Max Herrmann, Augsburger Straße, Charlottenburg

Die Gebäude, die jetzt dort stehen, gab es 1942 noch nicht: kein Karstadt, kein Sofitel Berlin, kein Subside Sports, auch die Techniker Krankenkasse um die Ecke nicht. Die Eislebener Straße aber, über die Rankestraße schnell erreicht, die gab es schon. In der Augsburger Straße 34 hatten Max und Helene Herrmann über Jahrzehnte eine große Wohnung inne. Wohnungen dieser Größe sind heute in dieser Gegend fast unbezahlbar. In der Eislebener Straße 9 aber wohnte Helene Herrmanns Schwester Katharina Finder, zu der das Paar 1939 aus einer kleinen Mietwohnung im Zinnowweg in Zehlendorf zog. Hätte es diese Schwester dort nicht gegeben, wären womöglich am 17. November 2008 vor der Hausnummer 42 in der Augsburger Straße (ehemals 34), keine Stolpersteine für Max und Helene Herrmann verlegt worden. Der 17. November ist der Todestag von Max Herrmann, vielsagend der Todesort: Theresienstadt. Wenn auf dem Stolperstein für ihn seither das Wort „ermordet“ steht, ist es, wenn nicht einfach falsch, dann metaphorisch gemeint. Denn Max Herrmann, geboren am 14. Mai 1865 in Berlin, ist nach dem Zeugnis seiner Frau Helene, die tatsächlich ermordet wurde, und zwar in Auschwitz, in Theresienstadt gestorben.

Bezeugt ist der Bescheid zur Deportation des Paares vom 7. September 1942. Bezeugt ist der Transport nach Berlin-Mitte in die Große Hamburger Straße am 8. September 1942. Bezeugt ist die Verladung in einen so genannten Alterstransport auf dem Anhalter Bahnhof am 10. September 1942, aus mir nicht bekannten Gründen (vielleicht einfach nur Schreibfehler, die niemandem auffielen), wird dieser Transport einmal mit der Nummer 61, einmal mit der Nummer 63 beziffert. Das so genannte Altersghetto Theresienstadt, was die Sache weder besser noch harmloser macht, war weder ein Vernichtungslager noch ein Lager, in dem das aktive Töten der Insassen Tagesordnung war. Vor allem war es Zwischenstation auf dem Weg in den fabrikmäßigen Tod in die nur der Vernichtung dienenden Lager weiter im Osten. Am 16. Mai 1944, anderthalb Jahre nach Max Herrmanns Tod, gingen seine Witwe Helene (geboren am 9. April 1877, 12 Jahre jünger als er, mit dem sie seit 1898 verheiratet war) und seine Schwägerin Katharina, genannt Käthe, auf den zynisch „Arbeitseinsatztransport“ genannten Weg nach Auschwitz. Als nicht Arbeitsfähige wurden die Schwestern vermutlich am 10. oder 11. Juli 1944 in den Gaskammern in Birkenau ermordet.

Der Stolperstein für Helene Herrmann enthält kein Todesdatum, nur das Datum der Deportation. Weil sie sich von ihrer Schwester Käthe auf keinen Fall trennen wollte und weil es praktisch unmöglich war, für drei Personen zusammen eine legale Ausreise aus Deutschland zu erlangen, als die Möglichkeit noch bestand, Freunde haben durchaus versucht, Schritte in dieser Richtung zu unternehmen, nahm das mörderische Schicksal seinen Lauf. Viele Details über die letzten Jahre des Paares Max und Helene Herrmann verdanken wir Ruth Mövius (27. September 1908 – 2. November 1989). Sie kannte Max Herrmann, ihren Universitätslehrer, schon seit 1930, sie war bis zum Ende mit dem Paar nicht nur befreundet, sie rettete auch ein Manuskript von Max Herrmann, das 20 Jahre nach seinem Tod, von ihr herausgegeben und mit einem Nachruf versehen, im Henschelverlag Berlin erschien: „Die Entstehung der berufsmäßigen Schauspielkunst im Altertum und in der Neuzeit“. Um so verblüffender ist, dass die bis heute renommierte Akademie-Zeitschrift „Sinn und Form“, als sie in ihrem vierten Heft des Jahrgangs 1984 ein von Ruth Mövius verfasstes, immerhin 14 Seiten langes Lebensbild von Helene Herrmann veröffentlichte, sich auffallend bedeckt hielt.

