Arthur Eloesser: Willy Levin (2)
Alles absuchen und nichts finden, bedeutet keineswegs automatisch, dass jede weitere Suche keinen Sinn mehr habe. Jeder Sucher und Sammler wird dankbar zur Kenntnis nehmen, wenn ihn die freudige Nachricht erreicht: es gibt doch noch etwas. Er wird selbst dann noch dankbar sein, wenn er nun die eine oder andere seiner Behauptungen zu ergänzen, zu korrigieren, selbst auch zu revidieren hat. Falls nötig. Mir schien, als ich Arthur Eloessers Nachruf auf Willy Levin gelesen hatte, zweifelsfrei, dass beide sich sehr gut kannten. Ullrich Junkers Nachfrage nach einer möglichen Verwandtschaft der beiden hatte ich mit Vorsicht verneint, weil ich es in dem Moment nicht besser wusste. Inzwischen weiß ich es besser und weiß auch, dass ich es schon eher hätte besser wissen können. Als ich mich am 14. November 2024 zwischen den beiden hohen Grabsteinen für Johanna und Theodor Eloesser fotografieren ließ auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee, die überhaupt erst die Möglichkeit eröffnet hatten, daneben einen kleineren und helleren Gedenkstein für Arthur und Margarete Eloesser sowie für Fanny Levy, geborene Eloesser, aufzustellen, hatte ich die Haupt-Information direkt neben mir: „Johanna Eloesser, geb. Levin“.
Arthur Eloessers Mutter Johanna starb am 14. Juli 1911, sein Vater Theodor war bereits am 18. August 1902 gestorben. Entscheidend aber ist: Johanna Eloesser, am 6. April 1845 geborene Levin, war die Schwester des Textilhändlers Louis Levin, der wiederum der Vater des am 9. Mai 1860 geborenen Willy Levin wurde. Willy, eigentlich William, war das älteste Kind von insgesamt sieben aus zwei Ehen von Louis Levin. Mithin waren Arthur Eloesser und Willy Levin echte Cousins, Eloesser zehn Jahre jünger, sie werden also kaum als Kinder zusammen gespielt, sich wohl aber sehr früh schon gekannt haben. Willy Levin heiratete 1886 in Berlin die Kölnerin Natalie Harff, die stolze drei Millionen Mark mit in die Ehe brachte und damit nicht unerheblich zum Wohlstand der Familie beitrug, zu der zwischen 1887 und 1893 fünf Kinder kamen. Hinzu trat die erfolgreiche Geschäftstätigkeit Willy Levins. Ich verdanke alle diese Details Christian Cöster, der ziemlich sicher der beste Kenner Levins selbst und inzwischen auch der verzweigten Familie Levin ist. Er machte mich auch auf die Existenz eines Eloesser-Manuskripts aus dem Jahr 1936 aufmerksam, das ich inzwischen lesen konnte. Darin liefert der zehnte Todestag des Cousins den Schreibanlass.
Christian Cöster machte mir auch den Beitrag von Walter Hettche (Jahrgang 1957) zugänglich, den ich zunächst vergebens zu orten oder gar in die Hände zu bekommen versucht hatte. Ich will gern gestehen, dass ich ein von Hettche herausgegebenes Buch bereits komplett gelesen habe: es sind die Briefe Theodor Fontanes an seinen Verleger Rudolf von Decker. Bisher ungedruckte Briefe von Hugo von Hofmannsthal, Richard Strauss und Josef Ruederer gehören auch zu Hettches Arbeit für die „Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens“, Nummer 1(1996). Im Kern aber geht es um den Kunstförderer Willy Levin. Aus unerfindlichen Gründen verortet Hettche den Nachruf Eloessers in der Vossischen Zeitung in der 5. Beilage Nr. 279 am Sonntag, 21. November 1926. Wer den Nachruf dort sucht, wird sich heftig ärgern. Weder Eloesser noch Levin kommen in der fünften Beilage oder sonst im Text vor, sehr wohl aber finden sich viele Seiten weiter vorn im Blatt jene vier Todesanzeigen für Willy Levin, die wortlautidentisch auch im Berliner Tageblatt vom 21. November 1926 platziert waren. Der Nachruf auf den Cousin Willy, den Cousin Arthur nicht als innerfamiliär zu erkennen gab, erschien in der Abendausgabe der Vossischen Zeitung Nummer 550.
