Karl Krolows Büchner-Preis-Rede

Die DDR mochte den Dichter Karl Krolow nicht sonderlich. Erst 1987 erschien ein Poesiealbum, die Nummer 241, im Verlag Neues Leben Berlin, und als die umfangreichere Textsammlung „Wenn die Schwermut Fortschritte macht“ (Reclams Universal-Bibliothek 1330, 1990) in den Buchhandel kam, waren letzte DDR-Bücher gerade nicht besonders gefragt, was den finalen Buchjahrgang 1990 mit seinen vielen interessanten Titeln insgesamt ähnlich hart traf, man kann in Leipzig in der Nähe des Schauspiels mehrere Schaufensterauslagen mit dem „verlorenen Buchjahrgang“ betrachten. Ursula Heukenkamp umging in ihrer Darstellung „Die Sprache der schönen Natur“ Krolows Namen durchgängig, nur in den Fußnoten taucht er einmal kurz auf. Das hätte auch anders aussehen können. Jenseits der bis 1989 geschlossenen Grenze erfuhr der Dichter zwar hohe und höchste Ehrungen, unumstritten war er dennoch nie, was sich noch in einer Laudatio anlässlich der Verleihung des Friedrich-Hölderlin-Preises der Stadt Bad Homburg im Jahr 1988 niederschlug, die Peter Rühmkorf vortrug. Rühmkorf zelebrierte an jenem 8. Oktober 1988 die hohe Kunst der Laudatoren-Diplomatie, klammerte die kritischen Anlässe nicht aus, rückte sie aber auch nicht demonstrativ ins rhetorische Rampenlicht.

So muss man aus der Tatsache, dass Rühmkorf die späten Gedichte Krolows mit dem höchsten Lob versieht, rückwirkend auf die entsprechend geringere Wertschätzung der früheren schließen. Dennoch heißt es schließlich summierend: „Wie ein  wahrhaftiger Picasso der Poesie sind Sie von Periode zu Periode, von Verwandlung zu Verwandlung, von Phase zu Phase tiefer nach vorn gedrungen, immer weiter auf ein utopisches Wesen zu, das Wiederholung in der Veränderung heißt.“ Vergleicht man die Sprache dieser Lobrede mit der einer professoralen Darstellung in einem Nachschlagewerk wie der von Horst S. Daemmrich (Philadelphia) im Band 8 der Reclam-Sammlung „Deutsche Dichter“, dann sieht man erschüttert, welche unendliche Mühe es dem wissenschaftlich-systematischen Geist macht, überhaupt einen brauchbaren und nachvollziehbaren Satz zu dieser Lyrik zu Papier zu bringen. Hilflose abstrakt-allgemeine Subsummierungsversuche einer jeweils nur mit den Titeln benannten Gruppe von Gedichten, die man sich mühsam zusammen suchen müsste, unter eine in ihre Allgemeinheit banale Charakteristik, die den Lyriker offenbar als eine Art Allzweck-Anthropologen sieht, mehr nicht.

„Der Dichter prüft wiederholt sein Verhältnis zur Vergangenheit, bestimmt seinen Standort in der Gegenwart und versucht, sich Gewißheit über die grundsätzlichen Fragen der Zeit zu verschaffen.“ Welcher halbwegs ernst zu nehmende Dichter täte das nicht, möchte man fragen. „Er will seine Gedichte offenhalten, um die häufig unvereinbaren Gegensätze des Jahrhunderts an- und aussprechen zu können.“ Das würde man denn doch gern konkreter wissen, zumal es keineswegs ein Geheimnis ist, dass Krolow ab 1937 NSDAP-Mitglied war, dass er auch in Propagandablättern publizierte. Wie auch immer, als er 1956 den bis heute renommiertesten deutschen Literaturpreis erhielt, den Georg-Büchner-Preis, lagen von ihm bereits eine ganze Reihe von Gedichtbänden vor, er folgte den erst vier Preisträgern seit 1951: Gottfried Benn, Ernst Kreuder, Martin Kessel und Marie Luise Kaschnitz. Auf Krolow folgten in den nächsten Jahren Erich Kästner, Max Frisch und Günter Eich. Und da die Dankesrede in Darmstadt nach stiller Übereinkunft Georg Büchner gilt, sprach auch Karl Krolow über Georg Büchner und das natürlich auf seine besondere Weise.

Er nahm aus dem ohnehin schmalen Werk Büchners ein noch schmaleres heraus, „Leonce und Lena“. Müßig, die Frage zu erörtern, ob Krolow seine Zweifel an der Bezeichnung Lustspiel als besondere These gesehen haben wollte oder nicht. Er sagte: „Ich werde diesen Ausdruck vermeiden, weil er mir zu heikel, zu ungenau, zu wenig individuell zutreffend ist.“ Einen anderen Vorschlag machte er nicht. Denn es kam ihm darauf an, der Wirkung nachzugehen und die hängt natürlich von allem Möglichen ab, nur nicht von einer Gattungsbezeichnung. „Es sprang etwas über, Anonymes, Zauber, Geheimnis, Berückung; denn in „Leonce und Lena“ war gezaubert worden auf eine Weise, daß die Wirkstoffe weiterhin ins Blut gingen, direkt, auf der Stelle.“ Krolow, der in jener Zeit intensiv mit Übersetzungen aus dem Französischen und Spanischen befasst war, sprach von jenem „Cauchemar“, von dem er sich zu lösen entschloss, dem Alptraum, „der als schwerer Schatten über den poetischen Äußerungsversuchen der ersten Nachkriegsjahre lag.“