Lapidar heißt es hinten lediglich: Ruth Mövius, geboren 1908, Lehrerin, jetzt Rentnerin, lebt in Magdeburg. Hatte irgendjemand in der Redaktion womöglich ein, gelinde gesprochen, arrogant ungutes Gefühl angesichts des freilich dem sonstigen Niveau der Zeitschrift kaum entsprechenden Sprachniveaus dieses Lebensbildes? Obwohl doch das rein Faktische des Textes auf die Frau, die das alles wie selbstverständlich und durchaus brav und bieder aufgeschrieben hat, mehr als neugierig macht? Vier Jahre später steuerte Ruth Mövius für die, soweit ich sehe, bis heute einzige neue Buchveröffentlichung von Werken Helene Herrmanns, „Einfühlung und Verstehen. Schriften über Dichtung“, Reclam Leipzig 1988 (RUB 1241) abermals ein Lebensbild bei, jetzt deutlich kürzer, aber ebenso deutlich auf der älteren Vorlage teilweise neu formuliert. Zum Leben und Wirken von Max Herrmann gibt es seit 1998 das Buch von Stefan Corssen „Max Herrmann und die Anfänge der Theaterwissenschaft“ (Niemeyer Tübingen), seit 2013 das Buch von Martin Hollender „Der Berliner Germanist und Theaterwissenschaftler Max Herrmann (1865 – 1942). Leben und Werk“. November 2014 veranstaltete die Freie Universität Berlin ein Max-Herrmann-Symposium.

Nimmt man hinzu, dass auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weissensee zu Füßen des Grabsteins von Louis Herrmann (3. November 1836 – 9. November 1915) und Pauline Herrmann (4. März 1837 – 3. Februar 1926) an Max und Helene Herrmann erinnert wird, dass im Plattenbauviertel Berlin-Marzahn eine Straße nach Max Herrmann benannt ist, auch eine Straßenbahnhaltestelle diesen Namen trägt, könnte man meinen, der Begründer der Theaterwissenschaft in Deutschland als selbständige Disziplin sei keineswegs vergessen. Für so genannte Fachkreise mag das gelten. Doch gerade weil sein Leben und Sterben für deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert in sehr besonderer Weise steht, weil mit dem Umgang mit ihm und seinem Erbe eben auch bis heute offene, bewusst und/oder gedankenlos, instinktlos unbeantwortete Fragen verbunden sind, sollte der 75. Jahrestag seines Todes 1942, ob er nun, wie von Ruth Mövius mehrfach geschrieben, am 16. November starb, oder am 17. November, wie WIKIPEDIA vermeldet oder in der Nacht vom 16. zum 17. November, nicht einfach zum Abhaken einer gutmenschlichen Pflicht herhalten. Empörend muss es, wenigstens für alle, denen folgenlose Dauerempörung zum Lebensinhalt wurde, sein, dass ausgerechnet der Edel-Nazi Hans Knudsen zu Herrmann zitiert werden muss aus der Neuen Deutschen Biographie.

