Otto Erich Hartleben: Hanna Jagert

„Glaube mir, nicht die äußeren Feinde einer Partei sind es, die einen von ihr entfremdeten. ... Aber all jene zahllosen bitteren Enttäuschungen, die man jahraus, jahrein an Freunden und Genossen zu erleben hat, diese kleinen jämmerlichen Intrigen und lächerlichen Niedrigkeiten aller Art -: und über dem Ganzen – dies indolente Protzentum der gesinnungstüchtigen Hohlköpfe – das war es, siehst du, das alles, was mir das Parteileben schließlich zur Hölle gemacht hat! - Dazu kam, daß ich mit der Zeit j e d e Form der Vergewaltigung hassen gelernt hatte. Nicht bloß die ein oder andere. Ich sah, wie sie es trieben – diese Menschen, die vorgaben, eine bessere Zukunft gepachtet zu haben. Der Glaube, daß man die Welt erlösen könne, indem man eines Tages an die Stelle einer ... fertigen Gewalt ... diese noch unfertige setzt – er ist mir da freilich abhanden gekommen.“ Im dritten Akt lässt Otto Erich Hartleben seine Titelheldin das sagen und handelt sich damit, vor allem damit, eine der bösartigsten und erstaunlicherweise auch unqualifiziertesten Kritiken ein, die der sonst durchaus ehrenwerte und auch keineswegs qualitätsblinde Franz Mehring je schrieb.

Die Komödie „Hanna Jagert“, dreiaktig, stellt eine junge Frau in den Mittelpunkt, die als kämpferische Sozialdemokratin beginnt, die Handlung erstreckt sich über insgesamt drei Jahre, und als Gattin eines Landadligen französischer Urabkunft endet. Sie ist die Tochter eines ebenfalls sozialdemokratischen Maurerpoliers, die Verlobte eines zu drei Jahren Haft, wohl noch nach den Paragraphen des Sozialistengesetzes, verurteilten sozialdemokratischen Schriftsetzers. Als der vorzeitig entlassen wird, was anzunehmen ihm dem Vernehmen nach schwer fiel, weil es seinen Prinzipien widersprach, ist vor allem sein potentieller Schwiegervater begeistert, die Eltern haben vor Tochter Hanna geheim gehalten, wer da vom Bahnhof abgeholt wird und Hanna ist, weil sie es nicht weiß, in den entscheidenden Momente erst einmal gar nicht zu Hause. Während der Heimkehrer vollkommen selbstverständlich davon ausgeht, dass sein Leben da weiter geht, wo es durch die Haft unterbrochen wurde, ist im Leben, Denken und Fühlen von Hanna fast alles anders geworden. Sie hat einen anderen Mann kennengelernt, der ein promovierter Chemiker ist, eine profitable Erfindung gemacht hat und eine Fabrik besitzt.

Es ist erstaunlich, wie selbst in mangelnder Seriosität nicht verdächtigen Publikationen der Inhalt der Komödie an ihrem tatsächlichen Inhalt vorbei referiert werden kann. Detlev Schöttker, Autor des einschlägigen Beitrags im Killy: „In der „Comödie“ Hanna Jagert (Bln. 1893) versucht eine Sozialistin, durch Einheirat in bessere Kreise und späteres Mätressentum Unabhängigkeit und Klassenbewußtsein zu bewahren.“ Diese Formulierung lässt eigentlich nur eine Folgerung zu: der Mann hat das Stück nie gelesen. Einen Nutzwert hat sein Beitrag dennoch: er beruhigt potentiell alle, die bisweilen an WIKIPEDIA verzweifeln, mit der Botschaft: auch gedruckte Standardwerke greifen stellenweise heftig daneben. Für DDR-Bürger, die gern sagen hören, dass in ihrem untergegangenen Staat keineswegs alles schlecht war, gibt Schöttker die trostvolle Information, dass die offenbar bis dahin einzige Dissertation zu Otto Erich Hartleben 1957 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena vorgelegt wurde, Autor Georg de Reese. Von dem ich nie etwas hörte und auch im weltweiten Netz nichts fand.

