Ludwig Ferdinand Huber 250

Huber war ein Lulatsch und Therese reichlich drei Monate älter. Dafür lebte sie fast komplette 25 Jahre länger, während ihr erster Gatte Georg Forster schon unglaublich lange tot war. Als Huber seine Dora noch hatte, seine Therese aber schon wollte, stand sein Nachwelt-Status noch nicht fest. Schiller jedenfalls fand seinen Versuch, Dora loszuwerden, nicht ganz so toll, vielleicht auch in Erinnerung daran, dass er selbst, wenigstens kurzzeitig, einen etwas heftigeren Blick auf Dora geworfen hatte. Dora wiederum, wie ihre Schwester Minna, war die Tochter jenes Herrn Stock, bei dem Goethe gewisse Anfangskompentenzen, wie es heute heißt, in Sachen bildnerischer Kunst erlernte, als er zu Leipzig seinen ersten frankfurtfernen Studienaufenthalt absolvierte. Da war Goethe noch ein Schnösel und übte seine Fähigkeiten imaginierten Liebens an einer Wirtstochter mit dem passenden Familiennamen Schönkopf, Vorname Käthchen.

Lulatsch Huber starb in Ulm an einem für spätere Gedenktage denkbar ungeeigneten Tag, nämlich am 24. Dezember 1804. Das war lange bevor meine leiblichen Großeltern mütterlicherseits auf dem Umweg über Sylt, der in bestimmten Jahren der ersten vorigen Jahrhunderthälfte gar kein Umweg war, von Deutsch Krone aus in Ulm landeten. Huber liegt, wenn meine Nachschlagewerke nicht lügen, was nicht zu ihren primären Aufgaben gehören würde, auf dem katholischen Friedhof von Söflingen. Meine Großeltern findet man nur, wenn man weiß, wo sie liegen, es fehlt ein Stein. Sie haben allerdings auch keinerlei direkte Beziehung zu Schiller gehabt, während Ludwig Ferdinand Huber ohne seine Beziehung zu Schiller wahrscheinlich auch mit Stein von niemandem besucht würde. Ganz gerecht ist das nicht, aber was ist schon gerecht in der Geschichte von Nach- und sonstigen Wirkungen. Hubers Dramen erzielten keinen nennenswerten Erfolg. Und selbst wenn sie einen erzielt hätten, würde das kaum etwas bedeuten.

Hubers Dramen hießen zum Beispiel „Das heimliche Gericht“ oder „Juliane“. Vom ersten wissen wir, dass es am 11. Februar 1790 in Mannheim uraufgeführt wurde, vom zweiten kennen wir kein Uraufführungsdatum, es wäre mithin noch jungfräulich, was für seine Spielbarkeit wenig bedeuten will. Heutige Theater würden ohnehin eher geneigt sein, seine Romane zu dramatisieren, falls er welche geschrieben hätte, was er leider nicht hat. Denn Bühnentexte aufführen ist nun wirklich das Abgelatschteste, was Bühnen heute tun können, weshalb sie es, wo irgend möglich, vermeiden. Es gibt ein in Fachkreisen mehr als berühmtes Buch, das den Anschein erweckt, als hätte Huber auch Romane geschrieben. Es ist das vom vielleicht berühmtesten Kleist-Forscher herausgegebene Werk „Heinrich von Kleists Lebensspuren“, welches „Dokumente und Berichte der Zeitgenossen“ versammelt. Der Zeitgenosse Christoph Martin Wieland schrieb in der ersten Augusthälfte 1802 an seinen Sohn, den Zeitgenossen Ludwig Wieland, dass sich in Deutschland niemand für Schauspiele interessiere, die nicht von Kotzebue oder Schiller seien, niemand für Romane außer von Richter, La Fontaine oder Huber.

