Gedenkrede auf Ernst Wilhelm Lotz

Gehalten hat sie Kurt Hiller und zwar am 12. Februar 1915. Den Rahmen bot eine Gedenkfeier im Berliner Architektenhaus in der Wilhelmstraße. Das Gedenken galt nicht nur dem am 26. September 1914 südlich der Hurtebise-Ferme zwischen Cerny-en-Laonnois und Craonne gefallenen Dichter Ernst Wilhelm Lotz, es galt ebenso dem am 9. Januar 1915 bei Soissons gefallenen Dichter Walther Heymann, dem Dichter Hans Leybold, der sich in der Nacht vom 7. zum 8. September 1914 nach einer schweren Verwundung bei seinem Regiment erschoss, dem Dichter Ernst Stadler, der am 30. Oktober 1914 bei Zandvoorde nahe Ypern in Belgien den Tod fand und dem französischen Schriftsteller Charles Peguy, den ein Kopfschuss am 5. September 1914 bei Villeroy niederstreckte. Das Haus in der Wilhelmstraße 92/93, 1875 erworben vom Architekten- und Ingenieur-Verein zu Berlin, wurde 1916 ausgerechnet an das Preußische Kriegsministerium verkauft. Eine solche Gedenkfeier für Opfer beider Seiten hat es wohl nie wieder erlebt.

Ernst Wilhelm Lotz gehört zu jenen, die das Versprechen, das sie zu geben schienen, nie einlösen konnten, weil sie zu früh starben. Er gehört auch zu denen, die von der Folgegeschichte zusätzlich bestraft wurden, in dem diese von den wenigen Zeugnissen ihres Lebens und Dichtens noch einen beträchtlichen Teil vernichtete. Das betraf nicht zuletzt den Briefwechsel des Gedenkredners Kurt Hiller ( 17. August 1885 bis 1. Oktober 1972) mit seinem Freund Lotz als Bestandteil eines Konvoluts von rund 5000 Briefen, die 1933 in Nazihände fielen, es betraf auch alles, was sich am 13. Februar 1945 in Dresden in den Händen der Mutter von Ernst Wilhelm Lotz befand, es verbrannte im Inferno des anglo-amerikanischen Bombenangriffs. So wundert es nicht, dass der Textteil des spartanisch „Gedichte, Prosa, Briefe“ betitelten Bandes der in der edition text + kritik erscheinenden Reihe „Frühe Texte der Moderne“ gerade mal 200 Seiten umfasst (Herausgeber Jürgen von Esenwein). Nur die Briefe sind nicht vollständig aufgenommen, der Herausgeber begründete das mit der vorgegebenen Seitenzahl und dem weniger relevanten Inhalt einiger Briefe.

Unter den Zuhörern der Gedenkfeier waren mit Franz Blei und Max Scheler mindestens zwei, denen Kurt Hiller sicher den Zutritt verweigert hätte, wäre ihm das möglich gewesen. Auf die näheren Gründe kann hier nicht eingegangen werden. Es sei lediglich auf das berühmt-berüchtigte Buch von Scheler „Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg“ verwiesen. Im nur unvollständig abgelaufenen Jubiläumsjahr 2014 ist der anfänglichen Begeisterung, dem regelrechten Kriegstaumel auch sehr vieler deutscher Intellektueller innerhalb der kaum übersehbaren Zahl von Publikationen, darunter auch Textsammlungen, die manche verbale und denkerische Entgleisungen dokumentieren, hinreichend gedacht worden. Man kann das auch an den Briefen von Ernst Wilhelm Lotz verfolgen, die mit knapp fünfzehn Druckseiten im genannten Band von Kriegsbeginn bis zum Tod in Frankreich nicht sehr viel Platz einnehmen. Der letzte Brief an die Gattin Henny vom 15. September 1914 endet so: „Heute früh fuhr eine Granate in meinen Unterstand, der über mir einstürzte; mir ist dabei meine Zigarette zerbrochen, sonst nichts. Ich muß wirklich einen Schutzengel haben; wer das wohl ist?“ Am nächsten Tag wechselte der Schutzengel den Unterstand und Lotz war tot.

Am 5. August galten seine ersten Kriegsgedanken noch dem Roman, den er zu schreiben gedachte: „Hoffentlich kann diese unwirkliche Person zusammen mit ihrem Dichter den Krieg überleben, denn der Roman muß geschrieben werden, denn er ist wundervoll und notwendig...“. Vom Roman entstand nicht viel mehr als eine Reihe von Textsplittern, 24 Seiten sind es im Buch, die keine Vorstellung zu vermitteln vermögen, was da geworden wäre, wenn es geworden wäre. Am 7. August schreibt er dem Freund Ludwig Meidner: „Nun ist es so weit. Krieg. Maßlose Begeisterung unter den Leuten – und in mir.“ Neun Tage später, an die geliebte Henny: „Über die Schrecken und Greuel des Krieges laß mich schweigen; sie sind so brutal vorhanden, als daß ich sie Dir gleich einem Film  entrollte.“ In selben Brief vom 16. August: „Ich habe alle Sensationen des Krieges satt, die einen unmenschlichen Rohling entzücken können. Bei dem Wort Krieg sehe ich nur Unerquickliches, zerplatzte Bäuche, wimmernde Verwundete, weinende Kinder vor brennenden Häusern und brutale Kanonenschläge, die ganze Kolonnen zerfleischen.“

