Erwin Strittmatter als Musterknabe

Zu Lebzeiten Strittmatters war es eine schöne Tradition, seinen runden Geburtstagen möglichst immer ein neues Buch zu widmen. Aufbau-Verlag und Ehefrau Eva schoben und drängten, wenn geschoben und gedrängt werden musste, was nicht immer der Fall war. Wir verdanken dieser Verfahrensweise nette Titel wie „Wahre Geschichten aller Ard(t)“. Wenn zehn Jahre nach Strittmatters Tod am 31. Januar 1994 2004 „Kalender ohne Anfang und Ende“ in die Buchläden kam, dann war das auch ein Anknüpfen. Eva Strittmatter, die selbst 1986 ihr Buch „Mai in Piešt'any“ herausbrachte und es mit der Widmung „Für Erwin“ versah, stellte den alten und neuen Freunden Strittmatters nun dessen „Notizen aus Piešt'any“ vor und ermöglichte damit nicht nur reizvolle Vergleiche der Sichtweisen auf gemeinsame Erlebnisse in der Slowakei, sondern auch weitere Zugänge zu Erwin Strittmatter.

Die Notizen beziehen sich auf sechs Kuraufenthalte in Piešt'any in den Jahren 1975, 1976, 1979, 1980, 1981, 1984. Es wäre ein eigenes Thema zu schauen, was Strittmatter festhält, was er ausklammert. Die kuriose Geschichte vom späten Schwimmenlernen gehört hierhin. 1976 fehlt jeder Hinweis auf „Tina Babe“, dafür gibt es kryptische Verweise auf Tolstoi. 1984 dann macht es ihm Vergnügen, sich selbst den Alten zu nennen und rollengerecht Altersweisheiten zu Papier zu bringen. Da ist eine Menge Koketterie im Spiel, aber auch die Demonstration: Wenn alle dem Jugendwahn verfallen sind, zelebriere ich das Gegenteil. 1984 ist er, wieder einmal, bei Brecht, längst müht er sich eher, Distanzen auszustellen als die frühen Urbegeisterungen zu wiederholen. Und er geht mit sich selbst ins Gericht. Deutlich, scharf, freilich vorerst für keine Öffentlichkeit.

„DAS WAR DER GRÖSSTE IRRTUM deines Künstlerlebens, denkt der alte Mann, als du den ideologischen Schwadroneuren zur Hand und überzeugt warst (warst du wirklich überzeugt?), daß es nur möglich ist, Katastrophen wie den zweiten Weltkrieg, den du am eigenen Leibe erlebtest, für fernere Zeiten auszuschalten, wenn du deine Dichtung zur Magd der Ideologie, dieser glatten, unfruchtbaren Hetäre, machst. Gelobt seien alle geistigen Altvorderen, gelobt seien auch die wenigen Zeitgenossen, die dich aus diesem Irrtum herausholten, und manchmal warst dus auch selbst, der sich herausholte.“ Nicht nur der alte Mann, auch Ideologie und Hetäre sind zusätzlich durch Kursivdruck herausgehoben, die Helfer in ideologischer Not bekommen aber keine Namen, nicht einmal Brecht, der ausdrücklich nicht zu ihnen gezählt wird, er ist nur der listige Augsburger.

„Ein Ideal haben, sagt sich der alte Mann, heißt, aus der Welt, wie sie ist, flüchten und für eine Wunschwelt leben. Ein Ideal haben heißt, einer Ideologie hörig sein... DER WILLE ETWAS ZU SCHREIBEN, geht in der Regel von einem Ideal aus, beobachtete der alte Mann, deshalb mußt du auf das lauschen und warten, was von dir geschrieben sein will.“  Zeitig schon hat Erwin Strittmatter Neuauflagen seiner 1953 erschienenen Erzähl-Sammlung „Eine Mauer fällt“ untersagt, die keineswegs wenigen Exemplare der einzigen Auflage sind heute so rar, wie sie zu DDR-Zeiten in den Bibliotheken verstaubten. Das Antiquariatsnetzwerk ZVAB bietet kein einziges Stück. Wer wenigstens wissen will, welche Geschichten dort versammelt waren, darf keinesfalls zu Annette Leos Biographie greifen, sie enthält ihren Lesern diese wie nicht wenige andere eigentlich wichtigen Informationen vor. Sie hat den Band vermutlich nie in ihren Händen gehalten. Dafür spricht auch, dass sie „Aus dem Tagebuch eines Braunkohlenhäuers“ wohl als in einem Brief Strittmatters an den Kulturredakteur Erich Reimer genannt erwähnt, aber nicht weiß, dass dieses fiktive Tagebuch auch gedruckt wurde, wenngleich eine Weile später.

