Christian Fürchtegott Gellert: Die kranke Frau

Kann es ein ganzes Universitäts-Taschenbuch „Die Gattung Fabel“ geben, in dem der Name Gellert nicht ein einziges Mal vorkommt? Es kann, Hans Georg Coenen hat ein solches geschrieben. Kann es ein ganzes Taschenbuch Beck'sche Reihe geben „Mehr Licht in Deutschland. Eine kleine Geschichte der Aufklärung“, indem der Name Gellert kein einziges Mal vorkommt? Es kann, Terence James Reed hat es geschrieben. Man wird beiden Autoren nicht auf Anhieb bescheinigen wollen, gut beraten gewesen zu sein dabei. Man wird aber auch nicht umhin können, generell eine bis in die Gegenwart reichende Geringschätzung jenes Mannes zu konstatieren, der zu Lebzeiten etwas wie ein literarischer Superstar war, mit seinen „Fabeln und Erzählungen“ einen Jahrhundert-Bestseller lieferte und dem Leser und Leserinnen, was gern kolportiert wird, als Dank für ihr Leseerlebnis, zu dem er ihnen verhalf, Speckseiten und Holzfuhren kredenzten. Zwar gibt es auch heute wissenschaftliche Bibliotheken, die statt eines Honorars dem Vortragenden eines Abends einen Bildband präsentieren, doch mit dem lässt sich weder anständig heizen noch schmeckt er gebraten besonders lecker.

 

Christian Fürchtegott Gellert war eines von dreizehn Kindern, die Pastor Christian Gellert und seine Gattin Johanna Salome im sächsischen Hainichen in die Welt setzten. Er war früh kränklich und starb in seinem fünfundfünfzigsten Lebensjahr in Leipzig, wo auf dem Südfriedhof seit 2011 eine neue Grabplatte für ihn zu sehen ist. Von einem regelrechten Gellert-Kult schreibt Inge Stephan, der mit seinem Tode aber rasch zusammenbrach. Zu betrachten wäre, was da von wem gefeiert wurde und warum dann plötzlich nicht mehr. Bei Goethe, der den späten Gellert in Leipzig noch als Professor erlebte, gibt es einige Hinweise, manches an der Darstellung in „Dichtung und Wahrheit“ verwebt aber offenbare Erinnerungen an Gefühle des Zurückgesetztseins mit dem reifen Urteil aus der Kenntnis des weiteren Verlaufs der Geschichte und Literaturgeschichte, so dass nur schwer zu trennen ist, wo ein Bild authentisch daherkommt und wo eben nicht. Goethe war schon bei seinem ersten Leipziger Gastgeber Böhmer mit seiner Gellert-Liebe in ein Fettnäpfchen getreten und als er dann dem Meister nach Überwindung seiner beiden Famuli endlich Aufwartung machen durfte, gab es für den jungen Frankfurter eine nur mühsam unterdrückte Enttäuschung.

 

Goethe schreibt immer „wir“ und meint dennoch selten bis nie die anderen Kommilitonen mit. Er registriert sehr genau, dass Gellert einige Jünglinge bevorzugt und es scheinen reiche Jünglinge gewesen zu sein. Die Privilegierungen reichten vom Wohnen im Gellert-Haus bis zum freien Platz an Gellerts Tisch. Dagegen sah sich Goethe, wenn er Gellerts rote Korrekturtinte auf seinen Skripten betrachtete, eher ungerecht behandelt, was mit Blick auf das spätere Leben ja ganz sicher zutrifft, nur kannte eben Goethe, als er „Dichtung und Wahrheit“ diktierte, sein eigenes späteres Leben der folgenden fünfzig Jahre nach den Leipziger Anfängen sehr genau, während Gellert, der am 13. Dezember 1769 starb, davon nicht einmal etwas ahnen konnte. Heute lässt sich vermuten, dass bestimmte Verhaltensweisen des von ahnungslosen oder verschweigenden Biographen als ewiger Junggeselle oder hypochondrischer Hagestolz gezeichneten Gellert auf seine unterdrückten homoerotischen Neigungen zurückzuführen waren. Das einschlägige umfangreiche Lexikon „Mann für Mann“ von Bernd-Ulrich Hergemöller versteigt sich zwar nicht zu steilen Behauptungen, macht die Folgerung anhand von Gellerts Tagebuch-Fragment von 1761 aber doch wahrscheinlich.