„Der Kommerzienrat“. Ein Gedenkblatt von Arthur Eloesser, das heißt bei Walter Hettche ein Zeitungsausschnitt in der Handschriften-Abteilung der Bayerischen Staatsbibliothek, er gibt eine Signatur an und ordnet sie einer vom Vorstand der Jüdischen Gemeinde zu Berlin herausgegebenen Zeitung zu, einem „Gemeindeblatt“, mit Fragezeichen in Klammern versehen. Mein Text ist als maschinenschriftliches Manuskript ausgewiesen, hat dieselbe Signatur wie bei Hettche, und entstammt dem Nachlass von Willy Levin. Auch auf diesem Manuskript ist zwar die Druckseite des Eloesser-Nachrufes richtig angegeben, falsch aber wie bei Hettche das Datum. Der Nachruf, ich wiederhole es, und es ist dank der Digitalisierung der Vossischen Zeitung in Berlin für jedermann jederzeit nachprüfbar, erschien am 20. November, am Tag nach dem Tod Willy Levins, die Anzeigen erst zwei Tage nach dem Tod. Zehn Jahre später hat Arthur Eloesser teilweise auf seine alten Formulierungen zurück gegriffen. Das war, wo er sich mehrfach einem Autor, einer Autorin widmete, auch in seinen literarhistorischen, literaturkritischen Arbeiten ein normales Verfahren. Das Gedenkblatt für Cousin Willy, vielleicht für die „Jüdische Rundschau“ gedacht, brachte auch Neues.
Zum Beispiel die hübsche Anekdote um den Maler Lesser Ury (7. November 1861 – 18. Oktober 1931), dem die Jüdische Gemeinde Berlin auf dem Friedhof in Weissensee einen Denkstein setzte. „Unser armer und so misstrauischer Lesser Ury, der zeitlebens daran litt, dass er in der Jugend nicht genug zu essen gehabt hatte, sagte mir einmal als höchste Anerkennung: das ist der einzige Kommerzienrat, bei dem ich mir nicht den Magen verderben muss. Ich hätte ihn früher kennenlernen sollen.“ Und Eloesser weiß noch mehr: „Aber Levin hatte von ihm fast ein Dutzend Bilder gekauft, noch bevor er der berühmte Maler wurde.“ Einige Namen aus dem Nachruf fehlen im zehn Jahre jüngeren Gedenkblatt: Hans Pfitzner, Hugo Lederer, Paul Knüpfer, Hermann Bahr, Josef Ruederer, auch Goethe, Hofmannsthal und Max von Schillings werden nicht mehr genannt. Die Großindustriellen, denen Eloesser 1926 ihre Kulturferne bescheinigte, sind nun auch nicht mehr der Rede wert. Dafür 1936 neu: Carl Flesch, Bruno Walter und Otto Klemperer. Und dazu diese Aussage: „Es sind mehrere Generation, besonders von jüdischen Künstlern, die Willy Levin in den immer schweren Anfängen unterstützt, die er vielleicht am Leben und bei der Kunst erhalten hat.“
Eloesser spricht jetzt eher auch von sich selbst: „In der Dämmerstunde, wenn sich der berühmte Skat mit Richard Strauß und anderen Partnern noch erwarten ließ, pflegte ich Willy Levin aufzusuchen, um ihn für irgendeinen notleidenden Künstler zu interessieren und es genügte ihm, wenn ich mich für sein Talent verbürgte.“ Das Kümmern um Kollegen und andere Künstler war Eloesser nicht nur eine rein persönliche Angelegenheit, auch seine exponierte Tätigkeit im Schriftstellerverband regte ihn an und verpflichtete ihn. „Dann pflegte er nicht einmal nach dem Namen zu fragen, so wie er selbst ungenannt bleiben wollte“. Unter der Todesanzeige der Familien war 1926 die Traueradresse Pariser Straße 30/31 angegeben. Das war eine große Wohnung, dennoch nicht zu vergleichen mit der Hohenzollernstraße 7, W10, wo die Familie bis 1920 sage und schreibe 24 Zimmer bewohnte. Die Hohenzollernstraße wurde 1862 erbaut, verlor ihren Namen 1933, als sie in Graf-Spee-Straße umbenannt wurde, was sie bis zum 1. November 1989 blieb. Da verfügte die Bezirksverordnetenversammlung den neuen Namen Hiroshimastraße, wie sie bis heute heißt. Offenbar zogen die Levins nach 20 Jahren dort aus, zuvor hatten sie am Lützow-Ufer gewohnt.
