Lily Braun 1865 - 1916

Mein Archiv-Ordner, der die Materialien zu Lily Braun enthält, die heute vor hundert Jahren und mitten im Krieg an den Folgen eines Schlaganfalls im Alter von nur 51 Jahren starb, sortiert sie zwischen den Bibelwissenschaftler Johann Franz Wilhelm Bousset und den Geographen und Polarforscher Erich von Drygalski ein. Das liegt am Alphabet und am Geburtsjahr 1865. Am Ende des real existierenden Sozialismus 1989ff liegt es, dass die bürgerliche Frauenrechtlerin und Sozialdemokratin mit Adelsstammbaum nicht mehr durch die Brille der Clara Zetkin gesehen werden muss, obwohl diese durch ihre Brille auch im übertragenen Sinne durchaus scharf sah. Als vor Jahresfrist der hundertfünfzigste Geburtstag von Lily Braun zu begehen war, da machte im Eifer des Gefechts das seriöse Deutschlandradio Kultur die Faktenfehler gleich in Serie. Arno Orzessek verwandelte den Sohn Otto Braun in den Ehemann, Ulrike Rückert dichtete dem Geburtsnamen einen zusätzlichen Buchstaben an. Lässliche Sünden, heißt es aus Kreisen der großzügigen Pfuscher, während die wirklichen Dichter schweigen. Otto Braun, der Dichter, wurde übrigens noch Opfer des Weltkriegs, den seine Mutter begeistert begrüßt hatte und in den er freiwillig zog: 1918.

Der Vater, ein General, fiel in Ungnade, man kann wahlweise lesen, weil er den Kaiser Wilhelm II. 1890 in einer Manöverschlacht besiegte oder weil er ihn kritisierte. Hätte Lily Brauns Vater die heutigen Ratgeberseiten der Tages- und Wochenzeitungen zur Verfügung gehabt, hätte er aus der Feder von vier Dutzend Karriereberatern, die aus ihren einschlägigen Büchern zitierten, erfahren können, dass man nie, nie, nie einem Vorgesetzten zeigen darf, dass man ihm überlegen ist. Der Vorgesetzte, wenn es kein Kaiser ist, kann es auch schon mal ein Chefredakteur sein, nimmt das irreversibel übel. Die Generalsfamilie musste in eine kleine Wohnung des Berliner Westens ziehen, heute würde sich jeder über diese Wohngegend freuen, damals offenbar eher nicht. Lily, die eigentlich Amelia Jenny Emilie Klothilde Johanna hieß und dann einen im Rollstuhl sitzenden Philosophie-Professor heiratete, der nicht mehr lange lebte, war, was man gern eine schillernde Persönlichkeit nennt. Im zweibändigen DDR-Lexikon für deutschsprachige Literatur schließt der knappe Beitrag über sie mit einem bezeichnenden Zitat von Franz Mehring über „Kampfjahre“, den zweiten Band des seinerzeitigen Bestsellers „Memoiren einer Sozialistin“ (1909/1911).

Das Zitat lautet im Original aus dem zweiten Band des 29. Jahrgangs 1910/11 von „Die Neue Zeit“: „Er schmeichelt den verdorbenen Instinkten der Bourgeoisie nicht nur durch den eigentümlichen Mangel an Scham, mit dem die Verfasserin, wie schon im ersten Bande, über ihr intimstes Geschlechtsleben berichtet, sondern ebenso oder noch mehr durch den kleinlichsten Parteiklatsch: einen Klatsch, der die Wahrhaftigkeit der Verfasserin etwa ihrer Schamhaftigkeit gleichwertig erscheinen lässt, aber sich allen blöden Vorurteilen des kapitalistischen Protzentums vortrefflich anschmiegte.“ Im Münchener Verlag Albert Langen, der den 657-Seiten-Wälzer in gehefteter Form herausgab für damals sechs Mark, wird man sich gerade über diese Art Werbung kaum geärgert haben. Intimes Geschlechtsleben und Verletzung der Scham, damit hat es hundert Jahre später noch Charlotte Roche in wirklich alle Großfeuilletons geschafft, im prüden Kaiserreich muss das eine Bombe gewesen sein, obwohl ja letztlich mit dem intimen Geschlechtsleben, wie Mehrings Besprechung des ersten Bandes zu entnehmen ist, nur die erste Menstruation des Mädchens Lily gemeint war und „höchst intime Sachen aus der Hochzeitsnacht ihrer Eltern“.

Wer sehr begierig ist, das nachzulesen, die „Memoiren einer Sozialistin“ gibt es als Neudruck in ungekürzter Fassung aus dem Bonner Dietz Verlag (832 Seiten) oder als straff gekürzte Variante aus dem Münchner Piper-Verlag (447 Seiten), beide 1985 erschienen. Auf der sehr empfehlenswerten CD-ROM der Digitalen Bibliothek (Nr. 102), Titel „Deutsche Autobiographien 1690 – 1930“ sind beide Bände nicht nur komplett nachzulesen, sondern auch gezielt zu durchsuchen mit den entsprechenden Programmoptionen. Um so erstaunlicher ist es beispielsweise, dass Michaela Holdenried in ihrer Darstellung der Geschichte der deutschsprachigen Autobiographie (Reclam Stuttgart 2000) Lily Braun noch nicht einmal namentlich überhaupt erwähnt, geschweige denn sie behandelt. Die ebenfalls sehr stiefmütterlich mit Lily Braun umgehende Gesamtdarstellung „Schreibende Frauen“ (suhrkamp taschenbuch) nennt immerhin wenigstens die beiden Bücher „Lehrjahre“ und „Kampfjahre“ als Titel in einer Reihe von Büchern, in denen Frauen erzählen, „wie sie dazu gekommen sind, Sozialistinnen zu werden“. Sonst passt Lily Braun natürlich denkbar schlecht ins Weltbild des Feminismus nach 1968, der die Kunst des Ausgrenzens früh beherrschte.

