Hans Joachim Schädlich: Tante liebt Märchen

Was ist eine entlegene Stelle? Wenn der habilitierte Linguist seine wegweisende Rede über die ostvogtländische Auslautung zweisilbiger Lehnwörter aus dem Mittelhochdeutschen, gehalten an der privaten Gesamthochschule Dipperdingen, in deren Lingual Abstract, zweijährig erscheinend, unter den dortigen Miszellen publiziert. Was hält die Buchgemeinschaft Bertelsmann seligen Andenkens für eine entlegene Stelle? Sie verrät es ihren Lesern vorsorglich nicht. Da die Stelle aber leicht findbar ist, was entlegene Stellen nicht primär auszeichnet, kann man es folgern. „Einzige Veröffentlichung in der DDR an entlegener Stelle: „Tante liebt Märchen“. So steht es im Beiheft zur Buchclubausgabe des Romans „Tallhover“ in der so genannten Jahrhundert-Edition. Die Rede ist, Freunde der Eine-Million-Euro-Frage und sonstige Unkundige, von Hans Joachim Schädlich. Der in Reichenbach im Vogtland am 8. Oktober 1935 geboren wurde, später als Linguist arbeitete, was für ein zufälliger Zufall, und der am 18. November 1976 in der Wohnung von Sarah Kirsch auf der Berliner Fischerinsel gemeinsam mit Kurt Bartsch seine Unterschrift auf die Liste der gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann Protestierenden setzte.

Schädlichs Name innerhalb der zweiten großen Unterzeichner-Gruppe folgt auf Jutta Hoffmann, Katharina Thalbach, Manfred Krug, Ulrich Plenzdorf, Klaus Schlesinger, Fritz R. Fries, Thomas Brasch, B. K. Tragelehn und Kurt Bartsch. Nur Fritz Rudolf Fries verließ die DDR nicht, es muss hier nicht erörtert werden, warum. Die entlegene Stelle ist die Anthologie „Voranmeldung 4. Erzählungen“ des Mitteldeutschen Verlages Halle (Saale). Wer die Verlagslandschaft der DDR ein wenig kennt (bei Bertelsmann offenbar niemand), der weiß, dass gerade dieser Verlag auf die Publikation von DDR-Autoren spezialisiert war und innerhalb dieser Spezialisierung noch besonders auf neue und Nachwuchs-Autoren (den feinen Unterschied erläutern wir an dieser Stelle nicht). Die Reihe „Voranmeldung“ startete 1968, der zweite Band mit dem Haupttitel „Die vierte Laterne“ folgte 1971, „Voranmeldung 3“ 1973 und dann, 1976 „Voranmeldung 4“. Die biografische Notiz dort nennt als den künftigen Hausverlag Schädlichs Hinstorff Rostock. Dass daraus nichts wurde, hat mit dem 18. November 1976 zu tun, die Details lassen sich in Schädlichs Text „Auf freiem Fuß“ nachlesen, erschienen in dem von Fritz Pleitgen herausgegebenen Sammelband „Die Ausbürgerung. Anfang vom Ende der DDR“ (List Verlag).

Demnach war der Noch-Nicht-Schriftsteller Hans Joachim Schädlich am 1. Juni 1976 noch keineswegs ein hoffnungsloser Fall. Er durfte sich von diesem Tag an Kandidat des Schriftstellerverbandes der DDR nennen, hatte, wie er schreibt, die Ausweisnummer 143. Günter Kunert habe ihm Kontakt zum Verlag Neues Leben vermittelt, dorthin ging ein Manuskript für einen Erzählband, 14 Prosastücke sollten schließlich aufgenommen werden, avisiert waren ein Förderungsvertrag für ein halbes Jahr, danach ein Verlagsvertrag (etwas, wofür man heute, falls man als Buchautor einen bekommt, beneidet wird). Warum „Voranmeldung 4“ den Hinstorff Verlag nannte und nicht Neues Leben, entzieht sich meiner Kenntnis, Schädlich selbst erwähnt Hinstorff mit keinem Wort. Natürlich war der Forschungsbereichsleiter ein IM, natürlich wusste er von der Unterschrift, und alles lief mit der Folgerichtigkeit, deren wiederholte Betrachtung schon lange nur noch ermüdet und abstößt. Es gab keine Variationen offenbar. Schädlich verlor die Arbeiten, die ihm einen Verdienst sicherten, war also einkommenslos, wenn auch nicht arbeitslos, das sind Autoren selbstredend nie. Ein nur halb ausgesprochener Vorwurf Schädlichs trifft auch Roland Links.

