.“ Im kommenden Jahr 2026 wäre der 100. Todestag von Willy Levin zu begehen. In meinem Kalender steht für 19. November noch nichts.


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