 

Liest man die Verserzählung „Die kranke Frau“, die im ersten Band der „Fabeln und Erzählungen“ ziemlich am Ende zu finden ist, dann mag man im Wissen der genannten wahrscheinlichen Möglichkeit gar nicht nur den männlichen moralischen Sittenrichter in schreibender Aktion erkennen, der ein weibliches Laster der Verächtlichkeit bezichtigt. Man kann auch ein hinter dem stehendes erschrockenes Verstehen vermuten. Sulpitia heißt das schöne junge Weib, das munter zum Besuche ging und krank nach Hause wiederkehrt. Gellert ist Frühaufklärer und deshalb gibt es, ehe er mit der eigentlichen Erzählung loslegt, schon einmal gezielte Vorwegnahme: „Wer kennt die Zahl von soviel bösen Dingen, / die uns um die Gesundheit bringen! / Doch nötig ist's, daß man sie kennenlernt. / Je mehr wir solcher Quellen wissen, / woraus Gefahr und Unheil fließen, / um desto leichter wird das Übel selbst entfernt.“ Sulpitia simuliert nicht nur Symptome, sie hat sie. Zwei Ärzte stellen ihre jeweils falsche Diagnosen, ihre Medikation schlägt aber nicht an. Dann erscheint ein Schneider mit einem neuen Kleid und es beginnt eine wundersam rasche und nachhaltige Gesundung: „Man putzt sie an, geputzt trinkt sie Kaffee. / Kein Finger tut ihr weiter weh.“

 

Liest man den Einakter „Die kranke Frau“, den Gellert „Ein Nachspiel in einem Akte“ genannt hat, was noch auf antike Traditionen eines Theaterabend zurückweist, als Satyrspiele den Tragödien folgten, dann erkennt man, wie der Lustspieldichter seine eigene Vorlage erweitert und vertieft hat. Für Hans Friederici, der im Max Niemeyer Verlag Halle 1957 sein Buch mit dem etwas überlangen Titel „Das deutsche bürgerliche Lustspiel der Frühaufklärung (1736 – 1750) unter besonderer Berücksichtigung seiner Anschauungen von der Gesellschaft“ herausgab, war gerade dieser Einakter in gleich mehrfacher Hinsicht Gellerts gelungenstes Bühnenwerk. Den Autoren der in vielen Auflagen erschienenen Gesamt-Darstellung „Aufklärung. Erläuterungen zur deutschen Literatur“ Verlag Volk und Wissen Berlin dagegen galt pauschal: „Gellerts Lustspiele sind kein lebendiges Erbe.“ Und „Die kranke Frau“ galt ihnen dabei so wenig, dass sie sie im Fließtext zwar einmal knapp erwähnten, in den bibliographischen Angaben aber einfach verschwiegen. Doch etwas fiel auch diesen Betrachtern auf: „Mit ganz besonderer Sorgfalt und in ausgesprochen lehrhafter Absicht hat Gellert an seinen Mädchengestalten gearbeitet.“

 

Die Philippine im Hause Stephan haben die Herrschaften dennoch übersehen. Sie aber ist ein so munteres Persönchen, ein so helles Köpfchen mit großem Durchblick bei gleichzeitiger Abwesenheit aller eifernden Ambitionen, dass ich sie mir sogar in einer aktuellen Aufführung denken könnte, wo ein Regisseur den Mut aufbrächte, sich der Einfallslosigkeit zeihen zu lassen, um ein Stück in Rokoko-Gewändern und Pastellfarben spielen zu lassen voll milder Vergnüglichkeit und gar nicht so schrecklich weit weg von weiblichen Befindlichkeiten, die in ihrer offenbaren Überzeitlichkeit nie aktualisiert werden müssen, um aktuell zu bleiben. Für Gellerts Nachspiel ist es freilich wichtig zu wissen, was eine Andrienne war. Nämlich ein Schleppkleid, ein nach vor offenes, taillenloses Gebilde, das seinen Namen von einem antiken Lustspiel des Terenz her hatte am Beginn des achtzehnten Jahrhunderts, als eine französische Darstellerin der „Andria“ namens Doncourt mit ihrem Auftritt stilprägend wurde. Lessing, der hinterhältig sein könnende Kritiker, sah 1767 eine Aufführung von „Die kranke Frau“ und versteckte sich hinter drei referierten Meinungen von Besucherinnen. Das entsprechende 22. Stück aus der „Hamburgischen Dramaturgie“ wird immer zitiert, wenn es um Gellert geht und nicht nur Schnelldurchlauf angesagt ist.