Gegen diese Aussage ist selbstverständlich wenig einzuwenden, nur gehört sie nicht wie in der dtv-Ausgabe dieser Sammlung von Helmut Sembdner im Personenregister zu Ludwig Ferdinand Huber. Wenn überhaupt, dann nur zu Therese Huber, der vormaligen Therese Forster, die in der Tat Romane schrieb und hier vor ein paar Wochen anlässlich ihres 250. Geburtstages bescheidene Würdigung erfuhr. Sehr wohl aber führt Sembdner letztlich zu einer Leistung Hubers, die neben seiner Rolle im Leben Schillers vielleicht sogar sehr grob zu Unrecht unbeachtet bleibt. Denn es war Ludwig Ferdinand Huber, der zu einem Zeitpunkt Heinrich von Kleist mit höchstem Lob bedachte, als den sonst buchstäblich noch niemand auf dem Schirm hatte, wie das heute zeitgeistig hieße. Die zweite unendlich verdienstvolle Sammel-Leistung Helmut Sembdners firmiert unter dem Titel „Heinrich von Kleists Nachruhm“ und dokumentiert unter vielem einen Briefwechsel zwischen dem frühen Kleist-Herausgeber Ludwig Tieck und dem heute kaum noch bekannten Ästhetiker Karl Wilhelm Ferdinand Solger (28. November 1780 bis 25. Oktober 1819).

Solgers Brief stammt vom 7. Dezember 1817 und stellt die Frage an den Romantiker Tieck: „Wissen Sie, daß Huber zuerst Kleists poetisches Talent erkannt und davon nicht unwürdig gesprochen hat? Ist es Ihnen gelegen, so zitiere ich Ihnen die Stelle genauer und ziehe sie für Sie aus.“ Tieck bat elf Tage später am 18. Dezember 1817 um Übersendung des Huber-Textes, der am 4. März 1803 in „Der Freimüthige“ erschienen war und so in der Tat eines der frühesten Dokumente der Kleist-Wirkung überhaupt darstellt. Huber befasst sich mit „Die Familie Schroffenstein“, die bekanntlich zunächt anonym erschien und Bearbeitungsphasen hinter sich hatte, die der Kritiker natürlich nicht kennen konnte. „Erscheinung eines neuen Dichters“ stand über Hubers Text, dem nachfolgend kurz Aufmerksamkeit geschenkt sei. Er beginnt höchst modern mit einer eigenen Erwartungshaltung an das Buch, der man eine gewisse Frivolität nicht absprechen kann, wozu man freilich ganz kurz ausholen muss.

Das erwähnte Trauerspiel „Das heimliche Gericht“ ist nämlich vor allem ein Ritterstück, eines der frühen Beispiele einer in Mode kommenden Gattung, die unter anderem mit Goethes „Götz von Berlichingen“ nicht wenig zu tun hat. Es geht um Feme, der Titel deutet es an, um alte Tugenden und neue Untugenden des Ritterstandes, um Freundschaft und Pflicht. Liest man die knappe Inhaltsangabe im „Dramenlexikon des 18. Jahrhunderts“, dann klingt das durchaus so, dass man sich gar eine neue Inszenierung denken könnte, dann aber das ernüchternde Fazit: „Sowohl beim Publikum als auch bei den Kritikern ist das Trauerspiel durchgefallen: Gedankengehalt und Form überwiegen, die Gestalten bleiben leblos; das auf Deklamation ausgerichtete Gespräch mit häufig verwirrenden Dialogen dominiert das Stück, und Unstimmigkeiten häufen sich.“ Da interessiert es dann kaum noch, dass einer Freundespflicht über Ordenspflicht stellte, dass eine Frau nicht verurteilt wird, weil sie Frau ist.