„Menschen und Werke“ hieß wenig originell eine Anthologie, die 1952 versammelte, was der Untertitel als „Vom Wachsen und Werden des neuen Lebens in der Deutschen Demokratischen Republik“ ankündigte. Das Geleitwort schrieb Alexander Abusch und auf Seite 260 findet sich  Günter Kunert mit dem aus seinem Debüt „Wegschilder und Mauerinschriften“ übernommenen Gedicht „Erst dann“. Dass das seit 1950 am häufigsten nachgedruckte Kunert-Gedicht „Über einige Davongekommene“ nicht ausgewählt wurde, versteht sich nach kurzem Blättern in der Auswahl von selbst. Unmittelbar an Erwin Strittmatter schließt sich ein „Lied der deutsch-sowjetischen Freundschaft“ von Erich Weinert an, versehen mit dem Hinweis, dass Ernst Hermann Meyer dazu eine Musik schrieb. Weinert reimte: „Steht der Weltfeind auch in Waffen, // Stalin hilft uns Frieden schaffen; // Und auf Stalin ist Verlaß.“ Das Lied endet: „Deutschlands Freiheit, Deutschlands Friede // Ruhn in Stalins Freundeshand.“

Der letzte Satz bei Strittmatter lautet, gewissermaßen zu Erich Weinert überleitend: „Ich sagte ja schon: man schreibt nicht alles auf, was einen wurmt. Manchmal aber geht einem etwas so an die Nieren, daß man es tun muß.“ Man kann den Lektor und Redakteur der Anthologie, Günter Caspar, leider nicht mehr fragen, ob das eine der berühmten Botschaften zwischen den Zeilen sein sollte, die in der DDR selbst Büchern Ruhm eintrugen, die ansonsten eher harmlos daher kamen. In Strittmatters „Aus dem Tagebuch eines Braunkohlenhäuers“ aber stehen die Worte des Endes auch schon am Anfang und bezeichnen damit ein gewisses Paradoxon. Denn der schreibende Häuer, der lange vor Ausrufung des Bitterfelder Weges also bereits auf selbigem munter unterwegs war, zeigt damit ausgerechnet in einem Tagebuch, von dessen Existenz die Kollegen zwar wissen, aber nicht wissen sollen, ausgemacht literarische Kompositionsqualitäten.

Man muss ins Geleitwort von Alexander Abusch schauen, um zu ermessen, worum es eigentlich geht. Zitat: „Der Stellvertreter des Ministerpräsidenten Walter Ulbricht hat bei der Begründung des Fünfjahrplans darauf hingewiesen, daß die Hauptaufgabe unserer Literatur gegenwärtig darin besteht, diesen Übergang zur Gestaltung des Neuen in großen literarischen Formen zu erreichen.“ Literatur, in die Rhythmen politisch-ökonomischer Fünfjahrpläne gepresst und auch mit dem passenden Vokabular behandelt, das scheint wie von einem anderen Stern und ist doch erst sechzig Jahre her. Erwin Strittmatter gehörte zu denen, die nicht erst lange Reportagen übten, ehe sie sich den Großformen näherten, wohl aber versuchte er, in den ersten Nachkriegsjahren mit zum Teil erstaunlicher Mimikry Texte bei Zeitungsredaktionen loszuwerden, von denen er vermutete, dass sie dort erwünscht sein könnten. „Aus dem Tagebuch eines Braunkohlenhäuers“ ist ein Musterbeispiel vorauseilender literarischer Planerfüllung.

