Claude Simons Nobelpreisrede 1985

Mit diesem Claude Simon (10. Oktober 1913 bis 6. Juli 2005) habe ich eine eigene kleine Geschichte. Sie beginnt im Januar 1986 mit einem Textchen, das ich für die NEUE HOCHSCHULE schrieb unter der Überschrift „Literaturnobelpreis 1985“. Ich hatte dort als Autor mit Literaturthemen eine Narrenfreiheit, die dem Außenstehenden unvorstellbar erscheinen mag, ich konnte schreiben, worüber ich wollte, niemand fragte vorher, niemand nahm anschließend Anstoß. So war denn am 9. Januar 1986 in der ersten Nummer des 29. Jahrgangs dies zu lesen: „Innerhalb von nur acht Jahren haben drei französische Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekommen: 1957 Albert Camus, 1960 Saint-John Perse und 1964 Jean-Paul Sartre. Dann vergingen 21 Jahre, bis erneut ein Franzose vom Preiskomitee in Stockholm bedacht wurde: Claude Simon. Gerade die Literaturpreise waren oft umstritten, Fehlgriffe sind vorgekommen und eine ganze Reihe höchst bedeutender Autoren wurden nicht berücksichtigt, man denke nur an Strindberg oder Leo Tolstoi in den Anfangsjahren des Preises.

Mit dem 1913 geborenen Claude Simon hat nun 1985 ein Autor den Preis erhalten, dessen Name im Bewußtsein der Leserschaft nicht unbedingt sofort ein Begriff ist. Seinen Büchern geht der Ruf voraus, schwer lesbar zu sein. Zwei davon - „Die Straße in Flandern“, „Das Gras“ - sind auch bei uns erschienen und erlauben es, dieses Urteil zu überprüfen. Simon gehört zu einer Gruppe von Autoren in Frankreich, die zunächst unabhängig voneinander in den 50er Jahren begannen, den traditionellen Roman in Frage zustellen, vor allem die überlieferte Rolle des „Helden“ in der Literatur und die in der herkömmlichen Romanfabel zum Ausdruck gebrachte Art des Erzählzusammenhanges. Für seinen Roman „Die Leitkörper“ etwa wählte Simon eine „serielle“ Erzählweise, die Analogien aufweist zu vergleichbaren Entwicklungen in der modernen Musik oder der bildenden Kunst. Simon benennt selbst den Einfluß Robert Rauschenbergs auf sein Erzählen.

Die Kritik hat diese Gruppe mit dem begriff „Nouveau Roman“ beschrieben, neben Simon haben sich Nathalie Sarraute, Michel Butor, Alain Robbe-Grillet später zu diesem Begriff bekannt. „Ich sammle Erinnerungen, so wie man früher den Toten Dinge ins Grab tat, damit sie sich davon nähren können“, sagt Claude Simon von sich. Die behauptete Gleichwertigkeit der Menschen und der Dinge im Roman ist sicher eine problematische Position, jedoch verhindert sie keineswegs eine kritische Darstellung der gesellschaftlichen Realität im Kapitalismus der Gegenwart. Wenn wir Claude Simons Werk als einen Versuch sehen, mit neuen künstlerischen Mitteln den verdinglichten bürgerlichen Verhältnissen heute gerecht zu werden, lohnt sich die Anstrengung der Lektüre unbedingt.“ So weit mein bald 28 Jahre altes Statement, dem ich ablese, was ich auch den meisten anderen Texten ablese, die ich für die NEUE HOCHSCHULE schrieb: einen aufklärerischen Ansatz mit ausgemachter Brückenbau-Ambition.

Als in der Reihe EDITION NEUE TEXTE 1988 der Roman „Anschauungsunterricht“ erschien, meldete ich mich für die Kritik wie sonst auch in den Redaktionen an, für die ich inzwischen regelmäßig arbeitete, die TRIBÜNE war geneigt, mir den Auftrag zu erteilen. Die Literaturredakteurin, deren Namen ich hier nicht nenne, weil ich sonst sehr gut mit ihr auskam, gab mir dann aber zu verstehen, es sei schon schlimm genug, wenn dieses Buch überhaupt erscheine, man müsse deshalb nicht auch noch Werbung dafür machen. Hintergrund dieser ihrer Überzeugung war, wie sie mir freundlicherweise verriet, eine Äußerung Claude Simons zum Vietnam-Krieg, an deren Inhalt ich mich nicht mehr erinnere, die aber offenbar für allerhöchste Verärgerung sorgte bei den sich für Verärgerungen zuständig dünkenden Stellen der DDR. So erschien dann im November 1988 zwar eine knappe Besprechung in JUNGE WELT (Ralph Haußmann) und volle fünf Monate später eine im SONNTAG (Brigitte Sändig), doch hielten sich beide Texte eher an der im Anhang des Aufbau-Buches abgedruckten Rede Simons fest als am Roman selbst.