Keine zehn Tage hat es gebraucht bis dahin. Am 25. August: „Hier im Kriege leben wir nur in der Gegenwart, nur in der Stunde: Gestern noch auf stolzen Rossen, heute durch die Brust geschossen, morgen in das kühle Grab.“ Am 9. September während einer Eisenbahnfahrt: „Kein Mensch verrät uns, wohin.“ Ernst Wilhelm Lotz bekommt als einer der ersten seines Regiment das Eiserne Kreuz II. Klasse, er nennt nüchtern die gigantischen Verluste in seiner unmittelbaren Nähe, auch seine eigenen Vorgesetzten fallen, so dass er eine Kompanie zu befehligen hat, obwohl er von sich weiß, dass seine militärischen Fähigkeiten und Kenntnisse dazu eigentlich gar nicht ausreichen. Sein Eisernes Kreuz hat 87 Männern das Leben gekostet, er rechnet sich das jedoch so nicht vor. Lotz fiel im ersten französischen Schützengraben und liegt nach einer Umbettung in den zwanziger Jahren im 1972 bis 1974 neu gestalteten Friedhof Cerny-en-Laonnois. 7526 deutsche Gefallene haben dort ihre letzte Ruhe gefunden, 3533 in Einzelgräbern. Ob das von Jürgen von Esenwein angemerkte falsche Todesdatum korrigiert wurde, habe ich nicht überprüft.

Kurt Hiller nutzte seine Gedenkrede in der Berliner Wilhelmstraße für eine messerscharfe Abrechnung mit dem Literaturkonzept des „l'art pour l'art“, um eine Einordnung seines Freundes möglich zu machen: „Unter den paar deutschen Dichtern, die sich das Vorurteil, Äolsharfe zu sein, Reporter der Impressionen oder Registriermaschine für irrationale innere Verläufe, zusehends abgewöhnten und von Monat zu Monat deutlicher, dringender, bedrohlicher ihre prophetische Sendung, ihre Pflicht zum Aufruf, ihre Genötigtheit zu Weltläuterung und Menschheitsorganisation erlebten, war Ernst Wilhelm Lotz.“ Auch wenn sich das an den wenigen zu Lebzeiten des Dichters veröffentlichten Gedichten kaum ablesen ließ, der erste eigene Band bei S. Fischer kam erst in den Buchhandel, als Lotz schon tot war, Hiller wusste, wovon er sprach. „Lotz schrieb Verse, die wie Schmetterlinge im Frühling waren; bunt, luftig und taumelnd; alles andere als Tendenz, alles andere als Predigt.“ Das festzuhalten, war Hiller wichtig. Indirekte Politisierung erkannte er als Wirkung dieser Gedichte. Er zitierte das Gedicht „Begreift!“: „Von Dumpfheit summt das halbe Kaffeehaus...“, man darf sich dazu durchaus heutige Daueraufgeregtheiten denken.

Kurt Hiller verteidigt auf bemerkenswerte Weise das, was Ernst Wilhelm Lotz in seinen Kriegsbriefen zu Vaterland und Nation schrieb, man achte auf die Nuance: „Nur ein großer Nationist wird ein großer Internationaler sein; wer nicht Menschen liebt, kann die Menschheit nicht lieben; wer nicht sein Volk liebt, der nicht die Völker.“ Nationist, nicht Nationalist! Warum ist eine so feine Findung in all den Debatten, den nötigen wie den müßigen, den aufgeheizten wie den dumpfen vor allem in den extremen Lagern ganz links und ganz rechts nie unter die Haut gegangen? Drei Kopfschüsse haben Lotz getötet, er starb in den Armen seines Unteroffiziers, der nach dem Krieg Direktor der Freien Schulgemeinde Wickersdorf wurde. Mit sechs Gedichten ist Lotz auch in der berühmtesten aller Expressionismus-Anthologien vertreten, in der „Menschheitsdämmerung“, die Herausgeber Kurt Pinthus 1919 erstmals herausgab. Das Gedicht „Glanzgesang“ endet mit diesen zwei Zeilen: „Da sah ich, daß in vagen Finsternissen // Noch sternestumme Zukunft vor mir qualmt.“ Der am 6. Februar 1890 geborene Ernst Wilhelm Lotz gehörte einem Jahrgang an voller noch heute klangvoller Namen wie Kurt Tucholsky, Franz Werfel, Klabund, voller Namen, deren Klang nur noch nachhallt wie, beispielsweise, Ernst Blass, Kasimir Edschmid, Walter Hasenclever, Anton Kuh, Namen, die kometenhaft auftauchten und wieder verschwanden wie vor allem Soma Morgenstern, Namen, von denen wegen ihrer noch fast frischen Staatsberühmtheit offensichtlich niemand mehr etwas wissen will, wie Erich Weinert oder Hans Marchwitza. Mehr fast nicht.


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