150. Geburtstag Josef Ruederer

Um ganze fünf Tage hat Josef Anton Heinrich Ruederer seinen 54. Geburtstag überlebt, sein Tod am 20. Oktober 1915 war also ein früher Tod. Dass ihm der Süddeutsche Verlag 1987 eine fünfbändige Werkausgabe widmete, hat seinem Nachruhm nicht wirklich auf die Beine geholfen. Immerhin fühlte sich das planwirtschaftlich organisierte Verlagswesen der DDR angeregt, nun auch ein Bändchen Ruederer zu produzieren, fünf Erzählungen in der seinerzeit beliebten und aus heutiger Sicht unfassbar preiswerten bb-Reihe des Berliner Aufbau-Verlages.

„Nur noch zu ahnen ist heute“, schrieb ich in einer Buchbesprechung*, „wo damals vielleicht Ruederers Blasphemien am wirksamsten einschlugen: allein die drei Beichtväter in dieser Erzählung sind eine köstliche Karikatur des katholischen Klerus im Bayern der wilhelminischen Ära. Das Schicksal, das die Helden Ruederers beutelt, ohne dass sie je recht erfahren, was ihnen eigentlich geschieht, hat wenig Dämonisches an sich. Die komische Distanz, die der Autor hält, trifft auch das tragische Geschehen in seinen Erzählungen.“ Die Rede war von „Linnies Beichtvater“, der von Herausgeberin Sabine Horsch zur Titelgeschichte erhobenen Erzählung.

Ruederer hat im literarischen Leben Münchens bis zu seinem Tod eine herausgehobene Rolle gespielt. Er hatte Spezialfeinde, wie es Erich Mühsam später in seinen „Unpolitischen Erinnerungen“ beschrieb. Der 17 Jahre jüngere Mühsam will ein solcher Spezialfeind gewesen sein und so nimmt es nicht Wunder, dass sich seine Erinnerungen eher auf Punkte konzentrieren, die nicht zuallererst Ruederers literarischen Rang betreffen. Mühsam behandelt lieber den Kegelverein als Basis besonderer Münchner Boheme-Kultur, Ruederer dabei als einen exponierten Streithansel. Der es sich nach und nach auch mit all denen verdarb, die seine Freunde gewesen waren.

Heute könnte man Ruederer, ebenfalls unter Absehen von seinen Qualitäten, als literatursoziologischen Präzedenzfall behandeln. Denn er war ein Autor aus reichem Elternhaus, der wohl bis zum Tod von Vater und Mutter in deren Abhängigkeit lebte, nie aber in Not. Die Nachwelt liebt Autoren nicht, die nie schön litten. Außerdem war er ein Erzähler, Dramatiker und Kabarett-Mitgründer, den die Moden kaum berührten, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts als dichte Ismen-Folge in Kunst- und Literaturgeschichte fortzeugten. Und so kann man blättern, wo immer man möchte, Ruederer wird kaum erwähnt. Selbst völlig verglühte Kometen des Jeweilsmarktes sind bekannter als er.

Dann muss nur noch ein namhaftes Literaturlexikon ihm attestieren, er sei „strukturkonservativem Denken verhaftet“ und schon ist ihm das Stigma verliehen, das inoperabel bleibt. Selbst die hellsten Köpfe unserer Sprache lieben einfache Dualismen, Schein und Sein, Soll und Haben, Fortschritt und Reaktion, da laufen Namen durch wie in automatischen Stempelmaschinen. Veitstänzer des Avantgardezirkus haben immer zwei Runden Vorsprung und Innenbahn, Handwerk zählt unter die Peinlichkeiten, Regeln bestätigen die Ausnahme. Ruederer wird aus dem Dilemma nicht herauskommen, auch im Umfeld seines 150. Geburtstages am 15. Oktober 2011 nicht.

Und doch ist zu seiner Sicht auf einen Mann wie den Herrn Adjunkt in der Münchner Stadtverwaltung („Das Gansjung“) bis heute im Kern nichts hinzugewonnen worden. Wie diesen dürfen wir uns den Typus vorstellen, der dann nur für die ganz Blinden überraschend „Heil!“ blökt und sich Bänderdehnungen holt beim Armhochreißen. Dieser Mann, den es zutiefst verunsichert, wenn er nicht weiß, was er denken soll, hat auch seine eigene einfache Glücksvorstellung: „Herrgott, wenn er einmal dürfte, so recht von Herzen dürfte!“. Sie dürfen aber alle nicht, diese kleinen Bürger: Linnie muss den ungeliebten Mechaniker heiraten, Herr Schafbeck verliert sein Renommiergrab, der Totengräber Friedl treibt seinen verängstigten Sohn in den Tod und nimmt sich daraufhin selbst das Leben. Diese Gesellschaft verkrüppelt ihre Menschen. Solche Botschaft ist nicht veraltet.

Münchner literarische Lokalpatrioten dürfen sich an die so genannte „Nebenregierung“ erinnern, die Josef Ruederer im Café Minerva, Akademiestraße 9, gemeinsam mit Max Halbe, Frank Wedekind und dem Maler Lovis Corinth gründete. 1907 schon schrieb Ruederer selbst einen Abgesang: „... aber die Literaten sind andere geworden. Vornehmer, abgeklärter, wie die alte Vorstadt Schwabing selber... Nur noch mit zartem Schamgefühl werden sie jener Zeiten gedenken, da sie als stramme Vereinsmitglieder am Stammtisch saßen und die Monatsbeiträge schuldig blieben.“ Die Süddeutsche Zeitung hat Ruederers Roman „Das Erwachen“ 2008 als Band 14 in die DEFGH Bibliothek aufgenommen. Das Echo blieb wie zwanzig Jahre davor nahezu aus.
 * Tribüne Nr. 40, 24. Februar 1989, Seite 14


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