Die Camus-Biographin Sändig begann kryptisch: „Claude Simons Nobelpreisrede von 1985 im Anhang an diesen Prosatext zu veröffentlichen war richtig und wichtig, da sie die künstlerische Grundhaltung des Autors klärt, die sich in all seinen Büchern und besonders auch in diesem äußert.“ Das versteht nur, wer eben von der Vietnam-Äußerung und ihren nie öffentlich gewordenen Folgen in der DDR weiß. Wer in diesem Land des organisierten und institutionalisierten Vorurteils etwas durchsetzen wollte, was sich dafür nicht wie von selbst auf dem Tablett anbot, musste es den Koordinaten der Entscheidungsbefugten und Genehmigungsbevollmächtigten mindestens begrifflich annähern. Grundhaltung war etwas, hinter das kaum zurückzugehen war und wer in Zeiten, da die Parole hieß „Mein Arbeitsplatz, mein Kampfplatz für den Frieden“ nicht mindestens für den Frieden vereinnahmt werden konnte ohne Wenn und Aber, der hatte schlechte Karten. Die Nobelpreisrede bekam so einen merkwürdigen Stellenwert weit über das Dokumentarische hinaus, mir will für die DDR-Jahre keine andere je veröffentliche Nobelpreisrede einfallen.

Was aber hat er am 9. Dezember 1985 seinen erlauchten Hörern und Hörerinnen in Stockholm zu Gehör gebracht? Brigitte Burmeister, Romanistin und gegen Ende der DDR auch verdientermaßen hoch gelobte Roman-Autorin  („Anders oder Vom Aufenthalt in der Fremde“), übersetzte seine Rede, Auszüge waren bereits in ihrem Nachwort zum Simon-Roman „Der Wind“ (Gustav-Kiepenheuer-Bücherei 82) zu finden. Claude Simon hielt eine Verteidigungsrede. Die mit Angriffen begann, als das Bekenntnis seiner Freude abgearbeitet war. Die Angriffe galten jenen französischen Kritikern, die in der Preisverleihung ausgerechnet an Simon fast eine Beleidigung Frankreichs und seiner Literatur sehen wollten. Die Angriffe galten der französischen Boulevard-Presse, die aus faktischem Nachrichtenmangel heraus schrieb, ein Wochenblatt soll sogar eine Unterwanderung der schwedischen Akademie seitens des sowjetischen KGB unterstellt haben. Simon rächte sich, indem er Karl Marx über Wert, Gebrauchswert und Arbeit zitierte, denn schließlich wollte er auf den Begriff Arbeit hinaus. Auf die Arbeit des Schreibens in ihrer Profanität wie Komplexität. Weg von Inspirationsmythen und Erwähltheitssagas.

Simon präsentierte sich seinem Stockholmer Publikum nicht als Plauderer. Er zeigte, wie viel durchdachte Theorie hinter seinen Romanen steht, 16 sind es bis zu seinem Tod geworden, einen soll er noch spät vernichtet haben. Es ist mir heute eine Zeitreise, Juri Tynjanow und Viktor Schklowski als Kronzeugen aufgerufen zu finden, Roland Barthes folgt bald hernach, diese Debatten haben wir auch geführt, die auf seltsamen Wegen durch den Eisernen Vorgang diffundierten, wir als Studenten, denen Strukturalismus erstmals begegnete, die sich von der „Archäologie des Wissens“ zuraunten auf den Wegen zwischen Universitätsstraße 3b und Franz-Mehring-Platz. Das Kuriose an diesen wie anderen vorhergehenden Theorien ist immer wieder, dass sie einen Fortschritt der Literatur behaupten, den es angeblich nicht nur nicht gibt, sondern gar nicht geben kann. Dass Simon sich zu einer gewissen Ausschließlichkeitsrhetorik hinreißen ließ, ist schon den Zeitgenossen der Rede aufgefallen, angenehm die souveräne Argumentation von Brigitte Burmeister dazu, die zum „Nouveau Roman“ über Jahre intensiv gearbeitet hat.

