Joseph Roth: Reise ins Heanzenland

Man kann das Heanzenland auch Heinzenland nennen und hat damit nicht viel gewonnen. Denn das ist nicht etwas wie Heidiland, wo eine Kunstfigur Tourismus generiert. Das ist ein Name für eine Gegend, die mit diesem Namen auf seltsame Weise sogar in die Geschichte einging: Nach dem Ende des I. Weltkrieges. Da trafen sich am 5. Dezember 1918 ein paar Leute, die beschlossen, eine Republik auszurufen nach all der langen Kaiserei in Mitteleuropa. Heute weiß man, dass manche es nicht eilig genug haben konnten, gleich noch die sozialistische Republik mit auszurufen, was ihnen zügig das Leben kostete. Hier aber war es ein österreichischer Sozialdemokrat namens Hans Suchard (25. März 1893 – 7. August 1968), der am 6. Dezember 1918 in Ödenburg die „Republik Heinzenland“ ausrief, deren ganzer Ruhm sich darauf beschränkt, nicht viel mehr als zwölf Stunden bestanden zu haben. Ungarisches Militär machte dem Spuk ein Ende. Die „Zweitagerepublik“ war etwas fürs historische Kuriositätenkabinett. Als der Journalist Joseph Roth Anfang August 1919 von Wien aus das „Heanzenland“ besuchte im Auftrag der Redaktion DER NEUE TAG, für die er arbeitete, ging es nicht um Unabhängigkeit, sondern um Zugehörigkeit. Deutsch-Westungarn sollte, so die Konferenz von Saint-Germain, an Deutschösterreich fallen. Als die Konferenz von Trianon das neue Ungarn endgültig verpflichtete, das Gebiet abzugeben, war das Thema dann vom Tisch.

Was Roth aber erkundete und beschrieb in Reportagen und Artikeln für das Wiener Blatt, gedruckt zwischen dem 7. August 1919 und dem 5. September 1919, vor hundert Jahren also, führt uns heutige Leser in eine europäische Situation, von der wir in aller Regel wenig wissen: unmittelbar ist es der Kampf um das genannte West-Ungarn, der letztendlich zur Gründung des jüngsten und kleinsten Bundeslandes der Republik Österreich führte: dem Burgenland. Das Ödenburg aber, in dem Sozialdemokrat Suchard die „Republik Heinzenland“ ausrief, heißt nicht nur auf ungarisch Sopron, es gehört auch bis heute zu Ungarn und bildet eine auffällige Einbuchtung ins Gebiet des Burgenlandes. Das wiederum hat damit zu tun, dass es eine Volksabstimmung gab, in der sich die Ödenburger und die nähere Umgebung für den Verbleib bei Ungarn entschieden, was auch geschah. Weshalb die heutige Landeshauptstadt Eisenstadt in die Bresche springen musste, denn an sich sollte Ödenburg Landeshauptstadt werden. Joseph Roth formulierte in einem seiner Berichte „... nie sah ich eine Stadt, zu der der Name besser passte.“ Noch Jahre später machte er sich mit solchen Sätzen, etwa über Saarbrücken 1927, bei Lokalpatrioten unbeliebt, handelte sich Leserbriefe ein. Im August 1919 aber verschärfte ein Umstand die Lage deutlich: in Budapest war nach 133 Tagen die Räterepublik zerschlagen worden, deren Strukturen und Personal in der Provinz aber fortbestanden.

Helmuth Nürnberger, einer der Roth-Biographen, resümiert das Geschehen so: „Im Sommer 1919 schickte die Redaktion Roth als Sonderberichterstatter nach Westungarn – dem heutigen Burgenland -, das von den Siegermächten seiner überwiegend deutschsprachigen Bevölkerung wegen Österreich zugesprochen worden war, indem es aber eine Agitation zugunsten einer Volksabstimmung und des Verbleibs bei Ungarn gab. In dem katholisch geprägten Land, in dem das Nationalbewusstsein der Bewohner zwischen deutschen, kroatischen und ungarischen Elementen schwankte, fand diese Agitation, hinter der Großgrundbesitzer standen, die politisch für den späteren Reichsverweser Horthy und eine eventuelle Restauration der Habsburger gegen das sozialdemokratische Österreich Partei nahmen, immerhin so viel Rückhalt, dass der Hauptort Ödenburg (Sopron) sich schließlich für Ungarn entschied.“ Fast jedem dieser Sätze, jeder dieser Aussagen müsste eine Ergänzung oder Korrektur angefügt werden. Vor allem aber muss sehr deutlich gesagt werden, dass Österreich und Ungarn ja bis Ende 1918 eine Doppelmonarchie bildeten. Der Zerfall des so genannten Vielvölkerstaats bewirkte zuallererst das Auseinanderbrechen Österreichs und Ungarn, dazu dann die erstmalige Selbständigkeit diverser anderer Gebiete und Regionen. Oben genannte Konferenzen der Sieger regelten (Rest-)Österreich und Ungarn getrennt.