Otto Erich Hartleben, dem in dem hochsympathischen Buch „Ferne komm ich her ... Erinnerungen an Berlin und Krakau“ von Stanislaw Przybyszewski, 1985 bei Kiepenheuer Leipzig und Weimar erschienen, eine mehr als hübsche Anekdote gewidmet ist, wurde am 3. Juni 1864 geboren und starb schon am 11. Februar 1905 wieder. Die Anekdote: „Paul Scheerbart wäre vermutlich nackt herumgelaufen, hätte sich nicht Erich Hartleben seiner erbarmt, der von seinem Onkel, einem reichen Senator aus Hannover, nicht nur das recht beachtliche gesamte Vermögen, sondern auch die ganze Garderobe geerbt hatte.“ Für einen bekennenden Scheerbartianer wie mich bleibt gar keine andere Chance, als diesem Hartleben erst einmal eine saftige Grundsympathie entgegenzubringen. Die Lektüre des ebenfalls in der DDR, im Eulenspiegel-Verlag 1969 sogar schon in zweiter Auflage, erschienenen Erzählungsbändchens „Vom gastfreien Pastor“ hat meiner Grundsympathie Zusatznahrung beigefüttert, so dass ich eines Tages einfach mehr wissen wollte und vor allem lesen. Hartleben hatte das Glück, mit dem Verleger S. Fischer befreundet zu sein. So etwas hilft heute nur noch selten und muss deshalb einer glücklicheren Vergangenheit zugerechnet werden.

Herbert Lehnert, Verfasser einer dickleibigen Literaturgeschichte der Zeit vom Jugendstil bis zum Expressionismus, sieht in „Hanna Jagert“ zuerst den Beleg, wie eng Naturalismus und Jugendstil zusammenhängen können, was wie immer bei solchen aufregenden Diagnosen für niemandem von Interesse ist. Mehr schon seine Sicht auf die Heldin der Komödie, die angeblich ihre Emanzipation auch gegen ihren bürgerlichen Lehrer, den oben bereits erwähnten Doktor, richtet. „Am Ende erwartet sie von dem jungen Baron ein Kind ... Mit dem Kind siegt „das Leben“ über die Emanzipation. Die neue Lebensauffassung beseitigt alte Vorurteile, Klassenschranken und sexuelle Tabus für das aufstiegsbereite Individuum, das somit reif wird, in die Oberklasse aufgenommen zu werden, um dort zur Ruhe zu kommen. Die Ausnahme-Chance wirkt als Beruhigung für die sozialen Spannungen – natürlich nur für die gebildeten Theaterbesucher.“ Wer die drei Akte der Komödie gelesen hat, wird sprachlos sein angesichts solcher rasanter Missdeutung. Von Aufstieg ist dort nämlich entweder gar nicht die Rede oder im Munde derjenigen, die Hanna Jagert nicht ansatzweise verstehen, sie gleichwohl aber beneiden und übel beleumunden.

Franz Mehring beginnt, immer ein schlechtes Zeichen, im speziellen Falle aber wohl vor allem ein Zeichen dafür, wie wund der Punkt war (und ist), den Otto Erich Hartleben traf, als er das oben Zitierte in Worte fasste, mit einer Herabwürdigung der Person des Autors, noch ehe zum Stück oder gar zum Werk insgesamt auch nur irgendein Wort gesagt ist. Übrigens lassen alle drei von Mehring zu Hartleben überlieferten Texte nicht den Schluss zu, dass er auch Prosa oder Gedichte von Hartleben kannte. Was dann beißende Ironie sein soll in der Beschreibung des vorgeblichen Inhalts der Komödie, ist Leser-Irreführung. Mehring ist natürlich viel zu klug, nicht selbst zu merken, dass er die Leser von DIE NEUE ZEIT, elfter Jahrgang 1892/93, mit seinen Angaben betrügt, deshalb entschuldigt er sich wieder scheinbar ironisch, tatsächlich aber scheinheilig, für sein Zerrbild. Dass Hartleben womöglich auf eine tatsächlich lebende Sozialdemokratin ähnlichen oder gar gleichen Namens angespielt haben sollte, stellt Mehring wohl in den Raum, vermeidet aber eine klare Aussage, auch der Apparat des Werkausgaben-Bandes, der hätte für Aufklärung sorgen müssen, schweigt sich dazu aus. Für das Stück aber und seine Qualitäten oder Nicht-Qualitäten ist es vollkommen belanglos, ob eine Figur ein lebendes Vorbild hatte oder nicht und wenn ja, wie genau oder wie frei mit dem Vorbild umgegangen wurde.

