Annette Kolb 150
Da gibt es diese Schilderung aus der Frankfurter Paulskirche. Peter Suhrkamp hat sie zwei Tage später niedergeschrieben: „Letzten Sonntag, den 28. August, fand hier in der Paulskirche die Verleihung des Goethe-Preises an Annette Kolb statt. Ich musste teilnehmen. Die Feier selbst verlief nicht ganz glücklich. Der Oberbürgermeister, der die Rede auf Annette Kolb zu halten hatte, hatte einen Text zu sprechen, den er selbst nicht verstand. Jedenfalls hatte ich, während er sprach, nur Mitleid mit ihm und einen Moment sogar das Gefühl, er würde im nächsten Augenblich ohnmächtig umsinken. (Er ist so groß und dick wie ein Elefant und war vor kurzen erst sehr krank). Und dann Annette Kolb. Man hatte ihr ihre Rede auf dünnstes Flugpostpapier getippt. Sie hielt das Bündel Blätter krampfhaft in ihren Rechten vors Gesicht gehoben, klammerte sich geradezu daran, denn offenbar war ihr das so eingepaukt worden. Ohnedies fürchtete ich andauernd, sie könnte im nächsten Moment die Blätter im Saal umherstreuen. Ich habe sie noch nirgends erlebt, ohne dass nach fünf Minuten in jeder Ecke eines Raums etwas von ihr lag. Sie kam aber ohne Zwischenfall zu Ende, nur konnte man kein Wort von ihr verstehen. Hinterher war ich kurz mit ihr zusammen, denn wir mögen uns sehr gerne, und sie freute sich außerordentlich. Sie nannte sich „meine Ariadne“ und mich den „Theseus“, der sie auf Naxos allein ließ.“ Der erfreute Adressat des Briefs vom 30. August 1955 war niemand anderes als Hermann Hesse, der auch nahezu postwendend antwortete.
Die Rede, die Annette Kolb nicht aus der Hand fiel, hat sich natürlich erhalten. Was Peter Suhrkamp nicht verstand, begann so: „Als mir in Paris mitgeteilt wurde, dass ich den Goethepreis dieses Jahres erhalten sollte, war meine erste Reaktion, ob er nicht zu hoch gegriffen sei, so dass ich auf die protokolläre Frage nach der Annahme zögerte.“ Reichlich zwei Jahre später schrieb Kolb ihrer Freundin Theodora von der Mühll, der Schwester Carl Jacob Burckhardts: „Ist das Gekrächze von Francois Mauriac im Radio nicht geradezu unerlaubt? Wer mag sich das anhören Meine 3 Romane sind schöner wie seine 8 – ich bin erbittert auf seinen N-Preis.“ Der Franzose Mauriac war der Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1952, Annette Kolb durchaus selbstbewusst genug, Vergleiche anzustellen. Ob sie sich selbst als Kandidatin für einen Nobelpreis sah, lässt sich aus diesem Brief vom 30. November 1952 natürlich nicht ablesen. Generell gilt für ihr langes Leben, dass sie erst sehr spät in einer breiteren Öffentlichkeit Ehrung und Anerkennung erfuhr. Dem Fontane-Preis für ihren ersten Roman „Das Exemplar“, vermittelt vom befreundeten Franz Blei, folgte sehr lange nichts. Dann aber, nach dem Ende des II. Weltkrieges, ging es buchstäblich Schlag auf Schlag: Mitgliedschaft in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Main 1949, in der Akademie der Schönen Künste in München 1950, Kunstpreis für Literatur der Stadt München 1951, der schon genannte Goethe-Preis 1955, der Literaturpreis der Stadt Köln 1961, dazu mehrere hohe Orden.