Weiter noch Nürnberger: „Roths mehrteilige Reportage „Reise ins Heanzenland“ („Burgenland“ ist eine spätere Prägung), der erste in der Abfolge schnell berühmt gewordener Reiseberichte, die er verfasst hat, ist noch ohne die Entschiedenheit des Urteils, mit der er später berichtet, zeigt aber schon das Wesentliche seines Vorgehens: subjektiv – wie Roth später argumentieren wird, gerade darum „objektive“ - Darstellung, eine starke Bildhaftigkeit, blendender, überraschender Witz der Formulierung, eine Neigung zum Extremen im Auskosten des Wahrgenommenen“. Auch das wäre zu kommentieren: Denn es sind sehr unterschiedliche Text-Qualitäten schon innerhalb der wenigen Tage zu erkennen, da DER NEUE TAG Roths Arbeiten zu Westungarn publizierte. Das aber signalisiert keineswegs irgendeine Entwicklung, es demonstriert lediglich, dass schon der frühe Roth über eine journalistische Klaviatur verfügte, die vom beinahe trockenen „amtlichen“ Berichtsstil bis zur lyrischen Reportage und auch zum sehr entschiedenen Urteil reichte. Der Beitrag „Die Lage in Westungarn“, gedruckt am 5. September, nicht zu den Reportagen gehörend, aber auch nicht zu den weiteren thematischen Beiträgen, die nach Mitte August erschienen, wohl aber auf alles zurückgreifend, ist an Entschiedenheit des Urteils kaum zu übertreffen. Was Roth über Judenhass, Kommunistenhass, Neu-Militarismus 1919 schrieb, ist bis heute zitierfähig.

Was zu DDR-Zeiten beispielsweise nie zitierfähig geworden, weil gar nicht erst zum Druck gekommen wäre, sind die Schlaglichter, die er auf die 133 Tage „Ungarische Räterepublik“ fallen lässt. Er braucht diese Aussagen, um Motivationen erklären zu können, die zu extremem Antisemitismus, zu Pogrom-Stimmung, zu „weißem Terror“ führten. Der gelernte DDR-Bürger, falls überhaupt, erinnert sich grausiger Geschichten über den weißen Terror aus Film und Literatur. Meine Familie beispielsweise hatte viele Jahre sehr persönliche Beziehungen zu einem Ungarn, der 1919 in die Emigration gehen musste und erst 1945 wieder nach Ungarn zurückkehrte, dann neu verfemt, neu rehabilitiert und wieder verfemt war, in dieser krassen Form hat es das in der DDR tatsächlich nicht gegeben. Dass dem weißen aber ein „roter Terror“ vorausgegangen war, verbunden mit einem Namen, der bei Joseph Roth in seinen West-Ungarn-Texten immer wieder auftaucht, Tibor Szamuely (27. Dezember 1890 – 2. August 1919), davon hörten wir nie, oder es war glatte antikommunistische Hetze. Szamuely war erst Tage tot, als Joseph Roth in Sauerbrunn auftauchte, wo es bald heftigste Proteste gab gegen die Aufnahme in den dortigen Ortsfriedhof. Was uns einst auch nie in letzter Konsequenz vor Augen geführt wurde: Ungarn verlor im Ergebnis des I. Weltkriegs zwei Drittel seines Territoriums, ein Viertel aller Ungarn lebten fortan außerhalb.

