Herman Melville: Statuen in Rom

Der kürzlich verstorbenen Büchnerpreisträgerin Brigitte Kronauer (29. Dezember 1940 – 22. Juli 2019) sei das erste Wort gegönnt, auch wenn sie in ihrer Besprechung von „Herman Melville: Ein Leben. Briefe und Tagebücher“ gar nicht explizit auf „Statuen in Rom“, selbst auf die zugrunde liegende vierte große Reise Melvilles 1856/57 nicht weiter eingegangen ist. „Melville hatte offenbar keine Wahl, wie es bei jenen ehernen Sonderlingen zu sein pflegt, die nicht einfach den Beruf wechseln können, wenn das Schreiben ihnen Unbequemlichkeiten bringt. Das wirkt auf Umstehende meist lästig bis lächerlich.“ Zu den epochemachenden Äußerungen über Melville würde ich das nicht ohne weiteres zählen wollen. Was wären denn eherne Sonderlinge, wer hätte denn, auch weit unter dem Niveau, auf dem Melville schrieb und dichtete, je den Beruf gewechselt, weil ihm/ihr das Schreiben Unannehmlichkeiten bringt? Noch das fünftklassige Talent belästigt den Buchmarkt alljährlich zur Oktober-Messe mit einem Werk, das besser nicht geschrieben worden wäre, anstatt etwa, wie Melville, Zollinspektor, oder wie Nathaniel Hawthorne, Konsul in Liverpool oder wie Gottfried Keller (wer war das denn?) Staatsschreiber in Zürich zu werden. Schreiben bringt schon allein dadurch Unbequemlichkeiten, weil es an Schreibpult oder Schreibtisch erfolgt.

Von der vierten Reise Melvilles schreibe ich der Zählung Alexander Pechmanns folgend in seinem empfehlenswerten Buch „Herman Melville. Leben und Werk“, das leider mit der Publikation von „Andrew Delbanco: Melville. Biographie“ vier Jahre später zu rasch in die Vergessenheit gedrängt wurde. Was klar bedauerlicher ist als das Schicksal von „Elisabeth Hardwick: Herman Melville“. Dort las ich vor Jahren als alter Hawthorne-Liebhaber das ihm gewidmete Kapitel und notierte mir auf Seite 186: „An diese Art voraussetzenden Schreibens muss man sich erst gewöhnen, die Autorin pfeift auf alle Informationspflichten, sie springt in einer nur ihr selbst eigenen Logik von Gedanken zu Gedanken, wagt keine eigene Folgerung und nennt das Kapitel ohne Fakten irreführend „Hawthorne“.“ Da ist Alexander Pechmann ein Segen. Und außerdem gebührt ihm das Verdienst, „Statuen in Rom“ nicht nur übersetzt, sondern in dem Buch „Herman Melville: Die große Kunst, die Wahrheit zu sagen. Von Walen, Dichtern und anderen Herrlichkeiten“ auch für deutsche Leser erstmals herausgegeben zu haben. Dass Formulierungen in seinem Nachwort denen in seinem biographischen Buch ähneln, liegt in der Natur der Sache: wenn ein Vortrag zwischen 23. November 1857 und 23. Februar 1858 insgesamt 16-mal gehalten wurde, ist das einfach nur Fakt.

Also die vierte Reise: Herman Melville trat sie am 11. Oktober 1856 an, am 19. Mai 1857 erreichte er wieder New York. Stationen der Reise waren zunächst Schottland mit Glasgow und Edinburgh, dann ging es nach Liverpool, wo er Nathaniel Hawthorne treffen wollte, dem, es sei daran erinnert, „Moby Dick“ gewidmet ist. Von Liverpool führte die Reise nach Konstantinopel mit einigen Zwischenaufenthalten unterwegs. Dann nach Alexandria, Kairo, zu den Pyramiden, der Ausflug dorthin auf Eseln. Von Alexandria nach Jaffa in Palästina, nach Jerusalem, nach Beirut, von Beirut in die Ägäis. Am 11. Februar 1857 verließ Melville Athen, die nächste Station wurde Neapel, von dort aus schließlich Rom. Hier kommen wir dem Stoff ganz nahe, der in dem Vortrag „Statuen in Rom“ verarbeitet ist. Er bezog Quartier in der Nähe des Pantheon. Alexander Pechmann: „Die folgenden Wochen verbrachte er, indem er bis zur Erschöpfung durch die Villen, Paläste, Kirchen, Museen, Straßen, Plätze, Friedhöfe und Gärten Roms wanderte.“ Er tat es, für uns irgendwie auch beruhigend, nicht auf den Spuren Goethes, wenngleich der ihm keineswegs unbekannt war. Das Reise-Tagebuch findet man in dem erwähnten Band „Herman Melville. Ein Leben“, man findet es aber auch in einer sehr besonderen Einzelausgabe, besonders wegen der textfernen Illustrationen.