Arthur Eloesser scheint auch die Familienoper „Intermezzo“ mehrfach gesehen zu haben, in der Richard Strauß unter anderem Willy Levin ein musikalisches Bühnenporträt gewidmet hat. Sonst könnte der Kritiker und Cousin nicht auf die sprachlich-sängerische Fehlleistung gleich mehrerer Darsteller hinweisen, die dem Bühnen-Willy einen südöstlichen „Jargon“ zuordneten. Levin habe, sich, so Cousin Arthur, „durchaus mit einem Berlinisch beholfen, das sich allenfalls … von einigen breiteren pommerschen Klängen tragen ließ.“ Am 19. November 1926 starb in Berlin noch ein weiterer Kommerzienrat, der freilich ein deutlich höheres Alter als Willy Levin erreicht hatte: Herrmann Kretschmar, ehemaliger Inhaber der gleichnamigen Firma. Möglicherweise kannten sich die beiden Titelträger sogar aus irgendwelchen Wirtschaftsgremien der Reichshauptstadt. Noch weitere schöne Anekdoten hatte Eloesser 1936 parat. Die erste betraf einen Tausendmarkschein, mit dem der Kritiker seinem Cousin aus einer Verlegenheit half und ihm dazu sagte: „Es ist nicht meiner, deiner. Ich habe dir einmal für einen armen Künstler tausend Mark abgenommen; es geht ihm jetzt gut, er hat sie mir zurückgegeben.“ Levin, kein Sentimentaler, zeigte „ein feuchtes Auge“.
„Den unvergleichlichen Freund und Helfer, der übrigens nicht unermesslich reich, sondern unermesslich gebefreudig war, habe ich nur einmal verstimmt und verärgert gesehen. Das geschah, als der ihm schon seit seinen Anfängen befreundete Max Reinhardt, nunmehr berühmt und erfolgreich, unter Führung eines großen Bankhauses finanziert wurde, als es gesellschaftlicher Ehrgeiz wurde, zu seinen Aktionären zu gehören.“ Da wollte ein Neureicher, dessen Namen Eloesser dezent verschweigt, auch zum illustren Kreis gehören und Levin Anteile abkaufen. Der sagte dazu: „Ich habe das Geld damals, als man es Reinhardt noch nicht nachtrug, aus Schätzung und Freundschaft gegeben. Freundschaft lässt sich nicht halbieren.“ Erst zum Schluss lässt Eloesser auch Aktualität in sein Gedenkblatt: „Die Zeiten haben sich seitdem für uns geändert. Wenn mancher jüdische Künstler sie überstehen konnte, so ist es sein Werk gewesen. Wenn man ihm nachtrauern will, wird die Erinnerung an ihn immer wieder zu einer Freude.“ Wir wissen, wie schwer, oft unmöglich es wurde, als jüdischer Künstler diese Zeit zu überstehen. Die Verlustlisten sind lang und vielleicht wäre auch Willy Levin auf einer gelandet, sein Tod 1926 schloss es aus.