Franz Werfel: Der Besuch aus dem Elysium

Franz Werfel und Willy Haas sind in Prag bereits im Kinderwagen nebeneinander her geschoben worden, liest man gelegentlich und es passt gut zur lebenslangen Freundschaft, die beide verband. Haas war knapp neun Monate jünger, lebte aber 28 Jahre länger als der Freund. Zum heutigen 125. Geburtstag von Werfel mag es also angehen, bei Willy Hass zu blättern. In seinen Erinnerungen „Die literarische Welt“ findet sich die hübsche Geschichte vom Abschied: „Schickele war schon schwer krank, aber Hasenclever und Werfel brachten mich zur Bahnstation. „Wieviel Geld hast du bei dir?“ flüsterte mir Werfel zu, als der Zug schon einfuhr. „Nun, du kennst ja die Vorschrift – zwei Pfund Sterling“, erwiderte ich. „Gott segne dich, Willy Haas!“ sagte Werfel schnell, umarmte mich, wie wir es gewohnt waren, und drückte mir meine Hand. Ich fühlte etwas in meiner Hand rascheln. Es war ein Tausendfranc-Schein – damals eine beachtliche Summe. Es ist das letzte, was ich von Werfel gesehen und gehört habe.“ Später sah Haas in einer indischen Kleinstadt den amerikanischen Film „The Song of Bernadette“ nach Franz Werfels mit Abstand erfolgreichstem Buch, mit einer unguten Vorahnung: „Wenige Tage später erreichte mich ein Kabel von seiner Frau, der geliebten Alma Mahler-Werfel. Franz war tot. Das wichtigste Kapitel meines Lebens war geschlossen.“

Willy Haas (7. Juni 1891 bis 4. September 1973) war, lange bevor er „Die literarische Welt“ begründete, die ihn heute noch auf ihrer Aufschlagseite Woche für Woche nennt, schon Herausgeber der „Herder-Blätter“, „auf Käsepapier gedruckt“, schreibt er rückblickend, aber auch stolz: „doch erschienen darin viele Erstdrucke von Franz Werfel, Franz Kafka, Max Brod, Robert Musil und anderen.“ Nur vier Hefte wurden es schließlich, das letzte als Doppelheft. Verteilt auf das dritte und das Doppelheft 4/5 fand Franz Werfels Einakter „Der Besuch aus dem Elysium“ seine Leser, vorangegangen war lediglich ein Privatdruck von ganz wenigen Exemplaren. In Franz Kafkas Tagebüchern finden wir unter dem Datum des 27. Mai 1912 die lakonische Notiz: „Werfel gibt mir „Besuch aus dem Elysium“. Kein Kommentar dazu, keine Lektüre-Notiz. Nimmt man die sonstigen Äußerungen Kafkas zu Franz Werfel hinzu, die beiden umfangreichsten betreffen Bühnentexte Werfels, dann könnte man den Gedanken entwickeln, hier fände sich der „Mantel des Schweigens“ an einer prägnanten Stelle. Nimmt man die Titel jener Texte, „Esther, Kaiserin von Persien“ und „Schweiger“, kann man verblüfft sein, dass Kafka ausgerechnet auf die so viel Mühe verwendet, auf die auch die größten Werfel-Liebhaber mit nicht viel mehr als Achselzucken reagieren.

Thomas Anz hat vor einigen Jahren über „Schweiger“ ein vernichtendes Urteil gefällt: „ein bestenfalls zweitrangiges, wenn nicht gar einfältiges, heute allenfalls als Zeitdokument interessantes Drama, das freilich damals mit einigem Erfolg aufgeführt wurde. Kafka war über das Stück empört.“ Warum Thomas Anz den Eindruck erweckt, als sei Kafka auf „Schweiger“ wiederholt zurückgekommen, obwohl doch alle seine Zitate dem einen einzigen Brief Kafkas an Max Brod vom Dezember 1922 entstammen, erschließt sich mir nicht, immerhin gibt es noch einen wahrscheinlich nicht abgeschickten Brief Kafkas an Werfel, ebenfalls vom Dezember 1922, in dem Kafka versucht, seine Ablehnung des Stückes zu begründen. Er drückt sich ziemlich gewunden aus, als versuche er gleichzeitig, möglichst präzise und möglichst wenig verletzend zu argumentieren, was den Brief schwer verständlich macht, weil er eine ganze Kafka-Psychologie voraussetzt. Es wäre allerdings auch kaum völlig verfehlt, die Kompetenz Kafkas in Bühnen-Angelegenheiten milde in Frage zu stellen. Ob ihm also „Der Besuch aus dem Elysium“ vielleicht noch viel mehr Bauchschmerzen bereitet hat als die beiden genannten Dramen, kann nur spekuliert werden.