Wenn Nürnberger am Ende seiner knappen Passage zu dieser Zeit in Roths Leben schreibt: „Roths spätere Parteinahme für die Wiederherstellung der Monarchie in Österreich steht im vollsten Widerspruch zu den von ihm 1919 vertretenen Auffassungen“, ist das nicht mehr als eine billige Feststellung. Wer in seiner Jugend junge Blonde liebt und im fortgeschrittenen Alter eher die gerundeten Schwarzen bevorzugt, verrät nicht seine Ideale, er hat einfach nur neue gewonnen, was man mit etwas Wohlwollen Entwicklung nennen darf, vielleicht auch Lernen. Nun aber erst einmal ins „Heanzenland“. Roth beginnt mit der Grenze und seinem alten Geographie-Professor Valentin Langensack. Der unterschied im Unterricht natürliche und politische Grenzen, der Schüler hatte die Unterschiede gefälligst zu kennen. Jetzt dazu Joseph Roth: „Nun, da er tot ist, gibt es zwar immer noch politische Grenzen, aber längst keine natürlichen mehr, sondern unnatürliche. Auch sind die politischen Grenzen nicht mehr Punkte, Striche, Linien usw., sondern Schikanen, Leidenswege, Passionen, Golgathas, Kreuzigungen: mit einem Wort: Visitationen“. Man könnte am Wort Grenze ein ganzes Roth-Thema aufmachen: Romane und Erzählungen spielen in Grenzlanden und die Phänomenologie der Grenze kehrt sehr ähnlich in den schon erwähnten „Briefen aus Deutschland“ wieder. „An der Grenze gilt das Sprichwort: Keine Antwort ist nächstens eine Antwort.“

Reportage beinhaltet für Joseph Roth Humor, Ironie, auch Selbstironie, was in anderen Beiträgen komplett fehlt. Eine Schilderung wie vom Gewinn eines Hotel-Zimmers in Wiener-Neustadt unter Benutzung eines fremden, schon ausgefüllten Meldezettels inklusive Einsatz eines mitgebrachten Revolvers klingt haarsträubend, ist aber genau der Roth, den wir von später kennen und lieben. Laut Roth musste man in Mattersdorf geboren sein, um in Wiener-Neustadt ein Hotelzimmer ergattern zu können, Mattersdorf wurde erst 1924 zu Mattersburg. „Es führt zwar ein Geleise direkt von Wiener-Neustadt nach Sauerbrunn, aber der Zug verkehrt nicht. Erstens weil es eine unnatürliche Grenze ist, zweitens, damit die Reisenden ihre Koffer schleppen können.“ Sauerbrunn ist heute Bad Sauerbrunn und gehört zum Bezirk Mattersburg im nördlichen Burgenland. Roth hatte keine Ware bei sich. Was Zöllner wohl überall auf der Welt verunsichert. In Neudörfl macht Roth für ein Viertel Roten eine kleine Pause, „das Dorf besteht aus einer einzigen Straße“. Aus Ödenburg berichtet er: „Der Kommunismus fand gerade in Deutsch-Westungarn am spätesten Eingang, und der zähe Konservativismus der westungarischen Bauernschädel machte der Budapester Räteregierung mehr zu schaffen als die politischen Umtriebe der gestürzten Magnaten und Junker.“ So widerlegt einer als Reporter eine Legende, ehe sie noch gestrickt ist und das auch noch vollkommen unaufgeregt.

Zur Überraschung des heutigen Lesers erzählt Joseph Roth vom Alkohol-und Tanzverbot der Räte-Regierung und wir wissen nun, dass Gorbatschow alles andere als originell war, als er seinen Landsleuten den Wodka nehmen wollte. Auch deshalb wohl heißt der meistbeworbene Wodka heute „Gorbatschow“. Roth beobachtete: „... während zum Beispiel in Budapest das Alkoholverbot längst aufgehoben ist, kann es passieren, dass ein Schankwirt in Wieselburg vor das Revolutionsgericht gestellt wird, weil er einem Reisenden ein Stamperl Schnaps verkauft hat.“ Wir ahnen, wer der Reisende gewesen sein könnte. „Die Rotgardisten überfallen immer noch wehrlose Juden auf offener Straße, um Blaugeld zu requirieren“. Auch Roth selbst wird Blaugeld los und ich hadere fortgesetzt mit den Herausgebern meiner zahlreichen Roth-Bände, die alles Mögliche erläutern, nur nicht, was denn, bitteschön, Blaugeld war. Erst ein Blick auf das Aussehen der verschiedenen österreichischen Währungen ließ mich zur Vermutung kommen, es war ganz profan die Farbe der Scheine, der 1000-Kronen-Schein zum Beispiel, noch aus Kaiser-Zeiten und vorübergehend mit „Deutschösterreich“ gestempelt, sah blau aus, nicht wie der Enzian, wohl aber wie die Donau im Lied. Rotgardisten überfallen Juden! Also, da geht doch gar nichts mehr, Roth! Setzen! Aber es kommt noch schlimmer und zwar in der genau umgekehrten Richtung: Schrecken ohne Ende.