Für Franz Mehring ist Hartlebens Hanna Jagert „ein Frauenzimmer, das er in grober Spekulation auf die Skandalsucht mit einem aus der Arbeiterinnenbewegung bekannten Namen tauft. „Hanna Jagert“ sagt sich von ihrem aus langjähriger Haft zurückkehrenden Geliebten los, weil sie inzwischen durch einen reichen Fabrikbesitzer darüber belehrt ist, daß nur auf einem „schmutzigen Wege“ zum sozialdemokratischen Ziele zu gelangen sei ... Nach diesem Bekenntnis wirft sie ihr sozialdemokratisch gesinnter Vater, der vom Dichter natürlich als ein Possenreißer niedersten Kalibers gezeichnet wird, aus dem Hause, worauf jener Fabrikbesitzer ihr ein Kinderkonfektionsgeschäft einrichtet. Aus der energischen Ausbeutung von Proletarierinnen schlägt die hoffnungsvolle Person soviel Mehrwert, daß sie ihrem Leib- und Seelen-Mann seine Vorschüsse zurückzahlen kann; sie kündigt ihm zugleich oder hat ihm schon vorher zwar nicht die Freundschaft, aber doch die Liebe gekündigt. Danach macht sie, ihr Fabrikbesitzer und selbst ihre Dienerin sich einen ganzen – glücklicherweise den letzten – Akt lang über einen albernen Anbeter von reichen (sic!) Baron lustig, bis sie diesem schließlich zu seiner höchsten Beseligung erklärt, daß sie sich nun doch, trotz äußersten Widerstrebens, entschließen müsse, „gnädige Frau“ zu werden, da sie sich von ihm, nämlich dem albernen Baron, Mutter fühle.“

Viel mehr böswillige Ignoranz lässt sich kaum auf so wenige Zeilen projizieren. Von den sachlichen Fehlern nicht zu reden. Zwei Jahre Haft werden selbst harte Klassenkampf-Melancholiker nie als langjährig bezeichnen. Der angeblich zum niederen Possenreißer gemachte Maurerpolier ist bei Hartleben eher ein sozialdemokratischer Meister Anton in fast purer Hebbel-Tradition, einer jener vielen die Literatur bevölkernden Väter, die aus dem Stand bereit sind, ihren Töchtern zu misstrauen schon nach der geringsten Verdächtigung oder Verleumdung, die sich für das tatsächliche Wollen, Wünschen, Fühlen ihrer weiblichen Kinder nicht im geringsten interessieren, wohl aber vollkommen spießbürgerlich um den eigenen Ruf bei ähnlich gelagerten Nachbarn und Mitmenschen. Solche Väter sind definitiv mindestens Ekelpakete, ob sie einer Partei angehören oder nicht, welcher, wäre dabei ohnehin gleichgültig. Mehring unterschlägt aber und das macht seine Sottise doppelt ärgerlich, dass zunächst der Heimkehrer aus dem Gefängnis, der „Märtyrer“ der „Sache“, seinen künftigen Schwiegervater sehr scharf angreift, dass dieser Schriftsetzer seine Hanna verteidigt, ohne noch genauer zu wissen, worum es eigentlich geht.

Kein Wort verliert Mehring darüber, dass dieser Sozialdemokrat nicht nur bereit ist, seine Verlobte zu schlagen, sondern auch auf den Nebenbuhler, den „Reichen“ schießt und im dritten Akt aus Amerika zurückkehrt, um seine Rache auch auf Hanna Jagert auszudehnen. Mehring besitzt, als er sich wortreich dagegen verwahrt, wie Hartleben die angebliche Vorbild-Geschichte verarbeitet, die Stirn, von der Keuschheit einer Jungfrau von Orleans zu reden, mit der Hanna Jagert, so der Kritiker, sich „vor der Berührung jedes Proletariers sichert, aber gegenüber adligen und bürgerlichen Geldprotzen stets in horizontaler Bereitwilligkeit schwebt.“  Als Mehring das schrieb, muss er von allen guten Geistern vollkommen verlassen gewesen sein, ansonsten wäre ihm zu bescheinigen, dass er doch arg kleine Brötchen in den Ofen schob, wenn er von Literatur handelte. Weil die anderen auf Hartleben bezogenen Texte jedoch das widerlegen, ist hier um so deutlicher darauf zu beharren, welch brutale Abgründe sich öffnen können, wenn ideologische Kritik auch die letzte Selbstkontrolle verliert. Wenn später, als Mehring schon nicht mehr lebte, ein Chefideologe DER PARTEI solche Verdikte in die Welt setzte, konnte der betroffene Autor seines Lebens nicht mehr sicher sein, oder, in gemäßigteren Zonen, er stellte einen Ausreiseantrag.

