Stippvisite bei Hans Natonek

Im Büchner-Jahr bietet es sich an, den Kurzbesuch bei Hans Natonek mit dessen Besprechung einer frühen Inszenierung von „Leonce und Lena“ zu beginnen. Sie erschien am 12. September 1919 in Leipzig, gut sechs Wochen vor Natoneks siebenundzwanzigstem Geburtstag. Damals war Büchner noch eine Entdeckung und der in Prag 1892 geborene Natonek brachte diese Entdeckung ohne Umwege mit der Revolution von 1918 in Verbindung. Er ließ sich von der Inszenierung, für die Otto Stöckel verantwortlich zeichnete, zu einigen durchaus bedenkenswerten Aussagen verführen. Dass wir sie wieder lesen können, ohne mühsame Archivgänge absolvieren zu müssen, verdanken wir einem wunderbaren Leipziger Verlag namens Lehmstedt und der Herausgeberin Steffi Böttger, die 2006 „Im Geräusch der Zeit. Gesammelte Publizistik 1914 – 1933“ vorlegten. Steffi Böttger, die damals das Nachwort verfasste, ließ knapp zwei Jahre später den Briefwechsel Hans Natoneks mit seinem Sohn Wolfgang folgen, gleichfalls bei Lehmstedt und rundet eben jetzt ihre Bemühungen um den immer noch weithin Unbekannten mit einer zweiten Sammlung unter dem Titel „Letzter Tag in Europa. Gesammelte Publizistik 1933 – 1963“ und einer Darstellung seines Lebens  (Steffi Böttger: „Für immer fremd. Das Leben des jüdischen Schriftstellers Hans Natonek“) ab. Im Oberlichtsaal der Leipziger Stadtbibliothek beginnt heute um 20 Uhr die Buchpremiere dazu.

Ich habe die beiden neuesten Titel noch nicht in den Händen gehabt, kenne bisher auch nur die freundliche Aufforderung Elisabeth von Thaddens in der ZEIT voriger Woche, zuzugreifen. Mein Archiv hilft mir mit lediglich einer einzigen nennenswerten Besprechung des 2006er Bandes, sie stammt von Klaus Bellin und stand in NEUES DEUTSCHLAND. Die 26 Zeilen von Benedikt Erenz in der ZEIT vom 29. November 2007 fallen kaum ins Gewicht, noch weniger die Annotation, die Rolf Schneider für DIE LITERARISCHE WELT 16/2009 ablieferte zum genannten Vater-Sohn-Briefwechsel. Ein Blick in den von Hans J. Schütz verfassten Kurzbeitrag für Killys Literatur-Lexikon wird in Leipzig, wo die meisten der den ersten Band füllenden Artikel zuerst erschienen, noch immer wenig Freude auslösen. Zeitungen aus der Buch- und Verlagsstadt Leipzig, die ja auch eine Buchmesse-Stadt war und ist, findet das Lexikon nicht erwähnenswert. Dafür nennt Schütz in seinem winzigen, notwendig winzigen Literaturverzeichnis die Besprechung von Christel Foerster in der NDL 7/1983, von der wiederum Steffi Böttger in ihrem ersten Vorwort offenbar keine Kenntnis hatte oder sie ihrerseits für nicht erwähnenswert hielt.

Bei Christel Foerster ist nachzulesen, worauf auch Böttger aufmerksam macht, dass Natonek 1931 aus den Händen des späteren Anti-Hitler-Verschwörers und Leipziger Oberbürgermeisters Carl Goerdeler keineswegs einen Goethe-Preis der Stadt Leipzig entgegen nahm, den es nie gab, sondern den Preis der Leipziger Dichter-Stiftung. Und zwar gemeinsam mit Hans-Otto Henel und Josefine Siebe, die vermutlich nicht einmal in Leipzig jemand mehr kennt. Christel Foerster hat vor allem Wolfram U. Schütte für seine Auswahl von Hans Natonek „Die Straße des Verrats. Publizistik, Briefe und ein Roman“ (Buchverlag Der Morgen Berlin 1982) gewürdigt. Mit ihrem fast euphorischen Lob des 1940 geborenen Herausgebers verband sie zugleich eine Reihe von Einwänden und Kritiken und machte auf alle ihr bekannten Quellen zu Leben und Werk Natoneks aufmerksam, angefangen bei F. C. Weiskopf und endend bei Hans Bauer. Unter den Fehlstellen der Auswahl, die sie besonders benannte, findet sich die Theaterkritik. Womit der Einstieg bei Hans Natonek mit Georg Büchner also einen zusätzlichen Grund bekommt.