Einen Ruf als Geheimtipp muss der Noch-Nicht-Autor Schädlich, dessen früheste Arbeit im Debütband „Versuchte Nähe“ aus dem Jahr 1969 stammt und „Lebenszeichen“ heißt, gehabt haben, sonst wäre er kaum zu jenen inoffiziellen Treffen ost- und westdeutscher Autoren geladen worden, die Günter Grass anregte. Der dann auch den Kontakt zum Rowohlt Verlag herstellte, der das in der DDR nicht mehr erwünschte Buch mit nun 25 statt 14 Beiträgen 1977 auf den westdeutschen Buchmarkt brachte. Sehr schnell kursierten in Berlin diesseits der Mauer erste Exemplare, ich kam über das neugierige Blättern nicht hinaus. Und so weiß ich nicht mehr, ob mir damals „Tante liebt Märchen“ auffiel oder nicht. Ob schon in der DDR-Anthologie am abgelegenen Ort (Seite 59 bis 67) oder erst bei Rowohlt (S. 118 bis 125) oder überhaupt. Mit Tanten und dem, was sie liebten aber, da kannte ich mich bestens aus. Auch mit Tanten, die von Menschen erzählten, die ich nicht kannte. Hans Joachim Schädlich hat für DDR-Bürger eine Phänomenologie des Westbesuchs geschrieben, die dem späteren Altbundesbürger, der da noch ein gewöhnlicher alleinvertretender Bundesbürger war, zwangsläufig wenig zu sagen hatte. „Tante liebt Märchen“ hebt in den Titel, was im Text so lautet: „Tante liebt Märchen, es gibt so schöne Ausgaben, Chinesische Märchen oder Slawische.“

Zu meinen Berliner Erinnerungen der Jahre 1975 bis 1980 gehört die Jagd nach den schönen Märchenbüchern, die im normalen DDR-Buchhandel rarer waren als Trabant-Ersatzteile auf dem Automarkt. Man musste wissen, dass das tschechische Kulturzentrum vor allem, aber auch das bulgarische genau solche schönen, großformatigen, keineswegs übertrieben preiswerten Bände fast immer vorrätig hatten, nicht nur Westtanten nahmen sie gern, auch Märchensammler des Ostens. Schädlich lässt seine Leser an der Vorbereitung des Tantenbesuchs teilhaben, die Einkäufe signalisieren den Alltag einer Mangelwirtschaft, die freilich in Berlin gegenüber dem Rest der DDR wiederum wie Überfluss wirkte. Sohn Paulchen ist auf wunderbare Weise instruiert worden, wie er sich zu verhalten hat, um Tantes Wohlwollen auf sich zu ziehen: „Paulchen, der am ungeduldigsten auf Tante gewartet hat,vergisst nicht, dass wir ihm gedroht haben. Er schweigt freundlich und macht den Eindruck eines versonnenen, fast lebensfremden Kindes, das die Aufmerksamkeit der Erwachsenen allein durch seine stille Art auf sich lenkt.“ Die Tante wirft „bubble gums“ auf den Boden und Paulchen kriecht nach ihnen um die Tantenfüße.

Sophie, die Gattin des Erzählers und Mutter Paulchens (vermutlich, genau wird das nicht gesagt) hilft sich mit erhöhter Rauch-Frequenz, während die Tante monologisiert. Nur wenn sie isst, redet sie nicht und sie isst erstaunlich viel. Genau genommen besteht der Besuch aus drei einander folgenden Mahlzeiten, zum Abendessen gehören Schlemmerschnitten, die man dem Bundesbürger am ehesten über ihre strukturelle Ähnlichkeit mit dem, was man im Westen „Toast Hawaii“ nannte, vorstellbar machen könnte. Die Tante verschenkt einen gebrauchten Hut, der gar nicht so billig war, aus echtem Filz. Als die Tante dann in den Zug gesprungen ist, gestikuliert sie hinter den Scheiben, es gab keinen richtigen Abschied. Der letzte Satz lautet: „Verzweifelt lesen wir ihr jedes Wort von den Lippen ab.“ Man könnte meinen, Hans Joachim Schädlich habe das künftige Verhalten des dann ehemaligen DDR-Bürgers gegenüber den Altbürgern in großer Hellsicht vorausgesehen. Die Märchen liebende Tante war der Vorbote aller Träger von Deutungsmacht. Sie ging davon aus, dass uns interessieren muss, was sie erzählt, während sie uns nicht zu Wort kommen lässt. Sie frisst uns eine der drei Rouladen für den Sonntag weg, ignorierend, wie schwer das richtige Fleisch dafür zu bekommen ist.

Als Marcel Reich-Ranicki 1977 den Band „Versuchte Nähe“ besprach, nachlesbar in seiner Sammlung „Ohne Rabatt. Über Literatur aus der DDR“, erwähnte er „Tante liebt Märchen“ nicht. Mit dem folgenden Satz gegen Ende der Kritik dürfte diese Geschichte aber nicht gemeint sein. „Auch in Schädlichs Buch ist vieles dunkel und manches schwer oder überhaupt nicht verständlich.“ Was nicht zwingend gegen das Buch spricht. Auch ist das Fazit des Groß-Kritikers natürlich geradezu ein euphorisches: „Und Hans Joachim Schädlich, der noch vor wenigen Wochen ein Unbekannter war und heute zu den besten deutschen Erzählern seiner Generation gerechnet werden muss? Wir meinen: Auch er wird seinen Weg machen. Wer wollte so kurzsichtig sein, ihn daran zu hindern?“ Die Aufmerksamkeit der Kritik hat Schädlich seither immer gefunden, Preise gleich in Serie bekommen. Schon sein siebzigster Geburtstag animierte jede Feuilleton-Redaktion, die auf sich hielt, die Leser folgten nicht ganz im gleichen Schrittmaß. Zehn Jahre später ist der Autorenjahrgang 1935, ein starker in den Grenzen der DDR, schon heftig ausgedünnt. Schädlich ist in dem Alter, da neue Bücher eher aus alten Schubladen kommen. Wie jetzt eben „Catt“ (Verbrecher Verlag).


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