Aldous Huxley: Reisebilder

Von Bertrand Russell wird überliefert, er habe im Gespräch mit Aldous Huxley immer bemerkt, welchen Band der Enyclopaedia Britannica jener gerade las. Was wie eine gar nicht so verschmitzte Herabsetzung gedeutet werden kann, ist vor allem einmal Dokumentation eines Phänomens. Es sei, man finde es nicht bemerkenswert, dass einer die Enzyklopädie nicht nur zum Nachschlagen benutze, sondern sie regelrecht liest. Aldous Huxley führte, mit unüberhörbarer Selbstironie gibt er das in „Eine Nacht in Pietramala“ kund, einzelne Bände sogar als Reiselektüre mit sich, so wie es andere tun, die sich für solche Zwecke mit den dicksten Romanen ausrüsten, die sie immer schon einmal lesen wollten, es aber nie schafften. Es sei der Band „And – Aus“ gewesen und er habe mit dem Animalismus begonnen.

„Das Fatale an Romanen“, sagte John Rivers, „ist, daß sie zuviel Sinn ergeben. Die Wirklichkeit ergibt nie einen Sinn.“ So beginnt Aldous Huxley „The Genius and The Goddess“, einen seiner insgesamt elf Romane, deutscher Titel wenig überraschend „Das Genie und die Göttin“. Das ist weniger englischer Humor, als man annehmen möchte. Denn Huxley, der mit „Brave New World“ sogar denen bekannt ist, denen sonst nichts bekannt ist, hatte ziemlich präzise Vorstellungen, was er mit einem Roman wollte und was nicht. Seine natürlich auch praktizierten Ansichten gefielen so unterschiedlichen Leuten wie Virginia Woolf oder Ernest Hemingway nicht sonderlich, was zu keinen vorschnellen Schlüssen verleiten sollte. Denn auch deren Romane gefielen anderen wiederum nicht sonderlich, während Huxley seinerseits nicht nur Dickens und Swift recht kräftig durch seine literaturkritische Mangel drehte, sondern, in den „Reisebildern“, beispielsweise auch Joseph Conrad wenig Lob zuteil werden lässt. Dafür über Katherine Mansfield Kluges schreibt, das nicht dadurch entwertet wird, dass er sie sehr gut kannte.

Das schon erwähnte „Eine Nacht in Pietramala“ enthält ein bemerkenswertes Eingeständnis: Huxley würde, schreibt er, wenn das Schicksal ihm mehr Genie zugeordnet hätte, im Zweifelsfall lieber Michael Faraday sein als William Shakespeare. Seine vielfach ausgewiesene Affinität zur Naturwissenschaft mag es auch sein, die jene unter seinen Kollegen auf Distanz brachten, die auf ihre diesbezügliche Ahnungslosigkeit demonstrativen Stolz entwickeln. Wofür Huxley wiederum dosierten Spott übrig hatte: „Es liegt kein Verdienst darin, das nicht zu kennen, was erkennbar ist. So gibt es Literaten, die sich tatsächlich etwas auf ihre Unbeschlagenheit in naturwissenschaftlichen Dingen zugute tun; so etwas ist dumm und eingebildet dazu.“ Fritz J. Raddatz lieferte kürzlich in seiner neuen Rubrik „Der Nörgler“ in der „Literarischen Welt“ unberaten ein schlechtes Beispiel, indem er sich nicht nur als Technik-Trottel outete, sondern dies auch noch vorbildlich fand. Man muss zu allem weder auf Huxleys Großvater und seinen Darwin-Bezug noch auf den Bruder Julian verweisen, der erster UNESCO-Direktor war.

Die Frage, ob derartige Exkurse seinen „Reisebildern“ gut oder weniger gut zu Gesicht stehen, ist eine akademische, denn die Qualität der Exkurse kann sogar in den Fällen, wo sie ihr textliches Umfeld vollkommen in den Schatten stellen, weder verlieren noch verloren gegeben werden. Essay-Bände sollten idealerweise ein Register enthalten, was Kosten und Mühe erforderte, aber ganze Lesergruppen bedienen könnte. Theo Stemmler, der 1995 die dreibändige Sammlung mit Huxley-Essays des Piper-Verlages für die Neue Zürcher Zeitung besprach, fasste das Lohnende der Lektüre so zusammen: „Die Aphorismenjäger, die Analysevernarrten und die Prognosesüchtigen kommen hier gleichermaßen auf ihre Kosten.“ Obwohl ich vermute, das solches Lob eher abschreckend wirkt, denn selbst die Angesprochenen mögen sich mit solchen Etiketten unpasssend beklebt fühlen. Wem es eine Entdeckung ist, dass einer wie Huxley schon vor achtzig oder sechzig Jahren Dinge präzise kritisierte, die ihre volle Wirkung erst viel später jedermann offenbarten, ist mit dem Begriff prognosesüchtig ja kaum hinlänglich beschrieben.