 

Es ist bezeichnend, dass eine der drei sich über das Altertümliche einer Andrienne erregt, als sei es nicht vollkommen gleichgültig, welche Art weibliches Objekt der Begierde den Krankheitsschub auslöst, der aus einem ganzen Komplex von Faktoren gespeist wird. Man muss sich nur heute eine beliebige große öffentliche Veranstaltung denken, wo zwei mit gleicher Sorgfalt, mit Geschmack und Ambition ausstaffierte Damen in gleicher Robe einander im Foyer oder auf der Toilette bei der Toilette begegnen: der Herzanfall ist nah, der Kreislaufkollaps nicht minder und hier sind vielleicht noch am ehesten, die Sozialstruktur aus Gellerts Zeiten anvisiert, die unteren Stände gefeit vorm Hyperventilieren. Gellerts Frau Stephan also, noch kein Jahr verheiratet mit Herrn Stephan, hatte Vormittagsbesuch von Frau Richard und diese trug die nämliche Andrienne. Neid und Besitzlust durchrasten alle Gefäße. Frau Stephan muss sich legen, sie wähnt sich dem Tode ausgeliefert. Nur Philippine weiß aus dem Stand, was ihrer Muhme fehlt. Die Mangelerscheinung heißt Andrienne, die Therapie heißt Andrienne und es geht im Stück wie in der Verserzählung.

 

Dort ließ Gellert in den abschließenden vier Zeilen die Quintessenz hören: „Der Krankheit Grund war bloß ein Kleid gewesen, / und durch das Kleid muß sie genesen. / So heilt des Schneiders kluge Hand / ein Übel das kein Arzt gekannt.“ Warum muss, höre ich die schweinchenschlaue Frage, wenn alles auf vier Zeilen zu verdichten ist, fast alles ja dann doch nur, das andere auch aufgeschrieben werden, gespielt werden? Gellert würde sich über solches Fragen wundern, denn er wollte ein breites Publikum erreichen. Wir dagegen leben in dem staatlichen geförderten Zwiespalt, dass wir einesteils die Auflösung von Förderschulen erleben, weil der Trend Inklusion heißt, wenn ein Dichter aber die Inklusion seiner Leser anstrebt, dann rümpfen die Freunde des Inkludierens ihre Nasen, denn ihre Kunstgenüsse wollen sie dann lieber doch nicht teilen, weil an ihnen die Exklusivität fast wichtiger ist als der Gegenstand des Genusses selbst. Gellert, der alte Zeigefinger-Heber, provoziert und ermöglicht staubfreies Denken, so scheint es. Die Unbelehrbaren sehen sich ihrer Belehrbarkeit konfrontiert und erschrecken.

 