Es sei nicht vergessen, in welcher Zeit Hartlebens Komödie spielt: März 1888 bis März 1891. Erst ein Oberlandesgericht musste die polizeiliche Zensurverfügung aufheben, die gegen „Hanna Jagert“ erlassen worden war wegen der Darstellung von außerehelichem Geschlechtsverkehr auf der Bühne. Man müsste Lachkrämpfe bekommen, wäre es nicht so ernst: das sexuelle Maximum auf der Bühne ist ein Kuss. Man hat an keiner Stelle auch nur eine Sekunde den Eindruck, als gehe es dieser Hanna Jagert, die erwacht, aufblüht, die Welt entdeckt und zuerst sieht, dass es außer dem Klassenkampf auch noch andere schöne Dinge im Leben gibt, auch nur eine Sekunde um das, was bei den 68ern ein Dreivierteljahrhundert später sexuelle Revolution hieß, was heute selbst bürgerliche Feuilletons ohne Anführungsstriche „ficken“ nennen (und dabei Buchstabe für Buchstabe immer noch wohlige Schauer empfinden vermutlich). Hanna merkt, dass es nicht Liebe ist, was sie für Liebe hielt, und wenn sie am Ende beim Freiherrn landet und nicht beim Schriftsetzer oder Fabrikbesitzer, dann hat das mit Klasse, Aufstieg oder Politik nichts zu tun. Wohl aber mit der etwas abgetretenen, aber an Wahrheit nie einbüßenden Weltweisheit: Wo die Liebe hinfällt. Wer genau liest, sieht ohnehin, dass Hanna Jagert auch bei diesem Vater ihres Kindes ihre Souveränität nicht einbüßt. Ein Tauschgeschäft mit ihrer Emanzipation findet bei Otto Erich Hartleben jedenfalls nicht statt.

Der reiche Alexander ist es übrigens, der im Stück einen schönen Satz sagt: „Es ist eine Eselei, immer bloß von Mannesmut zu sprechen.“ Er ist am Ende der nobel Verzichtende, das ist von Hartleben keineswegs an seinen sozialen Status gebunden, sondern an seine menschliche Qualität. Er erkennt Frauenmut bei Hanna Jagert, Mut, und keineswegs „horizontale Bereitwilligkeit“, wie der offenbar vom wilden Hund gebissene Mehring. Hanna hat Erfahrungen gemacht, die Mehring nicht hören will: „ ... die Menschen im allgemeinen werden nicht besser dadurch, daß sie die Macht bekommen.“ Hannas Rede von den „gesinnungstüchtigen Hohlköpfen“ muss gerade einen klugen Marxisten wie Mehring zutiefst getroffen haben, der natürlich immer wieder sah, dass aus diesem Stoff seine Partei über weitere Strecken gemacht war. Dass das 120 Jahre und mehr alte Zitat so frisch wirkt, belegt ja, wie tief hier mindestens die Substanz jener Parteien, die sich von dieser Sozialdemokratie herleiten, erfasst ist. Die Steigerung „Freund, Feind, Genosse“, bisweilen auch „Freund, Feind, Parteifreund“ gehört heute zu den Sonntagsreden-Essentials. Aller Parteien.

In der Erzählung „Der Einhorn-Apotheker“ lässt Otto Erich Hartleben politisch arg unkorrekt, wohl aber auf vertrackte Weise sein Grundthema durch einen Oberstabsarzt formulieren: „... es steckt doch mehr in den Weibern, als man früher gedacht hat. Man soll sie jetzt sogar schon zum Telefondienste verwenden können.“ „Hanna Jagert“ führt vor, was in den Weibern steckt, was von den blinden Männern um sie herum nur als Stolz, als Egoismus oder ähnlich verstanden werden kann. Dass Hartleben nicht an der Seite der Arbeiterklasse landete, was ihn laut Mehring einzig dazu befähigt hätte, sich über seine Klasse zu erheben, hat Horst Kunze, der gut gelaunte Herausgeber der DDR-Eulenspiegel-Auswahl sehr einfach begründet: „Wahrscheinlich ist es ihm nur zu gut gegangen.“ Für Menschen, denen Revolutionen wichtiger sind als Menschen, denen es gut geht, ist Otto Erich Hartleben vielleicht doch nicht der empfehlenswerteste aller alten Autoren.


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