Vom Aufwiegen der Schuld

Das ist mehr als vielsagend: In dem umfangreichen Sammelwerk „Frauen Literatur Geschichte“, das nach eigenem Bekunden erstmals den Versuch unternahm, „die literarische Produktion von Frauen in einem größeren Zusammenhang darzustellen“, kommt Marie Luise Kaschnitz nur ein einziges mal ganz kurz vor, als negativer Kontrastname. Dabei war sie nicht nur die erste Frau, die 1955 den 1951 in einen reinen Literaturpreis verwandelten Georg-Büchner-Preis erhielt, sie blieb auch in den ersten vierzig Jahren danach eine von nur drei Preisträgerinnen (Ingeborg Bachmann und Christa Wolf waren die anderen). Die nächstfolgenden zwanzig Jahre sahen dann zwar schon vier Preisträgerinnen, doch auch in dieser 60-Jahre-Bilanz steht die erste noch ziemlich einzig da. (1947 bekam Anna Seghers, 1950 Elisabeth Langgässer einen Büchner-Preis, da gab es ihn allerdings auch für Maler oder Komponisten.)

Liest man die knappe Begründung für die damalige Preisvergabe, ahnt man, warum 1989, dem Jahr, da das genannte Sammelwerk zuerst erschien, der Fokus auch bei Frauen nicht auf die am 10. Oktober 1974 im Alter von 73 Jahren verstorbene süddeutsche Autorin gerichtet wurde. „Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht den Georg-Büchner-Preis des Jahres 1955 der Dichterin Marie Luise Kaschnitz. Kühn und voll Tröstung erklang inmitten des Krieges die reine Stimme ihrer Dichtung. Stets dem Geiste zugewandt, Antikisches und Heutiges in humanem Sinne verbindend und auf eine neue für uns gültige Weise formend, erscheint uns Marie Luise Kaschnitz des Preises würdig, der den Namen Georg Büchners trägt.“ So steht es da und das war nach den wilden Jahren des Gründungsfeminismus nun nicht eben das, was die Frontfrauen der Bewegung primär und zwingend erwarteten von schreibenden Geschlechtsgenossinnen. Weshalb wohl auch in der verdienstvollen Reihe TEXT+KRITIK, deren Herausgeber Heinz Ludwig Arnold erst kürzlich starb, alle anderen Preisträgerinnen längst einen eigenen Band erhielten, Marie Luise Kaschnitz aber bis heute fehlt.

Während Aktionskünstlerin Valie Export Welt und Männerwelt schockte, in dem sie öffentlich das tat, was Frauen, wie aus zuverlässiger Quelle verlautet, seit ihrer Erschaffung aus der hinlänglich bekannten Rippe immer wieder taten, also „die Beine breit“, wie es etwas unpoetisch heißt, befasste sich Marie Luise Kaschnitz fortgesetzt mit der Anwesenheit des Todes im Leben, sie sprach über Georg Trakl, sie resümierte ihr Weitersein nach dem Tod ihres Mannes im Jahre 1958, sie war klug und zurückhaltend, vor allem aber war sie auch christlich. Konnte man christlich sein in Zeiten, da die Spitze der Bewegung stolz bekannte, abgetrieben zu haben? Man konnte, man kann es immer noch, und immer noch ist es mindestens kurzsichtig, eines gegen das andere zu stellen. Marie Luise Kaschnitz verkörperte zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens das, was man auf den ersten und auch auf den zweiten Blick allzu gern Avantgarde nennt, jenen Teil also, der am schnellsten im Kunst- und Literaturbetrieb der Rotation ins Vergessenwerden unterliegt.

Wie schön hat sie über Trakl gesprochen, dessen 125. Geburtstag am 3. Februar zu begehen ist: „Als ich Trakls Gedichte zum erstenmal las, wußte ich noch nicht, daß ihn diese Teilnahme, dieses wilde Sichaufbäumen gegen die eigene Ohnmacht den Verstand, ja das Leben gekostet hatten. Ich ahnte aber, daß niemand Verse schreiben kann, der nur für sich selbst und nicht auch für die andern spricht.“ So einfach lässt sich das sagen. Es will mir sogar scheinen, es sei ein Zeichen von Größe, „es“ einfach sagen zu können. Wie souverän sprach diese Kaschnitz von sich als einem spät entwickelten Mädchen, das aus der bis heute unvergessenen Kurt-Pinthus-Anthologie „Menschheitsdämmerung“ den Anstoß zum Erwachsen- und Selbständigwerden empfing. Natürlich war das, wenn man als von Holzing-Berstett geboren wurde und einen von Kaschnitz-Weinberg heiratete, ein anderes Leben als das, aus dem angeblich Klassenkämpferinnen-Biographien sprießen. Nur die gebratenen Tauben, die fliegen im Vorderhaus erste Etage ebenso selten wie im Seitenflügel dritter Hinterhof. Es adeln, und das ist das Verrückteste, weder der Name noch die Herkunft. Gegen jeden Anschein tun sie das nicht.

Marie Luise Kaschnitz hat in ihrer Trakl-Rede vom Übergang zu Hölderlin gesprochen und dann, wahrhaft verblüffend, zu Pablo Neruda. Sie passen eben nicht, die Klischees, freilich will sie selbst auch keinem solchen entsprechen. „... alles Negative in meinen Gedichten rührt, im Gegensatz zu Trakl, nur aus der Erkenntnis, daß Freude und Liebe die erdrückende Menge von Unglück und Schuld auf dieser Erde nicht aufwiegen können.“ Hass und Kaspertheater auf Bühnen, möchte man aus gegebenem Anlass hinzufügen, verbessern die Gleichgewichtslage der Kaschnitz-Mengen auch nicht. Es könnte freilich sein, dass die, die mit Freude und Liebe ans Vergebliche gehen, die menschlichere Art des Fehlversuches wagen. Heute ist der 111. Geburtstag von Marie Luise Kaschnitz, die in Karlsruhe geboren wurde und in Rom starb.


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