Das Musterbeispiel aber vermeidet Peinlichkeiten. Darin unterscheidet es sich von anderen Musterbeispielen anderer Autoren wohltuend. Es zeigt forcierten Stilwillen und etabliert schon Sprachelemente, die ihrem Urheber später den Vorwurf eines speziellen Manierismus eintrugen, der tatsächlich in unterschiedlicher Stärke immer wieder ablesbar war und sich bisweilen fast trotzig steigerte. Man kann alles rückblickend als Abwehrreaktion gegen inkompetente Forderungen und Überforderungen deuten, es führt zur Schnorrigkeiten und auch bockbeinigen Selbstverleugnungen. In den zitierten Notizen aus der Slowakei steht: „... die, die mich einen Weisen nennen, beleidigen mich, ohne es zu wissen.“ Das sollte man ernst nehmen, so wie man die Zauseligkeit Strittmatters in fortgeschrittenen Jahren als Maskerade kaum gänzlich falsch deuten wird. Ohne zu vergessen, dass bereits „Ein Dienstag im September“, klar diesseits der 60 geschrieben, Spätprosa vorspiegelt im wahrscheinlich sehr sicheren Wissen des Vorspiegelns.

Zu DDR-Zeiten hätte man nur den Anfang des Tagebuchs aus der Braunkohle vorstellen müssen und jeder, der je in der Schule „Menschen an unserer Seite“ von Eduard Claudius lesen musste, hätte den Rest vorhersagen können. Heute steht das Wort Aktivist eher im Verdacht, Menschen zu bezeichnen, die sich an Bäume ketten oder versuchen, Walfangharpunen mit der bloßen Pudelmütze aufzuhalten. Damals aber, als die vom Frieden Stalinscher Freundschaft geprägte kleine DDR aus den Ruinen sich rappelte, waren Aktivisten Leute, die fast ohne Technik mit purer Selbstausbeutung des eigenen Körpers zum Beispiel eben mehr Kohle in einer Schicht fördern wollten. Strittmatter weicht in seinem fiktiven Häuer-Tagebuch kein Jota vom Üblichen, vom Erwartbaren ab, es geschieht immer haargenau, was niemanden überraschen kann. Da bleibt dem ambitionierten Autor tatsächlich fast nur die Lexik fürs Eigene.

Heute stört uns, wie der Tagebuchschreiber von seiner eigenen Frau spricht. Wir ahnen in Kenntnis der Strittmatter-Tagebücher, dass dahinter keineswegs selbstverständlich proletarischer Machismo stehen muss. Rabiate Männlichkeit, es freundlich zu formulieren, war auch Erwin Strittmatter alles andere als fremd. Der namenlos bleibende Bergarbeiter aber, der sein Tagebuch vom 2. Oktober bis zum 30. Oktober 1948 führt, macht sich in stilisierter Bescheidenheit selbst zum Vorbild. Die Art Erhöhung der Arbeitsproduktivität, die er vorführt, hat ihre Grenzen in schierer Körperlichkeit. Ein wirklicher Weg für den eben beginnenden Versuch, Sozialismus zu bauen, war das von Beginn an nicht. Und genau darauf deutet nichts, aber auch gar nichts im Text, was ihn wirklich wichtig gemacht hätte. Es bleibt das vergebliche Argumentieren mit dem Begriff des Volkseigentums, das auch in den vierzig Jahren danach nicht griff und sich damit selbst überführte.

Rührend wirkt heute, unter dem 17. Oktober 1948 festgehalten, der Glaube, dass das, was ein Arbeiter in der Zeitung sagt, tatsächlich von ihm gesagt wurde. Aber: „Man denkt manchmal wirklich zu wenig.“ (4. Oktober 1948) „Das Denken ist wie eine Brille, mit der man auf einmal die vielen Wurzeln sieht, durch die wir miteinander verbunden sind, wie das Pilzgeflecht mit der Baumwurzel.“ (8. Oktober 1948) Angesichts solch schräger Bildlichkeit muss man sehr tapfer sein als Strittmatter-Freund. Der nächste Band mit den Tagebüchern ab 1974 wird vielleicht auch verraten, ob er sich später jemals wieder mit seinen Uralttexten substantiell auseinander setzte, ob er dem pauschalen Selbstvorwurf von 1984 je Detailkritik beifügte. 2004 jedenfalls überraschte die Schärfe vielleicht sogar weniger als der erneut nicht mit Namen ergänzte Satz „Die Mystiker haben mir Millimeter um Millimeter die Augen für das geöffnet, was in der Welt wirklich geschieht.“ Vor zwanzig Jahren starb Strittmatter. Langweilig ist es immer noch nicht mit ihm.


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