1919 hießen die Darsteller in Leipzig Stephan Dahlen (Leonce), Käthe Paschen (Lena), Hans Leibelt (Valerio) und Bernard Wildenhain (König). Es muss ein prunkvolles Bett auf der Bühne gegeben haben und ein Publikum im Parkett, das offenbar erst allmählich begriff, dass dieser ihm unbekannte Georg Büchner längst tot war und also nicht ausgezischt werden musste. Vielleicht aber wollte der Theaterkritiker Hans Natonek ja auch nur zeigen, dass er zugleich ein Publikumskritiker ist in jenem berühmten Lichtenbergschen Sinne, dass, wenn es beim Zusammenstoß eines Kopfes mit einem Buch hohl klingt, nicht immer das Buch schuld sein muss. Die folgende Beschreibung des kleinen Lustspiels ist sehr hübsch: „Die romantische Laune eines revolutionären Geistes; Leben, Politik und sonstiger Unfug aus der Perspektive eines Mondstrahls gesehen, der sich in Tautropfen eines Blütenkelches farbensprühend bricht – dies ist „Leonce und Lena“.“ Natoneks Mutmaßungen, was Büchner veranlasst haben könnte, dies zu dichten, gehen vielleicht nicht in die Geschichte der Büchner-Philologie ein, sind aber auch nicht so gedacht. Dass er den Valerio einen „Schwärmer der Arbeitslosigkeit“ nennt und mit Peter Altenberg in Verbindung bringt, ist weniger an den Haaren herbeigezogen, als es scheint.

Hans Natoneks Zwischenfazit wird vor allem Theaterpraktiker irritieren, denen gerade „Leonce und Lena“ seit nunmehr vielen Jahren fast zum Repertoire-Stück geworden ist: „Es ist viel zu schade fürs Theater. Jedes echte Gedicht ist viel zu schade fürs Theater. Die Bühne hat ganz andere, viel handfestere Bedürfnisse als poetische.  ... Dem Theater eine Dichtung liefern, heißt sich ausliefern; sich ausliefern dem wüsten Zufall des Parketts und der Galerie.“ Gegen Regietheater wetterte Natonek hingegen nicht, der Begriff war ohnehin noch nicht im Schwange. „Der Adel der Bühnen-, Publikums- und Weltfremdheit leuchtet in dieser Dichtung. Skurrile Einfälle, bohrende Gedanken, Bilder, bunt und üppig wie Brokate, sind hingestreut, wie sie aus Dichters Seele wuchsen.“ So las es sich dazumal und Staub hat es auffällig nicht angesetzt. Zum Hauptgeschäft hat Hans Natonek die Theaterkritik in seinem Journalistenleben dennoch nicht gemacht, was weder gegen ihn noch seine Kritiken spricht. Er wollte sich innerhalb seines privilegierten Berufes wohl einfach nicht auf eine zu schmale Spur festlegen und so hat die Herausgeberin denn auch festgehalten, dass er außer Sport und Wirtschaft kaum ein Feld der täglichen Pressearbeit völlig unbeackert gelassen habe.