Peter Rühmkorf hat in seiner erwähnten Laudatio von 1988 darauf aufmerksam gemacht, dass es Wirkungen gehabt haben könnte für das Weltbild des Dichters Karl Krolow, wie dieser bei der Musterung für die Wehrmacht zu leicht befunden wurde, 88 Pfund bei einer Körperlänge von 1,77 Meter, das war selbst dieser Armee zu wenig. Fortan spielte Luftigkeit, Leichtigkeit, Schwebendes, Verfliegendes immer eine besondere Rolle in Krolow-Gedichten. Rühmkorf fühlte sich noch bemüßigt, sich bei den Psychologie-Hassern vorsorglich zu entschuldigen, als wäre tatsächlich nach dem vermeintlich für immer erledigten Psychologismus der Literaturbetrachtung nichts anderes denkbar als die Ausklammerung jeglicher Psychologie. Man darf die Eigenart von „Leonce und Lena“ in genau diese Perspektive ordnen, ohne dass die Wirkung des Spiels auf den Dichter Karl Krolow damit die einzig vorstellbare Wirkung auch auf andere zu sein hätte. „Hier hatte sich Bitterkeit im Wort erleichtert und das Wort hatte zu schweben begonnen, hatte etwas von der Schwerkraft abgegeben, die seine Bedeutung ihm zugemutet hatte, seit es ins Leben getreten war. Das Wort hatte sich gelockert. Es hatte Grazie.“

So beschreibt nur einer diesen Büchner, der Büchner selbst als einen „verborgenen Lyriker“ sieht. Das ist eine weniger überraschende Lesart, als es auf den ersten Blick scheint. Was in der viel beschworenen „Stunde Null“ galt, so Krolow, gilt 1956 noch immer, es ging um das Verbrauchen einer „gewissen Dosis Enthusiasmus“, die verblieben war. Vom Gedicht der Zeit meinte Krolow: „Es mußte nach der Atemlosigkeit wieder zu Atem kommen. Die Imagination war wieder ins Spiel zu bringen.“ Krolow hätte über die Zeiten sprechen können, die Büchners „Leonce und Lena“ bedingten und sich darin wieder fanden, nicht in platter Spiegelung selbstverständlich, aber doch prägnant. Ganze Bände sind dazu gefüllt worden, mehrheitlich später freilich. Krolow aber sah das Spiel als Zauberspiegel, in den zu schauen seinem und jedem Gedicht gut tun könnte oder sogar müsste: „Er muß sich der Verwandlung durch die leicht gewordene Phantasie überlassen, die ihn unmerklich zu weiteren, heiteren Metamorphosen führt.“ Hier käme das Lustspiel dann doch wieder still durch die Hintertür, oder? Doch hat der Redner noch eine wirklich berückende These parat.

„Erst gegen sich selber gerichtete Ironie, diese besondere Feinfühligkeit, schafft jene Überlegenheit, wie sie auch den „Leonce und Lena“ beherrscht. Sie macht die Süße erträglich und mildert die Bitterkeit.“ Steht dieser Büchner da nicht direkt neben Heinrich Heine, dass kein Blatt dazwischen passt? Oder wäre es wünschenswert, Süße unerträglich zu halten, Bitterkeit ungemildert? Wie sähen diese Gedichte aus, die Peter Rühmkorf, noch einmal zitiert, mit diesen Sätzen bedachte: „Trotzdem ist in der Literatur mit bloßem Ächzen und Geseufze natürlich kein Blumentopf zu gewinnen, auch und besonders in der Naturlyrik nicht. Sie kann nur leben und blühen, wo sie uns belebt, durch die positive Beschwörung glückhafter Daseinszusammenhänge...“. Literatur soll, so krass sagen es weder Rühmkorf noch Krolow noch irgend jemand, kein dauernder Aufruf zum Massenselbstmord sein. So taucht denn, mitten in den fünfziger Jahren, in dieser Dankesrede des Dichters Krolow gleich zweimal der Begriff Fortschritt auf. Das könnte jede Begriffsgeschichte beleben, wenn es nicht die selig-unselige Radikaltrennung der Sphären gäbe. „Der Fortschritt liegt weniger im Herausbasteln von Kleinigkeiten als in unmerklichen Verschiebungen des Gesamtklimas. Dies aber meine ich in der Entwicklung der Lyrik beobachtet zu haben, wie sie sich da und dort ergab.“

Am 21. März hat in Gera wieder einmal eine thüringische Inszenierung von „Leonce und Lena“ Premiere. Wie auch immer sie schließlich gerät, in THEATERGÄNGE wird es nachzulesen sein, den Karl Krolow von 1956 darf man ins Gepäck nehmen: „Die Bukette der poetischen Einfälle, der zauberischen Späße, bei denen Leiden und Bitterkeit unterschwellig bleiben, welkten nicht. Die reizende Topographie eines Landes der Phantasie, die hier gegeben wurde, zieht weiter die empfindlich organisierten Geister an, die in solchem Lande Heimat finden möchten; denn es hat Lyrik ohne weiche Stellen, wenn ich's so ausdrücken darf, es hat die Frische des ersten Tages, der so aussieht wie keiner der Tage, die ihm folgen.“ Weil heute der hundertste Geburtstag von Karl Krolow ist, soll das einfach so da stehen, kein Nachwort, kein Leumundszeugnis, keine B-Note.


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