Auch Aldous Huxley gehört in jene über Länder und Zeiten verteilte Autorengruppe, denen ihre Vielseitigkeit und ihre Produktivität angekreidet wurde. Wer angesichts von Textmengen und Gegenständen von einer verwirrenden Vielfalt redet, läuft immer Gefahr, sich selbst ein Armutszeugnis auszustellen, Günter Kunert hat vor vielen Jahren einmal eine entsprechend formulierte Kritik an seiner kurzen Prosa in klassischer Replik zurückgewiesen. Mir will nur die Stelle partout nicht einfallen, an der ich suchen muss. So halte ich mich an Huxleys Ausgangsfrage in den Reisebildern „Warum nicht gleich zu Hause bleiben?“ Zunächst distanziert er sich von denen, die reisen, obwohl sie eigentlich gar nicht gern reisen. Das klingt ziemlich hochmütig und erinnert an die heutigen Reiseteile der großen Zeitungen, in denen über immer entlegenere und schwerer zu erreichende Reiseziele geschrieben wird, was natürlich daran liegt, dass die wenigen hochprivilegierten Reise-Journalisten schon überall waren und wenn sie denn doch einmal wieder wohin fahren, wo sie schon waren, dann klagen sie, dass dort jetzt viele sind, wo früher niemand war. Huxley aber will nur den Kontrast kräftig herausstellen. Zu den wahren Reisenden. Denen er sich, wen überrascht das, selbstverständlich zurechnet.

Er hat keine Probleme damit, von Holland zu schwärmen. Und ich gestehe gern, dass mir das sehr sympathisch ist, weil ich die meisten Orte in Holland, die er erwähnt, mehr oder minder gut kenne. Man trifft die Trachten in Volendam vielleicht nicht mehr wie er, ein 30. April ganz in Orange dort aber ist immer noch ein Erlebnis und wenn an unserem deutsch-internationalen Kampf- und Feiertag in Amsterdam die Überreste bekämpft werden müssen, die vom Geburtstag der Königin liegen blieben (man meint, es könne davon ein Berg aufgeschüttet werden höher als der höchste Berg Hollands), dann hat das zwar mit Euklid wenig zu tun, den Huxley ins Spiel bringt, bleibt aber ein Reiseerlebnis für immer. „Ich kenne kein anderes Land, das zu bereisen den Geist so erfrischt.“ Schreibt er und eben: „Wer durch Holland reist, reist durch die ersten Bücher Euklids.“ Und dann: „Ich bleibe dabei: Mit etwas gutem Willen kann man in Holland das gleiche empfinden wie in der Schweiz.“ Ob das für den umgekehrten Fall auch gelten soll, lässt Huxley unerörtert.

Man möge darauf achten, welche Themen sich dem Autor zwanglos anbieten: „Langeweile ist im wesentlichen ein Urlaubsgefühl. (Ist sie nicht das chronische Leiden der Müßiggänger?)“ So öffnet einer aus England, der sich fragt, ob man nicht besser zu Hause bleibt, wenn man nicht neugierig ist, urplötzlich einen Blick auf Georg Büchner, den er nicht nur nicht erwähnt sondern vielleicht gar nicht kannte. „Für den geborenen Reisenden ist das Reisen ein eingefleischtes Laster.“ Wer aber vermutet, dass nun der Exkurs über das Laster alles beiseite drängt, irrt. Für Huxley haben Reisende und Leser Gemeinsamkeiten, die durchaus verblüffen: „Wir lesen und reisen nicht, um unseren Geist zu erweitern und zu bereichern, sondern vielmehr, um auf vergnügliche Art und Weise zu vergessen, daß es ihn gibt.“ Fast folgerichtig bewundert er die kleine Gruppe jener Leser und Reisenden, die nach System lesen und reisen. Aber, und das macht den Lektürespaß wieder an ihm aus: „Diese Gruppe verdient unsere moralische Bewunderung.“