Claude Simon ist sich nicht zu fein, einfach aus einem Wörterbuch zu zitieren, was eine Fabel sei und davon ausgehend zu zeigen, dass es genau diese Tradition ist, von der er sich absetzen will. Er singt das Hohelied der Beschreibung, die für ihn eben nicht Verlängerung der Handlungsspannung zwischendurch oder gar Überbrückung der Einfallslosigkeit der Romanciers ist. Er stellt, darin natürlich, und das leugnet er auch nicht, komplett in der Tradition der Moderne stehend, den Erzähler des 19. Jahrhunderts in Frage, den man sich angewöhnt hat, allwissend zu nennen. Er beschwört Glaubwürdigkeit gegen jene Handlungsverläufe des alten Romans, die vom Zufall und vor allem von der Willkür des Autors diktiert sind. In der Tat ist ja etwa der Übergang von Charles Dickens zur puren Kolportage erstaunlich fließend, was jedoch eben nicht gegen Dickens spricht und ebenso nicht eine alles auf den Kopf oder vom Kopf auf die Füßen stellende alternative Romanliteratur zwingend notwendig macht. Die Postulate der Moderne in der Literatur werden durch den Film massivst in Frage gestellt, wo noch niemand, der nicht ausgelacht werden will, die Frage nach der verderblichen Allwissenheit der Kamera gestellt hat.

„... wenn man allgemein bereit ist, demjenigen einige Freiheit zuzugestehen, den die Umgangssprache einen Poeten nennt, mit welchem Recht könnte man sie dem Prosaisten verweigern und ihm allein das Amt zuweisen, Lehrfabeln zu erzählen.“, fragt Simon und die Antwort ist klar: mit keinem Recht der Welt. „Und wenn mir übrigens irgendeine wichtige Wahrheit in gesellschaftlicher, geschichtlicher oder religiöser Hinsicht offenbar geworden wäre, hätte ich es lächerlich gefunden, sie mit Hilfe einer ausgedachten Geschichte darzulegen, statt in einer theoretisch begründeten Abhandlung zur Philosophie, Soziologie oder Theologie.“ Das entspricht übrigens geradezu frappierend dem Lyrik-Verständnis von Cleanth Brooks, auf den sich wiederum Günter Kunert berief, als er von der Paradoxie im Gedicht handelte. Claude Simon lag, indem er gegen den vermeintlichen wie den tatsächlichen Strom redete, durchaus im Trend. Auch im naturalistischen Roman, sagt er, „erzählt uns die Schreibweise ... tatsächlich ihr eigenes Abenteuer und ihren eigenen Zauber. Ist dieses Abenteuer null und nichtig, kommt dieser Zauber nicht ins Spiel, dann ist ein Roman, welches erzieherische oder moralische Anliegen auch immer er haben mag, seinerseits null und nichtig.“

Müssen überhaupt immerfort Romane geschrieben werden, lautet eine Frage, die gestellt werden könnte. In Zeiten, da von der Anderthalb-Seiten-Schmonzette in den Goldenen Blättern bis zur Feature-Biographie alles Roman heißt, ist die Frage weniger dumm als sie scheint. Denn so sicher wie als Antwort auf die Moderne die Postmoderne folgte und nun auch schon wieder ins Alteisen rückt, so sicher führt der profane Marktmechanismus des Literaturmarktes auch wieder zu neuen oder neu klingenden Alleinstellungsmerkmalen in den Programmatiken der programmbasierten Neuliteratur. Claude Simon ist als Franzose im Musterland der abfolgenden Ismen aufgewachsen, er hätte gewarnt sein können vor allzu forcierter Definition des eigenen Tuns. In Stockholm 1985 aber freute er sich über die Anerkennung, die ihm widerfuhr, das soll ihm nicht kleingeredet werden. Für das ZEIT-Literatur-Lexikon gilt Simon „weiterhin als der größte unbekannte Schriftsteller Frankreichs.“ Und Andreas Isenschmidt hob in der Vorwoche in der ZEIT zu einem pikanten Sonderlob an: „Vor allem aber enthalten die „Vier Vorträge“ (eine Nachlass-Edition – E. U.) eine Abkanzelung der französischen Romankunst von Diderot bis Camus, wie man sie so brutal von einem Franzosen wohl nie gelesen hat.“ Irgendein Superlativ muss eben immer sein. Ob Simon die an seinem 100. Geburtstag zur neuen Nobelpreisträgerin erhobene Kanadierin Alice Munro auch abgekanzelt hätte, will ich der Spekulation anheim geben.


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