Weiß man das alles, dann liest sich vollkommen anders, wie Huber an „Die Familie Schroffenstein“ herangeht, „... mit allen den traurigen Erwartungen ... zu denen man bei einem Ritterschauspiel ... in der Regel berechtigt sein mag.“ Und zunächst will es Huber auch scheinen, als würde Kleist, respektive der noch unbekannte neue Verfasser, diese negativen Erwartungen auch tatsächlich bedienen. Doch dann, der Kritiker baut einen kunstgerechten Spannungsbogen, folgt die Überraschung auf dem Fuße. Denn alle merklichen Inspirationen, die von Goethe und Schiller auf das Ritterstück gewirkt haben, erschöpfen die Qualitäten des Dramas noch nicht. Ludwig Ferdinand Huber findet mehr Shakespeare bei fortschreitender Lektüre als selbst bei Goethe und Schiller und das begeistert ihn binnen kürzester Zeit. Nicht Nachahmung, sondern eigene Grazie erkennt Huber bei Kleist, mehr Shakespeare-Geist als in den vermutbaren Vorbildern aus Weimar. „Dieses Stück ist eine Wiege des Genies, über der ich mit Zuversicht der schönen Literatur unsers Vaterlandes einen sehr bedeutenden Zuwachs weissage.“ Die Mehrzahl aller heutigen Kritiker würde sich selbst in Gips gießen, gelänge auch nur einem von ihnen die Entdeckung eines Kleist als Erstentdeckung.

„Er muß, um seine Bestimmung zu erfüllen, einst etwas viel Besseres machen als seine Familie Schroffenstein“, schließt Ludwig Ferdinand Huber seine Betrachtung und man darf ihn bedauern, dass er nicht mehr erleben durfte, wie Heinrich von Kleist genau das lieferte, was da von ihm erwartet wurde: Jahrhundertdramatik mit starkem Verdacht auf Ewigkeitswert. Immerhin wissen wir, dass Kleist sehr rasch von dieser Kritik erfuhr, denn schon am 14. März 1803 schrieb er aus Leipzig an seine Schwester Ulrike, sie möge sich dezent ein Exemplar des „Freimüthigen“ beschaffen, ohne dass Herausgeber Garlieb Merkel dabei auf die Spur des anonymen Dichters gelange. Kleist vermutete hinter der ebenfalls anonymen Kritik August von Kotzebue, es ist unbekannt, ob er selbst noch die tatsächliche Urheberschaft Hubers zur Kenntnis bekam. Zu „Die Familien Schroffenstein“ sind noch weniger Zeugnisse seiner Feder überliefert als zu den anderen Werken, die ebenfalls kaum üppig dokumentiert genannt werden dürfen. Dafür darf man vielleicht die Spekulation wenigstens kurz nähren, dass Kleist für sein „Käthchen von Heilbronn“ auch einen Blick in Hubers Trauerspiel geworfen habe, von dem ja immerhin Schillers „Thalia“ erste Textproben öffentlich machte.

Kein auch nur einigermaßen ausführliches Schillerbuch verzichtet auf die malerisch-detaillierte Darstellung jenes in vieler Hinsicht bemerkenswerten Freundschaftsbundes, zu dem vier junge Leute, die Schwestern Minna und Dora Stock und deren Verlobte Christian Gottfried Körner und eben Ludwig Ferdinand Huber, den in großer Not befindlichen Schiller herausforderten, indem sie ihn nach Leipzig einluden. Bekannt ist, dass Schiller den ersten Brief mit den Porträts und dem hübschen Geschenk sehr lange liegen und unbeantwortet ließ, es gibt nicht wenige Biographen, die das mindestens unhöflich fanden und diese oder jene Erklärung zu liefern versuchten. Es ist vermutlich mehr Berechnung bei allem gewesen, als selbst gemäßigte Schillerverehrung dem hohen Idealisten zugestehen würde. Letztlich sind alle charakterologischen Erwägungen müßige Übung, denn es kam zum Aufbruch nach Leipzig, es blühte eine Freundschaft auf, die mit Körner lebenslang hielt, mit Huber nicht ganz so lange, die Romanstoff (und vielleicht bald auch einmal Filmstoff a la Schwestern Lengefeld) liefern könnte.