„Ein siebzehnjähriger Judenjüngling war es, der einem auf dem Boden liegenden, zu Tode misshandelten Offizier noch fünf Revolverschüsse nachsandte. Ein Jude, der die junge Frau eines Oberleutnants so lange schlug, bis sie taub wurde.“ Schreibt der Jude Joseph Roth in einem alles andere als antisemitischen Blatt. Im gleichen Beitrag findet sich dies: „Aber dieser neuzeitliche Antisemitismus ist politische Geschäfts- und niemals Überzeugungssache. Wenn es wahr ist, dass man die Kultur eines Volkes danach abschätzt, wie es seine Juden behandelt, so müsste man die ungarische Kultur nicht sehr hoch einschätzen. Zum Glück ist wenigstens, was Westungarn betrifft, die Judenhatz, wie übrigens auch bei uns, nur der Zeitvertreib der Halbgebildeten, der Pseudointelligenz.“ Roth legt in seinen Berichten nach den eigentlichen Reportagen viel Wert darauf, weißen Terror im „Heanzenland“ zu dementieren. Er hat der Oberst Lehar selbst kennen gelernt und interviewt, der mehrfach auftaucht. Es handelt sich um Anton Freiherr von Lehár, den Bruder des berühmten Komponisten (21. Februar 1876 – 12. November 1962), der nach seiner Entlassung in Ungarn blieb und für die Wiedereinrichtung der Monarchie arbeitete. Auch hier wäre Herausgeber-Information hilfreich gewesen. Lehar sorgte für die Bewaffnung der Bauerschaft, was Roth veranlasste, im September unmissverständlich die Entwaffnung der Bauern zu fordern.

Über den „Roten Terror“, an dessen Spitze oben genannter Szamuely stand, gibt es ein Buch mit dem Titel „133 Tage ungarischer Bolschewismus“, Autor Ladislaus Bizony, von József Lengyel soll es einen auch auf deutsch erschienenen Roman über Szamuely geben, den ich leider nirgends finden konnte, Titel „Visegrader Straße“. Ausgewählte Reden und Aufsätze von Szamuely erschienen unter dem Titel „Alarm“ 1959 im Berliner Dietz Verlag, wohl mit Blick auf das Jubiläum 40 Jahre Räterepublik, 244 Seiten, jetzt sehr schwer aufzutreiben. In einer der Wohnungen Szamuelys in Budapest sollen nach seinem Tod bedeutende Vermögenswerte gefunden worden sein. Alles das ist Hintergrund für den Reporter Roth, der die Lügenpropaganda beschreibt, die zugunsten Ungarns im Auftrag des Ministers Jakob Dreyer (25. Januar 1874 – 5. Dezember 1933) betrieben wurde. Plakate, Flugschriften und Zettel malten die Gefahr eines Einmarsches „roter“ Wiener Truppen an die Wand, die Wiederkehr Bela Kuns, der sich angeblich in einer deutschösterreichischen Sommerfrische schöne Tage machte. Die Propaganda fiel auf fruchtbaren Boden: von Räterepublik hatten die Menschen West-Ungarns definitiv die Nase voll. Westungarische Bauern zeichnet Roth hart: „Braucht der Bauer von Deutsch-Kreuz seinen Goethe? Er braucht sein Geld, seinen Boden. Wenn Goethe morgen zu ihm käme und ihn um ein Nachtquartier bäte, er wiese ihn ab.“

Oder so: „Denn der westungarische Bauer hat kein Nationalgefühl. Es ist höchstens ein Stammesgefühl und nicht einmal das ganz. Der verachtet den Fremden, ob dieser ein Budapester oder ein Wiener ist.“ Wilhelm von Sternburg sah sich in seiner Roth-Biographie auf Grund solcher Äußerungen veranlasst, Vorurteile, antiungarische Ressentiments, bei Roth zu vermuten, was, unkommentiert behauptet, ja selbst wieder nur ein Ressentiment transportiert. Die siebente der Reisereportagen trägt den Titel „Die Juden von Deutsch-Kreuz und die Schweh-Khilles“. Und zeigt, dass auch innerhalb der Reihe der Ton sich ändern kann. Ob Herausgeber Helmut Peschina vermutete, es gehöre zum Allgemeinwissen, was „Schweh-Khilles“ sei oder nur nichts dazu fand, er sparte sich auf alle Fälle eine Erklärung. Befragt man GOOGLE, kommt ein Joseph-Roth-Treffer nach dem anderen, alle verweisen auf genau diesen Text, da lobe noch einer die Netzwelt. Es geht jedoch um eine Sache aus dem Jahr 1670. Da wurden die Juden Wiens aus der Stadt gewiesen und ein Fürst von Esterhazy, Sitz Eisenstadt (wunderschön und zu besichtigen), Paul mit Namen, erlaubte ihnen, sich in sieben Gemeinden anzusiedeln, eine davon Deutsch-Kreuz, von dem im Titel bei Roth die Rede geht. Was Schweh-Khilles bedeutet, entzieht sich leider auch meiner Kenntnis.