In ihrer Dankesrede 1955 nannte sie den Schriftsteller einen Angehörigen einer minder glücklichen Zunft als der der Maler, der Architekten, der Komponisten, Begründung: „Seinem Bewusstsein steht nicht so ohne weiteres der Überblick über seine Gesamtleistung zu Gebot.“ Das muss man gewiss nicht zwingend so sehen, wie sie glauben wollte. Anders ihr Blick auf das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft bei Goethe: „Doch wäre er ohne die Wissenschaft, die er sich erwarb, wohl nicht der eindeutige, zwiefältige, vielfältige, der universale Goethe, dem Verantwortungsgefühl und Bestimmung vorherrschende Zeichen seines Lebens geworden sind.“ Aus einem Brief an Frau von Stein zitiert sie Goethe: „Wie gut ist es, dass der Mensch sterbe, um nur die Eindrücke auszulöschen und gebadet wiederzukommen.“ Sie habe sich dies nicht zu ihrem Wahlspruch erwählt, das habe sich ihrer bemächtigt. „um nie mehr von mir zu lassen, als ein anwachsender Akkord, aufseufzend, beschwichtigend, tröstend, aufrichtend, erdröhnend.“ Sie schloss ihre kurze Rede mit Blick auf die Gegenwart des Jahres 1955: „So fremd wie unleidlich wären ihm heute gewisse Parteiparolen, der Parteisinn und all die verjährten Zankäpfel, die in einer Zeit wie dieser ein friedliches Zusammenleben gefährden.“ Und: „Mag über Goethe das Beste, mag alles über ihn gesagt worden sein, man wird fortfahren, sich mit ihm zu befassen, denn er hat zu wirken nicht aufgehört.“
Hermann Hesse, auch persönlich gut bekannt mit Annette Kolb, freute sich 1955 natürlich mir ihr: „Wunderlich ist das mit Annette Kolb beim Goethepreis zugegangen! Es passt genau zu ihr und konnte gar nicht anders sein, und klingt doch wie erfunden! Dass sie den Preis bekam, hat mich sehr gefreut. Dass sie es auf sich nahm, bei der Verleihung selbst aufzutreten, ist rührend.“ Sie war immerhin 85 Jahre alt. Doch wenn man weiß, dass sie noch mit 97 Jahren nach Israel reiste, darf man glauben, dass die Anstrengung zwölf Jahre früher ihr keineswegs unzumutbar erschienen war. Reisen war zeitlebens für sie etwas gewesen, was sie liebte. Innerhalb Europas war sie fast ständig unterwegs, wo auch immer sie gerade ihren Hauptwohnsitz hatte, sie fuhr nach Salzburg zu den Festspielen, nach Irland zu ihrer Schwester Germaine, sie war sehr oft in Paris, auch als das noch nicht ihr ständiger Wohnort war, während der Exilzeit, in der Schweiz, in Wien. Lange Jahre während der Weimarer Republik lebte sie in Badenweiler in einem kleinen Haus neben der Villa von René Schickele, ihm war sie früher schon nach Uttwil am Bodensee gefolgt, nachdem sich beide 1915 persönlich kennen gelernt hatten. Und immer war sie froh, wenn sie von niemandem an ihren Geburtstag erinnert wurde, der sich gerade heute zum 150. Male jährt. Als Katholikin, so erklärte sie angelegentlich, feiere sie Namenstage und nicht Geburtstage. Anderen gratulierte sie.
Ihr Leben findet sich mehr als das vieler anderer Autorinnen und Autoren in ihren Büchern. Dem dritten und letzten Roman „Die Schaukel“ begegnen nicht wenige, als wäre er eine authentische Autobiographie. Luise Rinser (1911 – 2002), inzwischen fast nur noch als Verfälscherin ihrer eigenen Geschichte gesehen, schrieb in ihrem Porträt von Annette Kolb vielleicht sogar schon mit uneingestanden schlechtem Gewissen: „Sie hat sich scharf gesehen, aus beträchtlichem Abstand zu sich selber, und sie hat sich dem Leser mit entzückend wohldosierter Offenheit vorgestellt, mit überaus gescheiter und etwas melancholischer Selbstironie, mit anmutigem Stolz und einer schwebenden Gelassenheit (die Sympathie des Lesers zugleich erheischend und nonchalant abweisend), fern von intellektueller Lust an der Selbstanalyse, doch mit einem bisweilen durchdringend scharfen Blick in die Tiefe. Ein Meisterstück der Selbstdarstellung“. Wer immer über Annette Kolb schrieb, stellte neben ihr Werk ihre Persönlichkeit. Bei Hermann Kesten liest sich das so: „Unter den deutschen Dichterinnen zeichnet sich Annette Kolb durch ihr Werk wie durch ihre Person aus. Mut und Charakter bewies sie in Deutschland, im Exil und in ihrem zweiten Vaterland.“ Als Tochter einer französischen Mutter und eines deutschen Gartenbau-Experten, als Schwester zweier Schwestern und zweier Brüder erlebte sie buchstäblich Leben, von dem sie zehren konnte.