Das Buch trägt den Titel „Reisefresken dreier Brüder: Dichter Maler Müßiggänger“, es erschien im Verlag Gachnang & Springer Bern-Berlin 1991. Es trägt den Untertitel „Tagebuch einer Reise nach Europa und in die Levante (1856/1857)“ und besitzt eben Illustrationen von niemand geringerem als Georg Baselitz, einer prägenden Figur deutsche Nachkriegskunst, der 2018 schon seinen 80. Geburtstag feiern konnte. Der Buchtitel ist ein nicht von Hermann Melville für seine Tagebücher gewählter und stammt dennoch von ihm. Er plante nach seiner Rückkehr in die amerikanische Heimat ein erzählendes Werk zu schreiben auf der Basis seiner Erlebnisse und Erfahrungen der sechs Reisemonate, die drei Brüder sollten die Fiktion darstellen, denn Melville selbst reiste allein, ohne Frau und Kinder, auch ohne ständige Begleitung unterwegs, lernte freilich immer wieder neue Menschen kennen, traf bisweilen Bekannte, nicht nur den Schriftstellerfreund Hawthorne. Das Buch ist über den Plan kaum hinausgekommen, Formulierungen aus dem Tagebuch aber gingen sogar wortwörtlich in den Vortrag „Statuen in Rom“ ein. Wobei ein aufwendigerer Textvergleich die Mühe kaum lohnt, das Tagebuch ist über weite Strecken eher Stichwort-Notat als ausgearbeitet. Es erlaubt aber auf jeden Fall den Nachvollzug des römischen Aufenthalts mit sehr vielen Details.

Bei John Updike können wir nachlesen, wie es dem Vortragsreisenden Herman Melville erging. Es handelt sich um den Vortrag Updikes, den er am 23. Oktober 1981 in Rochester, New York, hielt als dritten, so genannten Harold-Hacker-Vortrag, Titel „Melvilles Rückzug“. Updike: „Auf einer Tournee, auf der er über römische Statuen oder Polynesien sprach, erfuhrt er gemischte Reaktionen.“ Updike zitiert zeitgenössische Journale wie das „Daily Journal“ oder den „Daily Herald“, dazu eine nicht näher benannte Zeitung in Rockford, Illinois, in der zu lesen stand, dass „kein Mensch das Recht hat, sich zum Redner für 50 Dollar pro Abend aufzuschwingen, wenn er die Augen nicht einmal für einen Augenblick von seinem Manuskript erheben kann.“ Nun, ich erlebe bisweilen noch heute Vorträge solcher Art, das hat vor allem mit der Verliebtheit der Autoren in ihre eigenen genialen Formulierungen zu tun, würde mir im Fall der Fälle allerdings lieber eine PDF-Datei zuschicken lassen, statt den anderen Hörern beim Einschlafen zuzuschauen. 50 Dollar pro Abend plus Aufwand, so kann man es auch bei Alexander Pechmann nachlesen, wie viel das nach heutigem Dollar-Wert ist, weiß ich nicht zu sagen – es brachte Melville jedenfalls bis Anfang 1860 insgesamt 1273,50 Dollar ein, vermutlich eine Summe, die so schlecht gar nicht war.

Updike resümierte 1981: „Alle seine Biographen – Newton Arvin am verständnisvollsten, Edwin Haviland Miller am gnadenlosesten – lesen sein Leben und Werk als Muster einer Neurose, die nach Moby Dick eine Laufbahn, die alles zu versprechen schien, verkrampfte und schließlich kappte.“ Und: „Ein Schriftsteller mit einer demokratischen Öffentlichkeit als Mäzen muss die Hoffnung haben, dass sich sein Werk, damit es ihm genügend einbringt, instinktiv mit dem trifft, was genügend Menschen unter Belehrung und Unterhaltung verstehen.“ Nie hätte das ein Autor der Namhaftigkeit wie Updike in Deutschland zu formulieren gewagt, zu sehr riecht es nach Anbiederung an ein hierzulande wohl per se verdächtiges Publikum. An Herman Melville aber hat es sich auf seine ureigene Weise gerächt. Es las ihn nicht. Nur selten ist das dem Nachruhm förderlich. Der oben erwähnten Informationspflicht nachzukommen: Newton Arvin (25. August 1900 – 21. März 1963) war ein US-Literaturwissenschaftler, dessen Buch über Melville 1950 erschien, Edwin Haviland Miller (1918 – 2001) veröffentlichte sein Melville-Buch 1975. Und mir bleibt die Bewunderung, wie gut einer wie John Updike sich auskennt, dem man aus eigentlich nicht benennbaren Gründen das gar nicht zutraut. Wie eben auch Melville seinen Vortrag nicht.

