Walter Werner 90

Unter den Postalien, die ich von ihm habe, sind sehr wenige, die seine eigene Unterschrift tragen. Er war der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes im Bezirk Suhl, ihm stand, unvorstellbare Zeiten, eine Sekretärin zur Verfügung, die im Auftrag unterzeichnete. Die meist knappen Botschaften waren dennoch von ihm. Die allererste erreichte mich vor mehr als vierzig Jahren erst auf einem Umweg. Denn ein Einberufungsbefehl hatte mich von meinem Wohnort ans andere Ende dieser kleinen Republik beordert, strafweise, wie ich später erfuhr, weil ich so hartnäckig längeren freiwilligen Dienst verweigert hatte. Walter Werner aber war von Hannes Würtz in Kenntnis gesetzt worden, dass da im Süden, also von Berlin, Hauptstadt der DDR, aus gesehen, hinter den Bergen bei den sieben Zwergen oder Löffelschnitzern ein Gedichte produzierendes Wesen lebe, dem Förderung nicht schaden könne.

Ich hatte noch vor meinem Abtransport gen Rostock einmal an einem Zirkel teilgenommen, den Joachim Knappe leitete, es muss eine schreckliche Erfahrung gewesen sein, wie manche Briefäußerungen meinerseits belegen. Knappe verstand von Lyrik offenbar nichts oder erweckte jedenfalls mir den Anschein und der Zirkel war eine Art Knappe-Fanclub, der sich zum Lobe des Herrn traf. Das wollte ich nicht öfter erleben. Nun gab es plötzlich diese Zuwendung eines mir nicht einmal dem Namen nach sonderlich vertrauten Mannes, ich im bis dahin tiefsten Loch meines Lebens, unter Sadisten, Idioten und verzweifelt sich einrichten wollenden Mitleidenden, die sich Mot.-Schützen nannten. Ich las nicht mehr, ich schrieb nicht mehr, weniger ging nicht.

So weit es meine Ordner hergeben, habe ich Walter Werner nicht geantwortet. Nach der Menschwerdung aber, die damals Entlassung hieß, hielt ich bald einen neuen Brief in den Händen, er erreichte mich auf direktem Wege und von Ende 1973 an datiert ein regelmäßiger Kontakt, dessen Höhepunkt zweifellos ein Brief vom 18. August 1974 ist, „In Eile, aber trotzdem mit lieben Grüßen“ unterschrieben. Dieser Brief signalisierte mir das Interesse des Mitteldeutschen Verlages an meinen Gedichten, von denen Walter Werner etliche, die ich ihm zur Verfügung gestellt hatte, seinerseits seinem Hausverlag weiterreichte. Bis ich 1977 endgültig jeden Versuch einstellte, einem DDR-Verlag oder einer DDR-Redaktion Texte von mir anzubieten, durchlebte ich noch das Schlüsselereignis Vorbereitung der Anthologie, die später den Titel „Kein Duft von wilder Minze“ erhielt. Von meinen Gedichten war seitens des Verlages nie wieder die Rede.

Walter Werner aber, der damals ja jünger war als ich heute bin und mir immer den Eindruck eines väterlichen Mannes machte, band mich an den Verband, ganz am Anfang hieß das noch AJA (Arbeitsgemeinschaft junger Autoren), später gab es die so genannte Gasthörerschaft. Doch erst nach Ende meines Studiums und meiner Rückkehr aus Berlin nach Ilmenau knüpften sich alte Fäden wieder, ich leitete nun selbst einen „Zirkel schreibender Studenten“ wie zwischen 1973 und 1975 bereits kurzzeitig und als ich begann, Literaturkritik zu schreiben, war es der Verband, dem nunmehr Landolf Scherzer vorstand, der mich einlud und mich im Mai 1989 sogar noch zum Kandidaten kürte. Was freilich bald so wertlos war wie der Staat, dessen Substanz zerbröselte, dessen Strukturen implodierten und unter anderem völlig verstörte, eben noch kurios privilegierte Schriftsteller in der Konkursmasse treiben ließ.

