Erich Kästner: Haarschneiden mit Musik

Heinrich Kaulen ist ein jetzt Marburger Universitätsprofessor des Jahrgangs 1953, der am 5. März 1999 einen längeren einspaltigen Artikel in einer ziemlich linken Wochenzeitung mit dem Satz begann: „Erich Kästner, hierzulande oft nur bei Gedenktagen geschätzt, ist seit langem ein internationaler Klassiker.“ Als Angehöriger des Jahrgangs 1953, der auf der rohstoffarmen anderen Seite aufwuchs, bewundere ich aufrichtig diese heute leicht im Internet nachvollziehbaren Professoren-Viten, die ein akademisches Vagabundenleben sondergleichen dokumentieren. Fast scheint es einfacher, die Universitäten aufzuzählen, an denen einer noch nicht diese oder jene Vertretungsstelle ausgefüllt hat, ehe er endlich in aller Ruhe Literaturwissenschafts-Master ausbilden darf. Unsereiner dagegen hätte sich nicht einmal habilitieren dürfen, dazu musste erst die Mauer fallen, unsereiner hätte eine Promotion B absolvieren müssen mit einem halben Pflichtjahr Sowjetunion vorher. Wenn er denn gedurft hätte, was mit seinen wissenschaftlichen Fähigkeiten nur randständig zu tun hatte.

Erich Kästner hat nach seiner Promotion über die literarischen Gegenstimmen zu Friedrich dem Großen aufgehört mit der Literaturwissenschaft. Anders wäre er nie ein internationaler Klassiker geworden. Von einem vorhergegangen Dissertationsthema Kästners redet schon keiner mehr, dafür bringt das Fernsehen, natürlich zum Gedenktag und um ihn herum, auch solche Kästner-Verfilmungen, denen der Ruf minderer Qualität hinterhereilt, nur weil es Generationen gibt, die mit solchen Filmen aufwuchsen. Ist Erich Kästner so etwas wie der Heinz Ehrhardt für Akademiker im kollektiven Gedächtnis? In der Tat, wann immer ein irgendwie greifbares Jubiläum zu benutzen war, wurde es benutzt. In der dahinscheidenden DDR war der neunzigste Geburtstag eine letzte Gelegenheit der Tagespresse, ihr jeweiliges Profil herzuzeigen. Neues Deutschland kaum überraschend mit einem 0815-Beitrag, beherrscht knapp die Tribüne und wie oft oder sehr oft die Berliner Zeitung mit dem Beitrag höchster Substanz und sichtbarster vorheriger Mühewaltung. Zehn Jahre später, die DDR war längst eine ehemalige, zeigte der Spiegel, wie man St. Pauli Nachrichten-Qualität auf den internationalen Klassiker anwenden kann, Tiefenwirkung Stefan Austs.

Das ruft alles nach der Bürste gegen den Strich. Man könnte spät, aber nicht zu spät, den bösartigen und boshaften und frappierend dogmatischen Verriss, mit dem Walter Benjamin unter dem berühmten Titel „Linke Melancholie“ über Kästner herfiel, vom Restsockel schubsen, auf den ihn die üblichen Verdächtigen der Adornoid-Blochialen Partei der Besserwisser immer wieder stellen. Es waren ja keineswegs nur die Parteisekretäre der marxistisch-leninistischen Germanistik-Institute und -Sektionen, die an Literatur herantraten, um immer zuerst und oft ausschließlich ein politisch-ideologisches Führungszeugnis des je inkriminierten Verfassers zu erstellen, angesichts dessen dann das Werk selbst von höchster Nebensächlichkeit erschien. Auch Kästner, müsste man im Ton des „Auch Pferde“ sagen, was freilich bei den westlichen Siegern der Literaturgeschichte niemand versteht, auch Kästner fand den Weg zur Arbeiterklasse nicht, geschweige denn zu deren angeblicher Partei und ein Revolutionär, nein, leider nein, war er nicht, wahrscheinlich hat er noch nicht einmal hinter einem Revolutionär gestanden, bis der seinen Stehplatz in einer Herrentoilette räumte, kräftig abschüttelnd (ein bisschen Spiegel können wir auch). Der DDR-Herausgeber von Kästner-Lyrik im Leipziger Reclam-Verlag versteckte sich im Mai 1967 noch fast komplett hinter Walter Benjamin, was wiederum bezüglich Benjamin schon fast eine hinterhältige Tat war.