Die kranke Frau“ soll nicht überfordert werden. Es ist ein kleines Lustspiel, an dem sich Positionen von Frühaufklärung im sächsischen Deutschland ablesen lassen, das bis Bremen reichte, denn Christian Fürchtegott Gellert gehörte zu den so genannten „Bremer Beiträgern“. Man könnte von Gelassenheit reden als zeitgenössischer Weiterentwicklung von Stoa. Von Henriette als Kontrastfigur zu Philippine. Vom geschäftstüchtigen Herrn Richard wäre speziell zu reden, der das neue Kleidungsstück seiner Gattin gleich doppelt zu verhökern bereit ist. Von blinder Liebe und vom kontrollierenden Verstand. Alles ist verblüffend wenig alt und selbst die Sprache ist, wenn man nicht speziell auf rumäniendeutsche Wortakrobatik steht, so unheutig nicht. Im Einakter gibt es, was in der Verserzählung noch fehlte, auch eine Figur, deren Fragwürdigkeit besonders exponiert wird, anders als die der beiden Ärzte mit ihren falschen Diagnosen. Es gibt den „Chiromantisten“ mit dem sprechenden Namen Wahrmund, der aus Handlinien orakelt und nur wenig mehr als ein ganz kleiner Betrüger ist, auch den durchschaut Philippine mit dem Röntgenblick der Frühaufklärung. Einmal lässt Gellert sie sagen: „Man liebt an einer Frau nicht allein die Tugenden. Man liebt auch ihre Munterkeit, ihr schmeichelndes und liebkosendes Wesen, ihre einnehmende Miene, ihre gute Bildung, ihre Art, womit sie einem die Zärtlichkeiten kostbar zu machen weis.“

 

Der Preußenkönig Friedrich II., der von deutscher Literatur wenig verstand, wie man sich genötigt sieht zu sagen im Modus der Nötigung als Strafrechtstatbestand, der mochte ausgerechnet Christian Fürchtegott Gellert gut leiden. In seiner gern und mit Wonne berüchtigt genannten Schrift über den Zustand der deutschen Literatur findet sich dieser Passus: „Seien wir ehrlich und bekennen wir redlich, dass bislang auf unserem Boden die schöne Literatur noch nicht gediehen ist. Deutschland hat Philosophen gehabt, die den Vergleich mit den Alten aushalten, die diese sogar auf mehr als einem Gebiet übertroffen haben; ich behalte mir vor, später welche zu benennen. Was die schöne Literatur angeht, wollen wir aber unsere völlig Armut eingestehen. Alles, was ich Ihnen einräumen kann, ohne mich zum üblen Schmeichler meiner Landsleute zu machen, ist, dass wir in der kleinen Gattung der Fabel einen Gellert gehabt haben, der es vermocht hat, sich neben Phädrus und Äsop einen Platz zu sichern...“. Wir hatten auch einen Lustspieldichter, der der „comédie larmoyante“, dem rührenden Lustspiel, einen Platz in der deutschen Literatur verschaffte. Der mit seinem einzigen Roman „Leben der schwedischen Gräfin G....“ deutsche Romangeschichte schrieb, der mit einem Briefsteller eine ganze Schreibkultur revolutionierte, dessen geistliche Lieder Beethoven animierten und so weiter und so fort.

 

Ein kluges Frauenzimmer gilt mir mehr als eine gelehrte Zeitung, und der niedrigste Mann von gesundem Verstand ist mir würdig genug, seine Aufmerksamkeit zu suchen, sein Vergnügen zu befördern und ihm in einem leicht zu behaltenden Ausdruck Wahrheiten zu sagen und edle Empfindungen in seiner Seele rege zu machen.“ An solchen Aussagen erbaute man sich in der DDR, weil sie Volksverbundenheit zu belegen schienen, neben Parteilichkeit ein Hauptkriterium für lebendiges literarisches Erbe. Im wirklichen Leben hielt Gellert sehr gern Verbindungen zu hohem und höchstem Adel, selbst seinem Kurfürsten war er so wichtig, dass der ihm ein Pferd schenkte, um auf dem Umweg über das Reiten seine ewig angegriffene Gesundheit zu fördern. Joseph von Eichendorff nannte Gellert dennoch einen „Halbpoeten“: „Unter diesen ist der schon erwähnte Gellert der berühmteste und wirksamste geworden, weil der Mittelmäßigkeit, die bei weitem die Majorität der Lesewelt bildet, das Mittelmäßige stets am verständlichsten und willkommensten ist.“ So etwas sagt man nur in Deutschland unter Beifall. Und, wenn man, wie Eichendorff, als Beamter sein Auskommen hat und nicht von Mittelmäßigkeit leben muss. Hochmut braucht keinen extra Fall auf dem Fuße, es wäre zu schön.


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