Und schon ihre erste umfänglichere Veröffentlichung (nach einem 1899 im Selbstverlag herausgegebenen Bändchen mit kurzen Texten, das niemand kaufen wollte), erschien an einem renommierten Ort, die „Neue Rundschau“ druckte 1905 „Torso“, als Novelle bezeichnet, aber Novelle passt zum Text wie Roman zu den Romanen, die strenger genommen keine sind. Allein der Beginn zeigt, wie irritierend die Bezeichnung Novelle hier ist: „Gedanken, Meinungen und Überzeugungen drängen nach Äußerung, lange bevor wir noch wissen, welchen Ausdruck wir ihnen verleihen, in welche Form wir sie bringen können. Den einen treiben sie zur Gestaltung, zur Ausführung oder zur Tat, den minder Glücklichen zwingen sie zur Schrift.“ Kolb erzählt von einer Marie und was diese Marie dann erlebt in einem Kloster, das hat sie selbst erlebt. In einem anderen Anlauf, viel später, erzählte sie davon unter dem Titel „Klosterleben“. Und nun, 1949, mit einem Akzent, den sie 1905 gar nicht hätte setzen können: „Heute, da in Europa so viele Millionen die Pein des Hungerns erfahren, ist es mir eine Genugtuung, sechs Jahre hindurch täglich auf ein paar Stunden wenigstens, mit solchen Leiden bekannt gewesen zu sein.“ Ihr erster Roman „Das Exempel“ wird wegen einer scheinbar auch dem eigenen Leben entnommenen Geschichte gern zur Begründung herangezogen, warum Annette Kolb nie heiratete, keinen Kinderwunsch entwickelte.
Wer sich jetzt, veranlasst vom Jubiläum ihrer Geburt am 3. Februar 1870, mit ihrem Werk und ihrem Leben befassen möchte, hat deutlich bessere Bedingungen als noch vor wenigen Jahren. 2017, auch hier ein Jubiläum der Anlass, der 50. Todestag am 3. Dezember 1967, erschien nicht nur die Biographie von Armin Strohmeyr in einer zweiten, vermehrten und verbesserten Auflage, sondern auch eine vierbändige Ausgabe in chronologischer Ordnung, die in vieler Hinsicht für mich vorbildlich ist. Vorbildlich auch, das noch schnell, dass Strohmeyr seine eigene, zuerst 2002 gedruckte Biographie nicht einfach neu auflegen ließ, die erste Auflage hatte manche Kritik erfahren, die zweite ist jetzt wirklich informativ und lesbar, mit ausführlichem Apparat, dem nur eines fehlt: ein Personenregister. Die vier Bände aber haben wegen der chronologischen Ordnung den zeitlichen Zusammenhang der Werke zum Prinzip, es steht eben Roman neben Feuilleton, Kritik neben Betrachtung oder Essay, Plauderei, Reisebeschreibung. Der größte Vorzug dieser Ausgabe ist für mich aber der Beigabe-Teil. Man findet zeitgenössische Rezensionen, die den jeweiligen Büchern galten und das ist eine Kombination, die nur sehr, sehr selten angeboten wird in Ausgaben für sterbliche Leser. Denn, das darf jetzt erwähnt werden, die vier Bände kosten zusammen nur 49 Euro, was wohl der Zusammenarbeit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit der Wüstenrot Stiftung zu danken ist, Herausgeber Hiltrud und Günter Häntzschel.