Knudsens Name steht exemplarisch für die Nahtlosigkeit des Übergangs deutscher Germanistik und Theaterwissenschaft. Dass er ganz persönlich und offenbar ohne das geringste schlechte Gewissen von Max Herrmanns Verbannung aus dem Universitätsleben, aus seinen zahlreichen Ämtern, aus der Forschung natürlich auch, profitierte, hat, soweit ich sehe, niemanden je ernsthaft interessiert. Der andere Groß-Profiteur Julius Petersen (5. November 1878 – 22. August 1941) benötigte keinen westdeutschen „Persilschein“ mehr, weil er nicht mehr am Leben war. Petersen als Mitbegründer der Theaterwissenschaften, als allseits ungefragt anerkannter Goethe-Kenner und Universal-Repräsentant deutscher Hochschulgermanistik, übernahm das Theaterwissenschaftliche Institut allein und hatte 1934 nichts Eiligeres zu tun, als den Aufsatz „Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich in deutscher Sage und Dichtung“ zu publizieren, in dem er, so Petra Boden, die 1983 über ihn promovierte, „Hitler als charismatischen Führer pries“. Kuriose Germanisten-Anekdote: Franz Koch (21. März 1888 bis 29. Dezember 1969), als „Prototyp eines nationalsozialistischen Germanisten“ bezeichnet (Zitat Gerd Simon nach WIKIPEDIA), versuchte Julius Petersen zu denunzieren, weil der noch 1938 den Juden Eduard Berend beschäftigte in der Akademie.

Diesen Eduard Berend wiederum kennt zwangsläufig jeder, der sich je seriös mit Jean Paul befasste. Heinz Knobloch (3. März 1926 – 24. Juli 2003), Ikone des DDR-Feuilletons, hat 1999 bezeugt, wie Ruth Mövius immer wieder im Zusammenhang mit der Verleihung eines Max-Herrmann-Preises neue Details und neue Dokumente zu ihrem Lehrer öffentlich machte und übergab, Knobloch selbst hat bei einer dieser Gelegenheiten über die unsägliche und bis heute nicht wirklich fassbare Verfahrensweise vor der Deportation der Berliner Juden, hier eben von Max und Helene Herrmann, berichtet. Dank der Aufbewahrungs- und Dokumentationswut auch der nationalsozialistischen Bürokratie hat sich die Vermögenserklärung der Herrmanns von 7. September 1938 überliefert. Das war der Tag der Bekanntgabe der bevorstehenden Deportation. Wir wissen also, dass das Paar „1 Stuhl, 1 Schreibtisch, 1 Sessel, 2 Couchgestelle, 2 Tischdecken, 15 Servietten, 1 Kaffeedecke, 1 gestickte Decke, 2 Bettlaken, 2 Bezüge, 2 Kopfkissenbezüge, 1 Spitzenbettdecke, 1 Bademantel, 1 Handtuch, 2 Teewärmer, 8 Küchentücher“ besaß. All diese Dinge durften nicht mit auf den Transport in die Große Hamburger Straße, natürlich auch nicht nach Theresienstadt. Wer sich wohl an den armseligen Überresten des einst stattlichen Professorenhaushaltes still bereichert hat?

Der Historiker Florian Müller-Klug hat auf seiner Site www.clioberline.de am 14. Juli 2014 einen kleinen Text veröffentlicht, der den Weg schildert, den 1938 der 73 Jahre alte Professor Max Herrmann zu Fuß gehen musste, um im Stehen in der Staatsbibliothek Unter den Linden ein wenig arbeiten zu können. Müller-Klug nennt als Literatur zum Thema Winfried Löschburgs 1976 erschienenes Buch „Unter den Linden. Gesichter und Geschichten einer Straße“. Löschburg, geboren am 29. März 1932, war bis 1997 Leiter der Zeitungsabteilung in der Staatsbibliothek. Wen er leider nicht nennt, ist Ruth Mövius, die gerade in der langen Fassung ihres Lebensbildes von Helene Herrmann genau solche Details sehr ausführlich schilderte. In einer Besprechung der oben schon genannten Max-Herrmann-Biographie von Martin Hollender nannte Stefan Corssen in der BERLINER ZEITUNG am 27. Mai 2014 als Schüler Hermanns so interessante Namen wie Stefan Heym, Friedrich Luft, Bernhard Minetti und Heinz Hilpert. Eine Meta Corssen (14. März 1894 – 3. Juni 1957) gehörte zum Bekanntenkreis der Herrmanns in Berlin. Sie hat 1947 einen der ersten Gedächtnis-Artikel nach dem Krieg zu Max Herrmann für DIE SAMMLUNG verfasst. Vielleicht ist ein Berliner Spaziergang zwischen Augsburger und Eislebener Straße eine sehr sinnvolle Idee.


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