Selbst Horst Denkler, Herausgeber der informativen Reclam-Anthologie „Einakter und kleine Dramen des Expressionismus“, der den „Besuch aus dem Elysium“ an den Beginn der Kapitels „Aufbruch und Aufstand“ stellte, sieht sich zu einer Rechtfertigung genötigt. „Zunächst allerdings konzentrieren sich die frühen expressionistischen Stücke, die im Gegensatz zu den Dramen der Vorläufer nun auch die neuen Inhalte ahnend erfassen und ausbreiten, auf die Vermittlungskraft der Sprache.“ Die Sprache macht, verkürzt gesagt, nach Denkler das Exemplarische dieses Einakters aus, gefolgt übrigens von Walter Hasenclevers „Das unendliche Gespräch“, in dem Franz Werfel selbst zur Bühnenfigur wird, wenn auch nur mit einem einzigen, 29 Zeilen langen Monolog, der so endet: „Wenn einst die Eitelkeiten von euch scheiden, / Verkünd ich euch das große Paradies!“ Das korrespondiert verblüffend mit dem „Besuch aus dem Elysium“, das man unbedingt im ständigen Bewusstsein des Titels lesen sollte. Wer auf den Inhalt schaut ohne jede biographische Vorkenntnis, kann an die Figur des Markus nur mit ratlosem Kopfschütteln herangehen. So redet kein normaler Mensch, drängt sich die Überlegung sofort auf. So überdreht, übersteigert, zugleich boshaft, aggressiv und auch arrogant kann einer nicht sprechen, der seiner großen Liebe gegenüber steht. Die inzwischen eine verheiratete Frau ist.

Genau hier liegt das Problem des Einakters für heutige Leser. Voraussetzungslos aufgenommen, vermittelt es den Eindruck, hier habe einer nicht recht gewusst, was er eigentlich wollte. Der expressionistische Aufschwung, der ja keineswegs von Beginn der Szene an da ist, wirkt unangemessen, er sprengt die exponierte Situation. Denn zunächst erlebt der Leser ja eine durchaus bürgerliche, ja eine ausgemacht banale Situation. Einer kommt wieder zu einem Besuch nach unbekannt langer Zeit, die einstige Liebe ist jetzt Frau Baurat und mit einer Handarbeit befasst. Schon dann aber, als der Besucher kundtut, was er inzwischen erlebte und tat, wird klar, hier ist einer nicht von dieser Welt. Das alles kann er nicht erlebt haben, es ist technisch nicht möglich und zeitlich auch nicht. Rückerinnerung an den Titel: „Besuch aus dem Elysium“. Wer nichts weiß, weiß das Wort von Schiller: „Tochter aus Elysium“, bei Werfel demnach ein Sohn von dort. Himmlisch ist es, heilig ist es, man betritt es feuertrunken. Bei Werfel dagegen verlässt man es, um eine arme junge Frau mit ihrer Sterblichkeit zu konfrontieren und ihren Mann in dessen Haus zu beleidigen. Der Gast benimmt sich, gut bürgerlich gesagt, maximal daneben.

Die Hedi des Spiels, und das hält eben auch Horst Denkler für unbedingt erwähnenswert, hat ein reales Vorbild. Der Werfel-Biograph Peter Stephan Jungk, der übrigens auch für einen längeren Zeitraum Stamm-Autor der „Literarischen Welt“ war, schildert es so: „Im Foyer des Stadttheaters von Lübeck begegnete er eines Abends Mitzi Glaser, erschrak, wie sehr verändert die inzwischen Verheiratete aussah, geradezu gewöhnlich erschien sie ihm nun. Und sie beide taten so, als hätten sie einander nicht erkannt. Unter dem Eindruck dieser Wiederbegegnung schrieb Werfel den Einakter „Der Besuch aus dem Elysium“, ein Gedicht mit verteilten Rollen, vermischte darin Tennisspiel, Tanzschule und Kosmos zu einem Ganzen: Lukas, ein Verstorbener, einst Hedwigs platonischer Geliebter, dankt, als Gespenst, seiner Peinigerin von einst, so wenig zartfühlend zu ihm gewesen zu sein ..“. Die Frage ausgeklammert, warum Jungk an dieser und einer weiteren Stelle seiner Werfel-Biographie von Lukas, statt von Markus redet, ist wichtig, dass, strenger genommen, einer rein privaten Ambition gefolgt wird. Mitzi Glaser, „Maria Glaser, Tochter des Kommerzialrats und Schokoladefabrikanten Adolf Glaser, war ein ungewöhnlich schönes, schwarzhaariges Mädchen“, verrät Jungk. In sie war Franz Werfel sterblich verliebt und zwar 1905, aber: „Er glaubte, verlogen und unrein zu sein, empfand sein dickliches Äußeres als abstoßend hässlich, hingegen erschien ihm Maria als edel, ehrlich und gut.“