Nimmt man ernst, was Melville von sich selbst sagte, dann muss man sich noch mehr wundern: „Bis ich fünfundzwanzig war, habe ich mich überhaupt nicht entwickelt. Mein Leben beginnt mit meinem fünfundzwanzigsten Jahr.“ Das wäre 1844 gewesen. Nur acht Jahre später aber lagen, von Erfolg und Misserfolg einmal abgesehen, die Romane „Taipi“, „Omu“, „Mardi“, „Redburn“, „Weißjacke“, „Moby Dick“ und „Pierre“ vor, allein die Addition der Druckseiten belegt ein imposantes, ein unglaublich imposantes Schaffen. Weitere fünf Jahre später ist er als Heimkehrer aus Europa ein Vortragsreisender über „Statuen in Rom“, er schreibt und redet geläufig eben über Statuen, über Gemälde der größten Meister, trägt selbstständige und keineswegs naive Ansichten über Architektur vor. Selbst Holbein und Dürer sind ihm nicht nur dem Namen nach bekannt, es wäre albern, ihm Namen um die Ohren zu hauen, die er nicht nannte in seinen Notizen zu Rom, wie man es bei Goethe bekanntlich durchaus mit Erfolg getan an. Bei Goethe wissen viele eher, was er übersah oder ignorierte, als was ihm Ehrfurcht einflößte oder Begeisterung oder ihn zum Intensiv-Studium anregte. Ich zähle ohne Rang- und Reihenfolge ein paar Namen auf, die Melville parat hatte: Robert Burns und Linné, Demosthenes, Plato, Seneca, Tacitus, Sokrates, Chesterfield, John Milton, Wordsworth, Benvenuto Cellini, Oliver Goldsmith, Fourier, Dickens, in einem Vortrag!

Am 24. Februar 1857 war Melville am Postamt in Neapel mit der Postkutsche gen Rom aufgebrochen, am 21. März verließ er die ewige Stadt via Civita Vecchia, von dort ging es nach Livorno. Am 6. April verabschiedete er sich von Venedig, auf der weiteren Heimreise sah er Basel, Straßburg, Heidelberg, Frankfurt, Mainz und Köln. Von Amsterdam ging es nach Rotterdam, von dort nach London, nach Oxford, nach Stratford on Avon zum Geburtshaus von Shakespeare und schließlich von Liverpool nach New York. Sein Vortrag „Statuen in Rom“ dauerte etwa eine Stunde, Überlieferungen zufolge war er, selbst beim Ablesen aus dem Manuskript, nicht immer in Höchstform. Alexander Pechmann: „Melville verglich am Ende seines Vortrags das künstlerische Ideal, das in den römischen Statuen zum Ausdruck kommt, mit den kurzlebigen Launen seiner Gegenwart, mit weltlichem Streben und wissenschaftlichem Fortschritt.“ In Melvilles Original liest sich das dann so: „Die Alten leben, solange die Statuen überdauern, und scheinen der ganzen Welt Inspiration einzuhauchen, indem sie all dem, was an Erhabenem, Prachtvollem und Gutem erschaffen wurde, Zweck, Form und Antrieb verleihen. Wie die Stützpfeiler Roms sind auch sie bleibenden Illustrationen des Vollkommenen in der Kunst der Antike.“ (Übersetzer A. Pechmann)

Im Tagebuch unter dem Datum 26. Februar 1857 dieser Satz: „Kein Ort, wo ein Einsamer sich einsamer fühlen wird als in Rom.“ Am 15. März: „An diesem Tag nichts gesehen, nichts gelernt, nichts genossen, aber einiges durchgemacht.“ Das sammelt seine Ambitionen, wie es knapper kaum geht. In seinem Vortrag baute er eher auf Gesehenes und Gelerntes, seine Genüsse behielt er für sich, wiederholte natürlich auch nicht seine Notizen über die Preise seiner Mahlzeiten. Was verrät er über Statuen? „Man wird feststellen, dass Statuen im allgemeinen keine erschreckenden Gesten und Züge der Personen darstellen, sondern eher ein ruhiges, zurückhaltendes Bild von Menschen, denen jede Leidenschaft fremd ist, abgeben.“ Und: „Hier, in ihren Skulpturen, erzählten die Alten von ihren Utopien. Der Vatikan selbst ist ein Verzeichnis der antiken Welt, so wie das Patentbüro in Washington es für die moderne ist.“ Auch für einfache Weisheiten war er sich nicht zu schade: „Um diese oder eigentlich jede andere Statue wirklich würdigen zu können, muss man in Betracht ziehen, woher sie kam und unter welchen Bedingungen sie geschaffen wurde.“ Und für Fortgeschrittenere: „Falls Apoll das Vollkommene repräsentiert und Venus gleichermaßen das Schöne zeigt, steht Laokoon für die tragische Seite der Existenz und ist ein Symbol für menschliches Unheil.“