Man konnte in Aldous Huxleys jüngeren Jahren in einem Auto quer durch Europa und über Pässe des Appenin fahren, das ganze zehn PS hatte. Wenn dann eines mit vierzig PS bergauf vorbei donnerte, schien die Welt aus den Fugen. Huxley medidiert über den Autofahrer und wie ihn das Gefährt als Mensch verwandelt. Und alles wird erst dadurch wirklich süffisant, dass er selbst gar nicht fuhr, sondern seine erste Frau, die Belgierin Maria Nys. „In meiner Jugend versuchte auch ich, mir einzureden, daß ich das Laufen mehr als andere Fortbewegungsarten schätzte. Doch ich fand ziemlich rasch heraus, daß das einfach nicht stimmte.“ Immerhin, um von Brüssel nach Oostende zu kommen, eine Strecke, die ich sehr oft fuhr, freilich mit der elffachen Menge an PS, sollte Huxley eine Fahrzeit von zwei Stunden einplanen und schaffte es dennoch nicht. (Vermutlich standen in Höhe Leuven auch noch keine Blitzer, um Ausländer zu ertappen, die schnellerr als erlaubt unterwegs waren.) Huxleys Lehre, hinfort dreißig bis sechzig Prozent mehr Zeit zu planen, hat wohl doch an fortlebender Aktualität ziemlich verloren.

Sein Vergleich mit dem Angler dafür aber wieder nicht: „Der Autofahrer erwartet ebenso wie der Angler niemals wirklich, daß man ihm seine Prahlereien abnimmt.“ „... während ich von Namur nach Dinant durch den Regen fuhr“ heißt folglich: während Maria mich durch den Regen der Wallonie kutschierte, hatte ich Zeit, das sich mir bietende Bild der realen Landschaft mit der gemalten Landschaft Joachim Patinirs in Verbindung zu bringen. (Ich bestätige die Schönheit der Gegend ausdrücklich und immer zugleich: Man fährt dort heute deutlich besser. Gelangt allerdings öfter auch an Erinnerungsorte, da man als Deutscher ganz still sein möchte.)  Zwischen Künstler und Naturwissenschaftler zieht Huxley eine mehr als nur hübsche Trennlinie: „Diesem Umstand verdanken die Wissenschaftler ihre beneidenswerte Immunität gegen die Zudringlichkeit trivialer Langweiler. Der Künstler hingegen ist eine Lieblingsbeute der wohlhabenden Arbeitslosen; ein gutes Exemplar steht annähernd so hoch im Kurs wie ein Botschafter, ja, fast wie ein indischer Mogul.“ Gemeint ist, dass vermeintlich jeder Kunst, real fast niemand aber Details der Wissenschaft versteht. Der Biochemiker als beliebter Partyschmuck entfällt genau deshalb. Sagt Huxley.

Bliebe noch ein knapper Verweis auf „Der Palio in Siena“. Huxley sieht eine positive Seite italienischer Zerrissenheit und Armut: „Hätte sich Italien während des 17., 18. und 19. Jahrhunderts seine Unabhängigkeit und seinen Reichtum bewahrt, dann hätten wahrscheinlich viel weniger Werke aus Mittelalter und Renaissance überdauert, als es jetzt der Fall ist.“ Was zynisch klingt, ist kulturgeschichtlich keineswegs an dieses Beispiel gebunden. Wer je auf der schwedischen Insel Gotland dem eigens dafür erstellten Inselplan von Dorfkirche zu Dorfkirche folgte, kann erleben, wie plötzliche Verarmung in unschätzbaren Wert umschlägt. Denn gerade Kirchen sind immer der Mode, speziell der Baustil-Mode gefolgt. „Der Palio in Siena ist ein Schauspiel, von dem man nie genug bekommt. Ich habe ihn jetzt schon dreimal erlebt und war beim letzten Mal noch genauso begeistert wie mein ersten Mal.“ Schon Siena ohne Palio war mir nah an der Offenbarung. Wer weiß, wann ich den schönen Text von Aldous Huxley gelesen hätte, wenn nicht sein heutiger 50. Todestag die Gelegenheit liefern würde.


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