Und exakt diese Maria Glaser, verheiratet Maria Glaser-Bondy, sie starb am 11. August 1935 an Brustkrebs, traf Werfel im Lübecker Theater. Und schreibt sich nun, in verspäteter Eifersucht auf die sicher nicht unglücklich Verheiratete, eine mehr als seltsame Selbstentlastung. Zunächst demontiert er ihre Schönheit, dann legt er seinem Markus dies in den Mund: „O unbeschreibliches Gefühl, Dich altern zu wissen. Vorauszuahnen Deinen schwereren Fuss, Schwangerschaft und weisses, weisses Haar! … O höchste Wollust zu denken: dieser leichte Leib liegt im Grabe und zerbröckelt.“ Man muss sich nur einen Moment vorstellen, dies sage in einem tatsächlichen Gespräch ein Besucher zu seiner Gastgeberin, um zu ahnen, was Franz Werfel hier treibt. Denn natürlich hätte er dies der realen Maria nie so gesagt. Er demontiert aber nicht nur ihre Schönheit, er drückt sie auch auf das geistige Niveau einer Leihbibliotheken-Leserin, was ihm wohl ein besonders verächtlicher Status schien. Und lässt ihr dennoch Wiedersehensfreude. Markus, ob nun Geist oder nicht nur Geist, prahlt in einer hemmungslosen Weise mit seinen Heldentaten, ihr aber verweigert der Autor jede Skepsis. Und als der Baurat hinzukommt, der sich auch freut ohne Arg über den Gast und vollkommen harmlos nach dessen Beruf fragt, antwortet Markus: „Beruf? Sprach ich vorhin nicht von Asphodeloswiesen?“

Markus nennt einen künftigen Sohn Hedis seinen Sohn und gebärdet sich wie ein Prophet. Das wiederum verwandelt den gewählten Namen Markus (oder Lukas) in einen bedeutungsbeladenen Namen. Es wäre über die Hinneigung des Prager Juden Franz Werfel zum Katholizismus zu reden, wozu hier kein Platz ist. Wenn Werfel die Hedi des Einakters sagen lässt: „Sie schienen uns alle lächerlich, weil unsere Macht zu gross war. Ach, wir dummen, schlechten Geschöpfe von damals!“, dann hängt das nur in diesem Text in der Luft. Wer aber den kleinen Roman „Der Abituriententag“ hilfsweise heranzieht und in Kenntnis der frühen Biographie Werfels weiß, dass dieser Roman viel autobiographischer ist, als man zunächst vielleicht annehmen mag, der möge sich die Figur der Marianne noch einmal vor Augen rufen. Marianne ist (auch) Mitzi Glaser und die freundliche Buchautorin, die mir kürzlich ihre gelegentlichen Ausflüge auf meine Internet-Seite gestand und schrieb, sie sehe den Untersuchungsrichter Ernst Sebastian und den Untersuchungshäftling Franz Adler als literarische Aufspaltung einer Person, hat hier eine sehr gute Argumentationsbasis. Denn Franz Adler ist es, wie Sebastian, nur erfolgreicher in gewisser Hinsicht, der sich um die Tennisspielerin und junge Dame von Welt bemüht. Und Reclam-Hefte verschenkt.