Ein Jahr vor den Neudrucken der „Memoiren“, das Bonner Buch trägt übrigens den zusätzlich werbeträchtigen Aufdruck „Das Buch zum ZDF-Fernsehfilm „Zerbrochene Brücken““, erschien als Fischer-Taschenbuch die Biographie „Rebellin gegen Preußen. Das Leben der Lily Braun“, geschrieben von Dieter Borkowski (1. November 1928 – 22. Februar 2000). Borkowski veröffentliche 1984 die erste Honecker-Biographie im Westen („Erich Honecker. Statthalter Moskaus oder deutscher Patriot?“), war in den frühen 50er Jahren Mitarbeiter Honeckers und wurde 1972 aus seiner zweiten DDR-Haft gegen Spione ausgetauscht. Man darf also von einer kurzen Zeit einer Lily-Braun-Renaissance ausgehen, auch in späteren Jahren gab es immer wieder einmal Veröffentlichungen, meist im Rahmen von Auseinandersetzungen mit der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, ihre Romane dagegen bezeichneten die Autorinnen Antje Trosien und Claudia Walther in der „Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft“ 1997 schlicht als „eminent kitschig“. Und nannten als Beleg die Titel „Im Schatten des Titanen“, „Mutter Maria“ und „Die Lebenssucher“. Kitschig schrieben auch andere Sozialdemokratinnen, etwa Minna Kautsky.

Fast ein kleiner Treppenwitz der Geschichte ist es, dass die baldige Intimfeindin von Lily Braun, Clara Zetkin, den Erstkontakt der Ex-Aristokratin mit ihrem späteren zweiten Ehemann Heinrich Braun (23. November 1854 – 9. Februar 1927) vermittelte. Dessen vierte Frau Julie Vogelstein (26. Januar 1883 – 6. Februar 1971) wurde wiederum die erste Biographin von Lily Braun. Sie veröffentlichte 1919 Gedichte aus Otto Brauns Nachlass, 1922 „Lily Braun. Ein Lebensbild“ und 1932 noch „Ein Menschenleben. Heinrich Braun und sein Schicksal“. Clara Zetkin hat Lily Brauns umfangreiches Hauptwerk „Die Frauenfrage“ klassisch verrissen, die Gescholtene hat sich später in ihren romanhaften Memoiren dadurch gerächt, dass sie eine Figur namens Wanda Orbin auftreten ließ, die nach Zetkin modelliert scheint. Zetkin wollte eine saubere Trennung zwischen bürgerlicher und proletarischer Frauenbewegung, keine Kompromisse. Diese Auffassung hat bis ans Ende des ersten welthistorischen Fehlversuchs Sozialismus in der Theorie der friedlichen Koexistenz fortgewirkt, die ideologische Koexistenz nicht nur ausdrücklich ausschloss, sondern sogar als einen Hauptfeind ausmachte. Bündnisse mit auch nur teilweise Andersdenkenden sind bis heute im linken Milieu Dauerthema, der Hauptfeind steht am liebsten im eigenen Lager.

Liest man heute, was Lily Braun, die eine glänzende Rednerin gewesen sein soll, zu verschiedenen Themen so zu Papier brachte, dann ist man von der Frische und Lebendigkeit nicht weniger Gedanken überrascht, nette Appetithäppchen finden sich etwa in der Stuttgarter Reclam-Textsammlung „Die Frauenfrage in Deutschland 1865 – 1915“, die fast genau die kurze Lebenszeit der Sozialdemokratin Braun umfasst. Fast immer zitiert wird: „Will die Menschheit schließlich nicht sich selbst aufgeben, so wird sie die kapitalistische Wirtschaftsordnung aufgeben müssen.“ Nicht zitiert wird: „Das konservativste Element in der Menschheit, das weibliche, wird zur Triebkraft des radikalsten Fortschritts.“ Die erste Hälfte das Satzes ist der Stein des Anstoßes. Auch Lily Brauns Hochschätzung der Mutterschaft brächte heute kaum Sympathiepunkte, obwohl sie nichts sagt, was aus dem Rahmen fiele. Nur die Deutungs-Hohepriesterschaft setzt andere Akzente. Schließen wir mit ihrem klaren Wort: „Freie, starke, selbständige Frauen sind die Voraussetzung freier, starker, mutiger Männer.“ Lily Braun hatte übrigens auch schon die Idee, Unverheiratete und Kinderlose besonders zu besteuern. Der Aufschrei darüber erneuert sich bei passender Gelegenheit.


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