Warum zieht eigentlich nie jemand von den Jubel-Schreibern Erich Kästners Büchner-Preis-Rede heran? Da sprach einer natürlich von sich, wie alle vor ihm und alle nach ihm von sich sprachen, wenn sie in Darmstadt ihre Dankbarkeit in Worte fassten. Sie sahen sich in ihren Büchner hinein und wieder heraus und fast immer kam dennoch Erhellendes über Büchner ans Licht. Bei Kästner auch. Den es wohl bis an sein vom Speiseröhrenkrebs beendetes Leben zutiefst wurmte, immer mit kess und frech und ähnlich neckisch charakterisiert zu werden. Denen Traditionslinien von Heine über Wedekind bis Ringelnatz oder Walter Mehring ohnehin gegen den Hölderlinstrich gingen, denen konnte es der in der Königsbrücker Straße 66 in Dresden geborene Kästner ohnehin nie recht machen. „Gebrauchslyrik“, Kästner hat diesen Begriff voller Ironie und in der Hoffnung, diese Ironie werde als solche auch tiefer verstanden, für sich erfunden und damit hat er freiwillig-unfreiwillig sich das finale Armutszeugnis ausgestellt. Tatsächlich, Erich Kästners Lyrik ist arm, arm an Unverständlichkeit, arm an dreister Leser-Verarsche, arm an Formkapriolen, mit denen die lyrische Edelfeder traditionell ihre substantielle Dürftigkeit erfolgreich verhüllt.

Dann hat er natürlich peinlich lange und peinlich intensiv als Journalist, als Feuilletonist gearbeitet. Dergleichen tut man nur zu Lasten seines Rufes, Fleiß gilt den Faulpelzen als Vielschreiberei, Themenvielfalt irritiert alle, die in einer Buchkritik nach Übergreifendem suchen, nach Trend oder Essential. Schon jeder Lyrikband als solcher überfordert, wie dann erst gesammelte Feuilletons, jene Glatzen mit ihren Locken? Nicht einmal vorläufige Aufzählung hilft da? Dabei ist das Essential allemal da und leicht aufzufinden, bei Erich Kästner heißt es Erich Kästner, bei Ferdinand Kürnberger Ferdinand Kürnberger und bei Peter Bichsel Peter Bichsel, ich hoffe, die Mischung war wild genug. Für die ganz Harten erwähne ich noch Moritz Gottlieb Saphir. Also haben wir auch an Erich Kästner festzuhalten, dass er arbeitete im genannten Fach, um sich, wie gern gesagt wird, in der und der Zeit über Wasser zu halten. Manche nennen es Brotarbeit, als gäbe es außerdem noch Kuchen- oder Hummerarbeit oder. Kann sich von all den Schnellrichtern der literarischen Standrechtskammern tatsächlich keiner vorstellen, dass dies auch Spaß macht, puren Spaß?

So greife ich mir, Zufall, du bist umzingelt, einen Text mit dem schönen Titel „Haarschneiden mit Musik“ heraus, zuerst veröffentlicht am 1. Januar 1928 in der „Neuen Leipziger Zeitung“. Ich lese ihn am Tag vor Erich Kästners 40. Todestag, der, schon wieder Zufall, der 70. Geburtstag von Udo Walz ist. Letzterer hat, für alle Leser, die keine Illustrierten lesen in Frisörsalons, den Ruf, der prominenteste Prominentenfrisör westlich des Urals und nördlich des Äquators zu sein, seine edlen Fingerspitzen lupften schon die Stirnlocken von Ulrike Meinhof und Angela Merkel. Kästner zitiert eingangs Richard Arnold Bermann, den die Welt unter dem Namen Arnold Höllriegel vergessen hat. Der 1883 in Wien geborene Journalist war auch ein Reiseschriftsteller (das feinere deutsche Feuilleton machte zuletzt auf eine schmale Sammlung mit Reiseberichten aus Kästners Produktion aufmerksam - „Zwischen hier und dort – Reisen mit Erich Kästner“) und soll geschrieben haben, man stelle sich New York amerikanischer vor als es wäre, Berlin wirke an manchen Stellen viel amerikanischer. Nun muss man von diesen ersten Zeilen an immer denken: Halt, das ist 1927 geschrieben, 1927, nicht 1972 oder 1999 oder gar 2014.

Kästner beschreibt den Salon „Figaro“, an den Namen in der Salonbranche ist seither vielleicht am heftigsten gearbeitet worden, der Besitzer erscheint nur mit seinen Initialen: „Normalerweise greift er keine Onduliereisen mehr an, dieser findige Haarkünstler, sondern schwebt nur über den Kopfwassern. Aber seine berühmtesten Kundinnen besorgt er selbst.“ Damals hießen die natürlich nicht Heidi Klum oder Sarah Connor oder Julia Roberts, sondern Fritzi Massary und Elisabeth Bergner. Die Herren mussten eine Treppe höher steigen: „Auf der Lehne jedes Sessels ist ein Telefon angebracht. So viele Sessel, so viele Fernsprecher! Rechts wird man rasiert, links hört man seinen Vertragsentwurf ab, den der Sekretär vorbereitet hat.“ Und die Kinderräume haben Sitze wie Karussellsitze: Pferd, Elefant, Auto, sogar ein Schwein. Kästner kommt umgehend zum so genannten Großstädter, weiter sind die heutigen Lifestyle-Magazine auch nicht: zwei Einzelfälle und dann wupp, der Trend. Der dadurch tatsächlich einer wird, dass alle 67 Lifestyle-Magazine und ihre Billig-Klone einander die Geschichten nacharbeiten. Also der Großstädter.