Er schrieb auch das, was eine junge, begabte und berufs- wie herkunftsbedingt leicht charakterlose Mitarbeiterin meiner einstigen Arnstädter Lokalzeitungsredaktion gern „Besinnungsaufsatz“ nannte, jene stille Reserve des verantwortlichen (Feuilleton-)Redakteurs für plötzliche Lücken auf einer Seite bei Herannahen des Redaktionsschlusses. Ob man, wie ich es hier sicher leicht frevlerisch tue, sein „Der Dilettant“ in diese Gruppe rechnen muss, will ich meinen entscheidungsfreudigen Lesern anheimstellen. Mich hat der am 12. Mai 1917 veröffentlichte Text sofort angezogen, weil, nun ja, weil es bei einem gewissen Goethe, der ebenfalls ein gewisses Verhältnis zu Leipzig hatte, ein Werk gibt mit dem üblich umständlichen Titel „Über den sogenannten Dilettantismus oder die praktische Liebhaberei in den Künsten“. Es handelt sich strenger gesehen eigentlich um kein Werk, sondern eher um das, was Goethe selbst „Schema“ nannte, freilich in einem ziemlich fortgeschrittenen Stadium. Und so, wie wir es kennen, hat es der für dergleichen zuständige und unvermeidliche Eckermann zugerichtet. Hans Natonek 1917 ist verblüffend nahe bei diesem Goethe von 1799, lässt aber mit keinem Semikolon erkennen, ob er diesen speziellen Goethe überhaupt kannte.

„Es ist so billig und dankbar, auf den Dilettanten einzuhacken.“ schreibt Natonek. Und wenig später: „Der Dilettant ist ein Dichter im Erleben, aber ein Stümper in der Kunst.“ Und noch später: „... die Urteilslosigkeit des Dilettanten seinem eigenen Werke gegenüber wird vielmehr dadurch begreiflich, daß er den Wert, den das Erlebte für ihn hat, unwillkürlich auf dessen Gestaltung verschiebt.“ Und plötzlich ist Hans Natonek, als hätte er vor knapp hundert Jahren geahnt, was fünfzig Jahre nach seinem Tod am 23. Oktober 1963 in Tucson/Arizona unser tägliches Leben ist, beim Tagebuch. Er meinte natürlich das handgeschriebene Tagebuch, man kann aber zwanglos das Neuwort BLOG dafür setzen und hat dessen eigentliche Funktion bei diesem damals nicht 25 Jahre alten Prager in Leipzig kaum übertreffbar formuliert: „Es wäre gleichsam ein Aderlaß des Dilettanten und die Kunst brauchte ihm nicht länger eine Ablagerungsstätte seiner Gefühle und Erlebnisse sein.“ Die positiveren Nebeneffekte des Dilettantismus, man könnte sie das Persönlichkeitsbildende seiner Ausübung nennen, hat jener Goethe übrigens mit für ein Schema frappierender Prägnanz formuliert, es lohnt sich, das nachzulesen.

Bei Christel Foerster, dies schon an der Tür am Ende der Stippvisite, bildlich gesprochen, findet sich die Behauptung, Hans Natonek habe 1933 zu den Autoren gehört, die auf den Scheiterhaufen der Bücherverbrennung landeten. Das ist falsch. Weder die große und immer noch gute DDR-Dokumentation „In jenen Tagen. Schriftsteller zwischen Reichstagsbrand und Bücherverbrennung“ (Gustav Kiepenheuer 1983) noch die „Orte der Bücherverbrennungen in Deutschland 1933“, herausgegeben von Julius H. Schoeps und Werner Tress (Georg Olms Verlag 2008) noch „Das Buch der verbrannten Bücher“ von Volker Weidermann (Kiepenheuer & Witsch 2008) führen den Namen von Hans Natonek auf ihren Seiten und in ihren Registern. Der letzte Satz in Steffi Böttgers Nachwort von 2007 kann dafür am heutigen Todestag von Hans Natonek mit den ihm gewidmeten Büchern wohl unverminderte Gültigkeit beanspruchen: „Es steht zu hoffen, daß mit der hier vorgelegten umfangreichen Auswahl aus seinem gewaltigen publizistischen Werk die überfällige Entdeckung eines bedeutenden deutschen Schriftstellers beginnt.“


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