Wenn so preiswerte Werkausgaben mit Apparat entstehen können, wäre auch in anderen Fällen Geld sehr gut angelegt, hier gibt es zu allem sogar ein Vorwort von Albert von Schirnding, das man tatsächlich vorab lesen sollte, wenn man nicht schon mit viel Vorwissen an Annette Kolb herantritt. Wie immer bei Auswahlen könnte man natürlich beklagen, was in ihnen fehlt, was aber letztlich dazu führt, dass statt der vorliegenden vier sechs oder mehr Bände nötig gewesen wären. So kann man zum Beispiel die beiden Biographien zu Mozart und Schubert sehr leicht und gut erhalten antiquarisch kaufen, nicht ganz so leicht ihre Politiker-Biographie „Aristide Briand“, für die freilich kaum Interesse zu wecken sein wird. Es fehlen das „Beschwerdebuch“ und „Kleine Fanfare“, sie sind nur mit einzelnen Texten vertreten. Das macht aber gar nichts. Wer etwa „1907 – 1964. Zeitbilder“ aus dem S. Fischer Verlag besitzt oder „Blätter in den Wind“, ebenfalls S. Fischer, wo alles, aber auch alles fehlt, was man einer leserfreundlichen Ausgabe abverlangen muss, der hat in der vierbändigen Wallstein-Ausgabe die mehr als willkommene Ergänzung. „Blätter in den Wind“ enthalten mehr als 60 Seiten in französischer Sprache, erst mit den „Briefen an Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ unter dem Titel „Ich hätte dir noch so viel zu erzählen“ hat S. Fischer entdeckt, dass keineswegs alle Leser französisch und dazu noch so gut französisch können, um originale literarische Texte genießen zu können. Dafür gibt es massig überflüssige Fußnoten, andere fehlen.
Am Ende des dritten Wallstein-Bandes findet sich ein sehr kleiner, nicht einmal eine halbe Seite umfassender Text, der gerade heute zwingend zitiert werden muss, er trägt die Überschrift „Bitte, meinen Geburtstag zu vergessen“: „Wer sich mit meinen Schriften befasste, weiß, dass ich eine Freundin von Namenstagen aber – allgemein gesprochen – nicht von Geburtstagen bin, ihn von Haus her nie begehen lernte und es in der Folge immer so hielt. Indessen musste ich zwei Weltkriege erleben und wüsste heute gewiss nichts, was mir ferner läge, wie mir gratulieren zu lassen, dass ich noch da bin, und den eigenen Geburtstag zu feiern. Wer also keine Notiz davon nimmt, sondern mir hilft, ihn zu vergessen, indem er mich nicht daran erinnert, dem sage ich hiermit meinen herzlichen Dank.“ Das stand, in sich witzig genug, am falschen 75. Geburtstag, nämlich am 2. Februar 1945, in „Aufbau“. Am 1. Februar 1925 druckte die „Luxemburger Zeitung“ den etwas längeren Text „Abwehr“. Dort steht zu lesen: „Es ist mir nicht erinnerlich, in der Folge mein Alter jemals richtig angegeben zu haben. Ich griff ad libitum in die Tasten, zu hoch oder zu tief, ganz einerlei, nach Laune, und wie es mir gefiel. Nur stimmen durfte es nie, weder Ort, noch Jahr, noch Tag. Nur niemals die Wahrheit. Wozu? Wen geht sie etwas an?“ Feuilletons und Verlage, muss man heute stocknüchtern antworten: Ohne Geburtstage kein Nachleben. Möglichst runde.
„Aber am 26. Juli, an St. Anna, da ist mein Namenstag. Da bin ich munter und nehme Geschenke mit Begeisterung entgegen. Wie wär’s mit einem Flügel? Einen Stutzflügel, Blüthner oder Bechstein. Ich habe zwar einen Konzertflügel, einen Pleyel. Und so Ihr mich fragt, wie alt er ist, werde ich es Euch offen und rückhaltlos bekennen.“ Ob sie gefragt wurde, ist nicht überliefert, wohl aber, dass sie bis ins Alter sehr gut Klavier spielte, sogar im Rundfunk konzertierte, Liederabende begleitete. Von Musik verstand sie sehr viel und wer ihre Schilderungen von den Salzburger Festspielen liest, ihre schwärmerischen Kritiken bestimmten Konzerte und Konzertteile, die Leistungen der von ihr verehrten Dirigenten, von denen sie die berühmtesten der Zeit auch noch nahe persönlich kannte, der wird, wie ich, ganz ehrlich staunen müssen. Nebenbei: es macht Spaß, zu erfahren, wie sie, also ihr anderes Ich Aminta mit Chefredakteursbriefen in der Tasche zu Salzburg den Pressekarten-Verantwortlichen löchert: mal erfolgreich, mal weniger. Sie muss nicht schreiben: So war ich. Man ist sich schnell sicher: Das war sie. So war sie. Darum mochte man sie. Darum half ihr jeder suchen, wenn sie wieder etwas verloren, verlegt, verschusselt hatte. Nur eines ist falsch: die Behauptung, es habe sie nie jemand ohne Hut gesehen. Klaus Mann hat, man kann es in seinem Tagebuch für 1939 nachlesen. Auch Armin Strohmeyer hätte es nachlesen können.