Wie sieht er aus, der sprachliche Expressionismus im Bühnendialog? Ein Beispiel, gerafft, Markus: „Sie lehrten mich, auf sachliches Glück verzichten. … so machten Sie in mir die gewaltigste Kraft meiner Natur frei. Die Sehnsucht! … Nicht Angst war es. Nein Größe, Schmerzbegierde, kosmisches Bedürfnis. … Du bist auf der Welt! Irgendwo, eine Verdichtung des zarten Äthers, eine Kontinuitätsdifferenz des Urstoffs, von schönem Gewicht, eine Form!!“ Es ist verständlich, wenn Frauen mit Selbstbewusstsein nicht zwingend Hasi sein wollen, aber Kontinuitätsdifferenz? „Widerstand und Reibung stürzten sich in mich, wie in einen schwebenden Gott.“ Oder: „In erhabner Weltrührung taumeln wir, wissend und unbewusst, weise und begrifflos, gefühlvoll und leer durch die unbemerkten Schneeebenen, Hügelländer und Teichgegenden Elysiums.“ Dagegen steht ein vollkommen profaner Fehlgriff Franz Werfels. Er lässt seine Hedi daran erinnern, „wie du in der Schule auf den beliebten Professor horchtest, wenn er mit großen Worten von großen Männern sprach?“ Solche Erinnerungen kann sie gar nicht haben, denn es gab keinen gemeinsamen Unterricht, wie dann auch „Der Abituriententag“ noch einmal sehr eindeutig vorführt. Selbst Schule in einem Gebäude und nur dort nach Geschlechtern getrennt, war damals wohl selten. Wieder aber muss man sich vor Augen halten, dass irgendeine Art von Realismus eben nicht in der Absicht dieses Einakters liegt, sonst fiele er sofort durch alle Maschen.

Immerhin ist das Provokationspotential dann doch wieder sehr irdisch und nicht aus dem Elysium: „Ha, war meine Grösse nichts anderes, als die Blödigkeit eines zwölfjährigen Masturbanten?“ Dagegen hilft nur die sofortige Wendung: „So bin ich explodiert, statt ruhig und männlich zu Ende zu brennen, und die tausend runden Dinge gehen mich nichts mehr an. Was stehst Du hier herum, Du bäuchiger Beamter? … Vielleicht nahm ich zum letztenmal nur diese Form nur an, um nun, für ewig ihn abschüttelnd, kein Mensch mehr zu sein.“ Es scheint leicht, angesichts dessen nur noch das Lächerliche dieser Ausdruckskunst zu sehen. Tatsächlich verschwand der Expressionismus auch nach nur wenigen Jahren von der Bildfläche, meint schreibt gelegentlich vom „expressionistischen Jahrzehnt“. Gegen allzu flotte Urteile ist Klaus Mann hilfreich. Er veröffentlichte 1934 so etwas wie eine Bilanz, die eines jüngeren Beobachters, nicht eines Beteiligten, Titel „1919 – Der literarische Expressionismus“. Ausgerechnet ihn am Welt-Suizid-Präventionstag zu zitieren, ist keine makabre Laune dieser Zeilen, es ist eine keineswegs überflüssige Hommage an einen überragenden Kopf. Denn nicht nur seine Schilderung des Expressionismus selbst in seinen Facetten auf den wenigen Seiten ist frappierend präzise, er hat auch Thesen parat, die weit über den Gegenstand reichen.

„Die Ekstase des Expressionismus war die eines Humanismus, der ins Kosmische explodiert.“ „Sie war sehr naiv, diese Dichtergeneration, entschlossenes Denken war wohl nicht ihre starke Seite.“ „Vor allem ist der Expressionismus ein Gefühlsausbruch von solcher Heftigkeit, wie sie seither in deutscher literarischer Sphäre nicht mehr erlebt ward. Er besaß, was später auf dem linken Flügel der Literatur immer fehlte: Enthusiasmus.“ Klaus Mann konstatiert für sich eine weitreichende Übereinstimmung mit den sehr kritischen Thesen des ungarischen Marxisten Georg Lukács und erkennt zugleich dessen Problem: „Kritiker, die einen so unerschütterlich festen Standpunkt haben wie der ungeheuer intelligente Lukács, neigen zu Verallgemeinerungen, die fast Ungerechtigkeiten sind.“ Von Werfel zitiert Mann einen Satz aus dem Jahr 1916: „Ich kann gar nicht beschreiben, wie kontradiktorisch für mich die Begriffe Poesie und Politik sind.“ Und fragt allgemein: „Ist es aber gerecht, eine große literarische Strömung nur nach ihren Mitläufern und Affen beurteilen zu wollen? Man sollte sie als Ganzes betrachten, oder nur in ihrer reinsten, gültigsten Leistung.“ Zum Schluss, ohne Kommentar: „Am ungerechtesten ist man gegen die Vergangenheit, die noch nicht lange her ist. Man neigt dazu, ihre Verdienste, ihre ganze Großartigkeit zu übersehen – nur bestrebt, ihre Irrtümer und Übertreibungen zu überwinden.“ Doch: „Das historisch gewordene Phänomen fängt an, seinen zweiten Reiz zu bekommen.“


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