Den Briefwechsel Schillers mit Körner, dessen Sohn Theodor eine eigene Rolle in der deutschen Literaturgeschichte spielen sollte, ist komplett und in Auswahl wiederholt gedruckt worden, eine separate Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Schiller und Huber liegt, so weit ich sehe, nicht vor bis heute und wäre wohl am ehesten im Rahmen des Gutenberg-Projektes oder vergleichbarer Internet-Angebote denkbar, die zudem den unschätzbaren Vorteil der Verfügbarkeit hätten, den die inzwischen meist selbst für Bibliotheken unerschwinglichen Buchausgaben nie erreichen können. Ludwig Ferdinand Huber fehlt selbst in den Registern von Schiller-Büchern nicht, die ihn als Person weiter nicht wahrnehmen, denn er ist Adressat. Viele vermeintlich oder tatsächlich unverzichtbare Beleg-Zitate finden sich in Briefen an Huber. Und Schiller-Briefe gibt es auch in wohlfeilen Ausgaben, man muss dann halt nur ein wenig suchen. Fündig wird man vor allem in der Zeit der ungetrübten Freundschaft, also bis Huber, wie Schiller es sah, endgültig in die Hände von Therese Forster geriet, die von Huber schwanger wurde, als Georg Forster noch lebte. Man darf Schillers Reaktion seinem gern als hausbacken-konservativ verschrieenen Frauenbild beiordnen und wird damit nicht vollkommen falsch liegen.

Als Huber dann aber nur gut vier Monate nach seinem vierzigsten Geburtstag starb, ging es Schiller doch nahe, auch das ist nachlesbar und vielfach beschrieben. Da erinnerte er sich wieder des Mannes, der ihn in Leipzig empfing, nachdem er nach neuntätiger Reise am 17. April 1785 endlich dort eingetroffen war. Mit dem er in Leipzig und auch später in Dresden in der Nähe Körners Wohngemeinschaften gebildet hatte, dem ihm mit Beiträgen und als Redakteursgehilfe bei der „Thalia“ unverzichtbar wurde. Immer wieder dargestellt wurde die Wirkung auf den „Don Carlos“, Huber ist in die Figur des Posa eingeflossen, wobei es müßig ist, Anteilberechnungen durchzuführen. Die „Ode an die Freude“ eigens zu erwähnen, verbietet sich fast, die den Fünferbund feierte, der persönliche Kontakt zu Körner kam ja erst zeitverzögert zustande wegen dessen vielfältigen dienstlichen Verpflichtungen. Die Schiller, das ist wieder nicht ganz so bekannt, in seinem Geburtstagsspäßchen für den Freund, später „Körners Vormittag“ betitelt, so hübsch auf die Schippe genommen hat. Gleich mehrere Rollen ordnete sich darin Schiller selbst zu, darunter auch eine Frauenrolle und auch Huber war als Figur im Stück von der Partie.

Ludwig Ferdinand Huber zog 1792 mit Therese Forster in die Schweiz, 1794 heiratete er sie, sie schrieb an Hubers dreiaktigem Lustspiel „Juliane“ mit. Huber war in den Folgejahren immer wieder Herausgeber von Zeitschriften, war Übersetzer, Kritiker, im schon erwähnten „Freimüthigen“ von Garlieb Merkel äußerte er sich noch zu Schillers „Die Braut von Messina“, wobei Kritiker der Kritik diplomatisches Geschick nachsagen, soweit sie selbst das antikisierende Spätwerk Schillers für missraten halten. Der sonst durchaus urteilsfähige Henning Rischbieter etwa nannte es das fatalste Schillerstück, was selbst nur fatal genannt werden kann. 1798 kam Huber nach Tübingen, dann nach Stuttgart und schließlich nach Ulm. Dort hatte er bis zu seinem sehr frühen Tod das Amt des Landesdirektionsrates der Provinz Schwaben in der Schulabteilung inne. Ohne seine Übersetzerarbeit wäre Schiller wohl kaum zu den Details über Venedig gekommen, die er für sein bis zum lustlosen Abbruch erfolgreich und zur Begeisterung vieler Leser betriebenes Fortsetzungs-Prosawerk „Geisterseher“ benötigte. Wegen seiner Körperlänge zeichnete Schiller einmal die ewige Braut Dora auf einem Stühlchen neben ihm. Heute ist sein 250. Geburtstag.


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