„Solange dieser Typus Mensch nicht arbeiten darf, will er Zerstreuung. Er haßt stille Minuten und Viertelstunden; er mag nicht stillsitzen und warten: diese Eigenheit geht so weit, daß er nicht nachdenken mag.“ Und dann: „Man muß verhüten daß er zu sich selbst kommt. Er scheint sich zu gut zu kennen, um die Bekanntschaft mit sich selber durch Besinnlichkeit zu festigen...“ Den finalen Höhepunkt gönnt sich Frisörbesucher Kästner am Gästebuch des Hauses am Kurfürstendamm: dort findet er die Namen von Ernst Toller, Fritz Kortner, Friedrich Hollaender, Klabund, Bruno Frank, Gina Kaus und Klaus Mann. Über Klaus Mann macht sich Erich Kästner am meisten lustig. Was ihm Klaus Mann ausgiebig und nachtragend dankte. Als es nämlich galt, möglichst fundamental über Kästner herzuziehen anlässlich seines neuen Buches „Drei Männer im Schnee“ von 1934, da war Klaus Mann zur Stelle und schrieb: „Das war doch einmal ein Schriftsteller. Eine Zeitlang überlegte er sogar, ob er es nicht lieber bleiben wollte. Er dachte daran, in die Emigration zu gehen. Aber inzwischen hat er mit all seinen schlagfertigen Reden dahin gefunden, wohin er also gehört.“ Aus Manns Tagebüchern und Briefen weiß man, dass er tatsächlich nur die Verlagswerbung gelesen hatte, um den Kästner zu glossieren, wie er es nannte.

Da galt nicht einmal mehr, dass Kästner eines der prominentesten Opfer der Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 war (auch das ein gern genommener Jubiläumsanlass, der die Erinnerung fördert, denn Kästner war der einzige, der zuschaute, wie seine Bücher in die Flammen geworfen wurden und er wurde dabei sogar erkannt.) Klaus Mann klammerte nicht nur den Gedanken aus, dass möglicherweise der Verlag seinen Autor Kästner schützen wollte mit seiner Art der Werbung, er gab sich auch die Blöße peinlicher Unkenntnis in Sachen Bücherverbrennung, soweit es um Erich Kästner ging: „Die Bücher des satirischen Lyrikers Kästner wurden in einer kleinen Stadt sogar auf offenem Marktplatz verbrannt.“ Die kleine Stadt hieß Berlin, ein Marktplatz war der Opernplatz schon lange nicht. Die schwarze Liste vermerkte zu Kästner „alles außer Emil“. „Emil und die Detektive“ sollte ausdrücklich nicht verbrannt werden. Gleich der zweite der neun „Feuersprüche“ lautete: „Gegen Dekadenz und moralischen Verfall // Für Zucht und Sitte in Familie und Staat // Heinrich Mann, Ernst Glaeser, Erich Kästner.“ Am 10. Mai 1958 hat Kästner auf der Hamburger PEN-Club-Tagung an den Tag vor 25 Jahren erinnert, Titel seiner Ansprache: „Über das Verbrennen von Büchern“.

Manchmal geht es mit Erich Kästner auch ganz ohne Jubiläum. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung titelte auf ihrer Seite 42 am 3. November 2013 „Revolution der ganz kleinen Leute“. Fünf lange Spalten, Autor Simon Strauß, kündigten als Premiere des Wochenendes Erich Kästners erstes Theaterstück „Klaus im Schrank“ an, Ort das Staatsschauspiel Dresden, nicht ganz korrekt Staatstheater Dresden genannt, aber das muss man in Frankfurt am Main offenbar nie so hundertprozentig genau wissen. 86 Jahre nach der Entstehung die Uraufführung, ich habe es leider nicht gesehen. Von den sehr frühen Bühnen-Sachen kenne ich nur das Hörspiel „Leben in dieser Zeit“, das auch den Weg auf etliche Bühnen fand. Zum abrupten Schluss zitiere ich noch Hans Natonek vom 20. September 1930, mustergültig ediert im Leipziger Lehmstedt-Verlag: „Kästner gehört zu den seltenen Lyrikern, die Leser haben, weil seine Lyrik sich der dringlichsten Stoffe bemächtigt hat, die alle angehen.“ Das Kästner-Buch, das ich zuletzt las, erschienen neu bei den Dressler Klassikern und von mir gekauft in Alkmaar, heißt „Till Eulenspiegel“. Das Buch endet so: „Till trieb das bis ins hohe Alter so; und immer wieder entdeckte er ein Dorf oder eine Stadt, wo man auf ihn hereinfiel. Denn die Dummen – das war schon damals so -, die sterben nicht aus.“


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