Walter Werner entwickelte mir gegenüber eine mich immer verlegener machende Anhänglichkeit. Ich hatte mich offenbar innerhalb von anderthalb Jahrzehnten aus einem irgendwie nicht ganz begabungsfreien Junglyriker in eine Autorität in Sachen Literatur verwandelt. Fast erschrocken registrierte ich, wie fast alles, was ich sagte, für bare Münze genommen wurde. Selbst wenn ich sprichwörtlich dünnes Eis betrat, Walter Werner nickte freundlich, fragte gern und ließ sich, wie er wohl glaubte, belehren. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich verstand, aus welcher Quelle das kam und dann machte es mich noch verlegener. Denn er hat zeitlebens mit seinen Bildungsdefiziten als Volksschüler gehadert, er war begierig, immer begierig, Neues zu erfahren, am liebsten natürlich aus vertrauenswürdiger Quelle und ich war nun so eine, promoviert sogar. Das Faszinierende dabei für mich: Niemals hatte ich den Eindruck, dass hier jemand mit Minderwertigkeitskomplexen zu ringen hatte, Walter Werner lebte eher, in dieser Hinsicht, in allen anderen kannte ich ihn zu wenig, ein schonungsloses Selbstbewusstsein.

Ich habe ihm nie verraten, dass ich mit vielen seiner Gedichte wenig anfangen konnte, dass ich immer, wenn Annerose Kirchner oder Holger Uske mit besonders vibrierender Stimme den Namen Walter aussprachen, ein seltsames Schamgefühl empfand. „Die Strohhalmflöte“ war mir die gedruckte Brücke zu ihm. Nun habe ich vieles nach- und neu gelesen, auch was andere über ihn sagten und schrieben, der Dauerkritiker Werners, Ernst-Otto Luthardt, der heute offenbar eine Reisebuch-Manufaktur betreibt, hat mich mit allen seinen Texten vollkommen ratlos gelassen. Dagegen Adolf Endler, Wulf Kirsten, Heinz Czechowski, Gerhard Wolf, ansatzweise auch Hartmut Zenker, denen verdanke ich manchen Aufschluss. Und als Wulf Kirsten beim späten Treffen der Literarischen Gesellschaft Thüringen im vorigen Jahr vorsorglich anmahnte, den heutigen 90. Geburtstag Werners auf keinen Fall zu vergessen, da war ich sofort fixiert.

Dass ich zum 65. Geburtstag Walter Werners der Berliner Zeitung ein unverlangtes Manuskript zukommen ließ, welches dann bis April 1987 dort lagerte und mir mit der Bitte zurückgesandt wurde, es doch aufzuheben für die damals offenbar in bestimmten Kennerkreisen erwartete oder gar avisierte Walter-Werner-Werkausgabe als Rezensionsbasis, hatte ich vergessen. Den Text („Bereitschaft zu lernen“) habe ich für den heutigen Tag abgeschrieben und ins Netz gestellt. Isa Speders Rat wäre nicht nötig gewesen, immerhin stand hinter den Zeilen damals ja ein Pensum Arbeit. Ich bin heute, das mag hochmütig klingen, gerührt, wenn ich sehe, was für eine rasante Entwicklung Walter Werner zwischen seinen Bänden „Grenzlandschaft. Wegstunden durchs Grabfeld“ (1972) und „Traum zu wandern. Aus Jahreszeiten und Jahrzehnten“ (1979) genommen hat.

Ja, manchmal war seine Naivität dann doch eine gespielte. Manchmal war seine vorgegebene Ahnungslosigkeit pure Ironie. An Weltmeisterschaften im prägnanten Formulieren literaturgeschichtlicher Phänomene und Tatsachen hätte er nicht teilnehmen können wegen der Qualifikationsnormen. Das spricht nicht gegen ihn. Seine Gedichte sind mir heute viel näher als früher, dennoch würde ich nicht gern etwas zu ihnen sagen wollen. Zu sehr sind alle lyrikkritischen und lyrik-theoretischen Äußerungen für mich Figurationen des Unsagbaren, vor denen ich den Hut ziehe, an denen ich mich aber nicht beteiligen möchte. Ehe nehme ich mir dies vor: „... aus eigener Erfahrung kann ich sagen, daß man sich auch von einem parteilosen Flußmeister eine ganze Menge abgucken kann. Selbst wenn er abseits wohnt und viel mit sich selber beschäftigt ist.“ Hat Walter Werner so etwas tatsächlich so gemeint, wie es scheint? Oder war der Parteifunktionär Werner, den ich keine Sekunde als Funktionär erlebt habe, für sich selbst eher ein parteiloser Flussmeister mit Regalen voller Bücher und einer Leidenschaft für Gemäldegalerien? Ich will es glauben.


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