Bleibt noch, weil es anders gar nicht geht, die Geschichte mit Thomas Mann nachzutragen. Dessen Gattin Katia hat sie so erzählt: „Wirklich bedauerlich aber war die Sache mit Annette Kolb, Annette Kolb ist äußerlich – nur bildlich skizziert – das Modell einer Figur im „Doktor Faustus“, der Jeannette Scheuerl, wodurch schon im Namen eine Ähnlichkeit mit Annette Kolb gegeben ist. Von dieser Figur, die wirklich mit Liebe und Hochachtung geschildert ist, heißt es nun aber, sie hätte ein „elegantes Schafsgesicht“. Darüber hat sich Annette sehr gekränkt. Sie hat es niemals verwunden, und seitdem war es aus zwischen ihr und Thomas Mann. Er schätzte Annette Kolb immer ganz besonders.“ Einem Brief von Annette Kolb an Thomas Mann, geschrieben in Paris am 17. Mai 1948, ist dies zu entnehmen: „Ihre Worte über meine Mutter haben mich verletzt. Meines Wissens kannten Sie sie nicht oder kaum, sie war jedenfalls ganz anders und ich hatte sie und ihren unsäglichen schweren Tod in der Schaukel geschildert.“ Die Herausgeber der Briefe setzten dazu als Information in die Fußnote: „Thomas Mann sah kurz vor seinem Tod Carl Jacob Burckhardt und bat diesen, Annette Kolb zu sagen, dass er mit ihr Frieden schließen wolle. Als sie es von Burckhardt erfuhr, war Thomas Mann bereits gestorben.“ Wer nachlesen will, was Thomas Mann in seinem „Doktor Faustus“ tatsächlich schrieb, suche das Kapitel XXIII auf, egal in welcher Ausgabe, und wird finden, dass Madame Scheuerl fast keine Rolle spielt, wohl aber die Tochter Jeannette, über deren Schilderung sich das Vorbild nun eben gerade nicht beschwerte, genau das aber meinte.
Für alle ohne Thomas Mann im Regal die inkriminierte Stelle: „Von mondäner Hässlichkeit, mit elegantem Schafsgesicht, darin sich das Bäuerliche mit dem Aristokratischen mischte, ganz ähnlich wie in ihrer Rede das bayerisch Dialekthafte mit dem Französischen, war sie außerordentlich intelligent und zugleich gehüllt in die naiv nachfragende Ahnungslosigkeit des alternden Mädchens. Ihr Geist hatte etwas Flatterndes, drollig Konfuses, worüber sie selbst aufs herzlichste lachte“. In seinem Tagebuch von 1939, als Annette Kolb im Mai einige Tage bei den Manns in Princeton übernachtete, steht Freundlicheres, steht meist nur Annette, ohne den Familiennamen. Man aß mit ihr, saß mit ihr im Garten, man traf Einstein, korrigierte Übersetzungen gemeinsam mit Klaus Mann. Als Hermann Kesten sein schon zitiertes Porträt für „Meine Freunde die Poeten“ schrieb, hielt er sich fast ausschließlich an ihre Bücher „Glückliche Reise“ und „Mozart. Sein Leben“. Als er später das ausführliche Nachwort zur Neuausgabe von „Wera Njedin“ schrieb, holte er weiter aus. René Schickele, den Freund, gleich mit einbeziehend, behauptete er: „Selten klang deutsche Prosa im 20. Jahrhundert wieder so leicht, schier leichtsinnig und leichtfertig, und gleichzeitig so entschlossen human, mit dem Ernst dieser beiden entschiedenen Moralisten.“ Dass hier Franz Blei aus seinem berühmten „Bestiarium literaricum“ nicht zitiert wird, so hübsch es ist, sei mir gegönnt.