Wobei uns hierzulande gleich wieder Lessing ins Gedächtnis stolpert, von dem aber meines Wissens Melville nun wirklich keine Notiz genommen hat in seinem Leben. In einer Hinsicht war Melville dann doch moderner als zu vermuten, fast journalistisch unbekümmert: „Jeder Besucher Roms eilt sofort nach seiner Ankunft zu jener Kapelle, um die Statue zu sehen, und bei seiner Abreise aus der ewigen Stadt, ob nach ein paar Wochen oder vielen Jahren, macht er unweigerlich noch einen Abschiedsbesuch bei dieser Attraktion.“ Gemeint ist der Apoll im Belvedere Hof des Vatikan. Melvilles eigenes Tagebuch widerlegt die dreiste Behauptung: mitnichten eilte er sofort zu Apoll. Am ersten Tag nicht, am zweiten immer noch nicht. Auch einen Abschiedsbesuch hat er nicht eigens verzeichnet. Das aber erfuhren an sechzehn Vortragsorten, darunter sogar Montreal in Kanada, seine Hörer: „… in der Statue liegt eine Art Göttlichkeit, die die Vorstellungskraft des Betrachters über die gewöhnlichen und groben Dinge der Natur emporhebt und Kritik im klassischen Sinn unmöglich macht.“ Eine ganze Sammlung römischer Statuen, so malte sich Melville aus, könnte im Kolosseum aufgestellt werden, große Zeiten bezeugend. Schon von Neapel her kommend fühlte er sich begrüßt „im Namen der großen Gesellschaft der Statuen“.

Er nannte sie „die wahre und unsterbliche Bevölkerung Roms“. Und fühlte sich doch immer noch so sehr befangen, dass er sich selbst und seinem Tun, gerade mit seinem Vortrag, eine Rechtfertigung geben zu müssen glaubte. Sie lautet: „Wenn das beste, was Wissen und Natur hervorbringen, nicht von einer privilegierten Berufsgruppe irgendeiner Gesellschaftsschicht beansprucht werden kann, dann wäre es recht verwunderlich, falls es im Bereich dessen, was man Kunst nennt, eine grundlegende Exklusivität ihrer größten Leistungen gebe.“ Er will, eben weil es diese Exklusivität seiner Meinung nach nicht gibt, seine Sichten und Urteile ernst genommen wissen: „Genau so wie die Hervorbringungen der Natur von jenen geschätzt werden können, die nichts von Botanik verstehen oder keine Vorliebe dafür haben, so können die Schöpfungen der Kunst von jenen gewürdigt werden, die keine Ahnung von den Kunstwissenschaften haben oder denen sie gleichgültig sind.“ Wer wollte ihm da widersprechen? Melville widmet Porträt-Plastiken und Büsten viel Aufmerksamkeit: „So beichten uns diese Statuen gewissermaßen und schwatzen von vielen Dingen, die nicht in der Geschichtsschreibung und in den Biographien derer, die sie darstellen, auftauchen.“ Wozu man Geschichtsschreibung und Biographie aber erst kennen muss.

Man findet, was man nicht zwingend erwartet in einem Vortrag über „Statuen in Rom“, auch eine wunderbare Charakteristik des englischen Klassikers John Milton: „... die Tatsache, dass er ein Jahr in Italien verbrachte hat sich für Englands großes Epos nicht als nachteilig erwiesen. Tatsächlich ist das unsterbliche Gedicht, Das verlorene Paradies, nichts anderes als ein prachtvoller Vatikan in Versen. Milton hat zweifellos aus Darstellungen der großen Männer und Götter des alten Rom entscheidende Vorstellungen über das Erhabene in Gestalt und Haltung gewonnen.“ Milton reiste 1637 bis 1639 durch Italien, reichlich zweihundert Jahre vor Melville. Der später noch Wordsworth den „besten von allen Naturdichtern“ nennt. Und auch dies fiel ihm auf: „Der Pferd wurde von den Künstlern der Antike ebenso majestätisch wie der Mensch dargestellt, und sie liebten es, es so zu idealisieren wie ihre Helden und Götter. Für die Griechen hatte die Natur nichts Rohes. Alles, was lebte, besaß eine Seele, und das Pferd nahm den zweiten Rang der Lebewesen ein so wie der Mensch den ersten.“ Herman Melville ließ seinen Vortrag ausklingen mit Versen von Lord Byron aus dessen „Child Harold“: „Rom steht, solang das Kolosseum steht, / Rom fällt, sobald das Kolosseum fällt, / mit Rom die Welt!“ Wer möchte danach das letzte Wort noch haben?


Joomla 2.5 Templates von SiteGround