„Mitten in Deutsch-Kreuz eine Filiale der Leopoldstadt. Siebzig jüdische Familien wohnen seit tausend Jahren im Deutsch-Kreuzer Ghetto. Denn sie wohnen alle zusammen, in einer großen Häusergruppe hinter den weißen Gehöften der reichen Bauern und führen ein eigenes Leben.“ Und: „Es sind lauter deutsche Gemeinden. In einigen haben die Juden volle Autonomie und sogar eigene Bürgermeister.“ Verständlicher wird der Satz aus dem September-Beitrag Roths: „Juden und Arbeiter möchten gerne nach Deutschösterreich. Die Bauern nicht sehr gern.“ In einer Hinsicht, weiß der heutige Leser, hat sich Joseph Roth 1919 heftig getäuscht. Er schrieb: „Die Zeit, da man durch Lügenberichte aus Serbien über das Schicksal des Konsuls Prochaska die Öffentlichkeit für einen Massenmord reif zu machen verstand, ist denn doch endgültig vorüber.“ Oh, nein, das klappte später auch noch wunderbar: als der erste Irakkrieg gerechtfertigt werden musste, als das Eingreifen gegen Serbien, schon wieder oder immer noch: Serbien, motiviert werden musste. Damals geisterte einige Wochen das Gerücht durch die Wiener Zeitungen, der Konsul Oskar Prochaska sei in Serbien widerrechtlich verhaftet und entmannt worden. Aus jüngerer Zeit dazu unter anderem „Die Schlafwandler“ von Christopher Clarke zu konsultieren oder ein Beitrag in der ZEIT 22/2014 von Joachim Riedl. Für Roth aber war 1919 der Kampf gegen Falsch-Meldungen ein Kernanliegen.

Immer wieder attackiert er „Fürstenfeld“, „Fürstenfelder Nachrichten“, leider werden auch hierzu die Leser der Texte allein gelassen. „Die deutschösterreichische Sache liegt mir genauso am Herzen wie irgendeinem der in Fürstenfeld tätigen Herren. Doch verursachte meine Liebe zu meinem Volke nicht eine Abneigung gegen ein anderes, sondern: festigt in mir nur die Überzeugung, dass Wahrheit uns nützen, Lüge schaden könne.“ Fürstenfeld liegt in der Steiermark, wer aber wie von dort aus in Sachen West-Ungarn agierte, muss ich leider hier offen lassen. Dafür klingt, was folgt, als habe Roth hellseherische Fähigkeiten gehabt: „Auch die paar tausend Zigeuner, die wir mitbekommen, kümmern sich um den Anschluss nicht. Ich glaube, sie werden in Deutschösterreich zu einem Problem werden.“ Mit Blick auf einen Redakteur Lingauer schreibt er: „Gefährlicher als Gewehre sind die Leitartikelfedern.“ Womit er wohl im übertragenden Sinn nicht unrecht hat. Falsch lag dafür Biograph von Sternburg mit seinem Fazit: „Der Journalist Roth macht in seinen Reportagen aus dem „Heanzenland“ jedoch eindeutig Propaganda für die österreichische Seite und scheut dabei auch nicht vor düsteren Verschwörungstheorien zurück“. Das Einschleusen ungarnfreundlicher Studenten, um eine Abstimmung zu beeinflussen, als eine solche Theorie zu bezeichnen, noch dazu eine düstere, wird Joseph Roth nicht gerecht. Braucht aber Rechtfertigung, wer schreibt: „Es ist doch ein bisschen unheimlich an einem Orte, an dem ein Land noch nicht aufhört und ein zweites noch nicht beginnt.“ Journalisten-Eleve Roth war 1919 in vielem schon der spätere Joseph Roth.


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