Richard Dehmel, am Todestag

Karl Kraus, man erinnert sich, war einer, der sich Brocken aus Zeitungen und Zeitschriften und Büchern und auch aus dem Leben hernahm, um sie in seiner „Fackel“ gallig, bissig, zynisch zu kommentieren. Das Verfahren macht nicht beliebt, die tütige Gegenwart hat für dergleichen den Begriff Kollegenschelte erfunden, den anderen, Kritik, damit gleich auszuschalten. Ein jeder schwelge in seinem Fettnapf, die Tagesordnungen sehen anders aus. Einmal nahm sich Kraus, der Österreicher, eine Nachricht her, die besagte, dass Richard Dehmel in Hamburg so unbekannt sei, dass die Post ihn in Blankenese, wo er das so genannte Dehmel-Haus bewohnte, nicht gefunden habe. Der nicht genannte Redakteur der Nachricht warf die Frage auf, ob es denkbar sei, dass ein Brief an August Strindberg in Schweden nicht ankäme, nur weil keine genaue Anschrift darauf zu finden sei. Der sei doch auch nur Schriftsteller. Vorstellbar, dass Kraus hier aus seinen Pantoffeln kippte, denn, wie bald erkennbar, hielt er den Vergleich zwischen Strindberg und Dehmel für einfach nur aberwitzig. Für ihn war „Kurzsichtigkeit, die einen Zwicker trägt“, am Werke. „Es ist die Stellung des Idioten (Privatmanns) zum Staat.“ Kurze böse Formel. Beliebt macht das nicht.

An Tagen, wo das Schreckgespenst einer Expertenregierung im alten Kulturland Thüringen an die Wand gemalt wird, was nichts anderes bedeutet als: Amateurregierungen sind uns lieber, wir haben uns an sie so sehr gewöhnt, in diesen Tagen sollte die Kultur der bösen Formeln neu entdeckt werden. Kraus nahm Anstoß, weil die Meldung (aus der Frankfurter Zeitung übrigens) Dehmel „den größten Lyriker des heutigen Deutschland“ nannte. „Vielleicht hat ein Briefträger, der diesen Dichter nicht persönlich kennt, auch mehr literarisches Urteil als ein Schmock, der ihn für den größten deutschen Lyriker hält.“ Und „für meine Person muss ich gestehen, dass ich zufrieden wäre, wenn mir die Wiener Post auch den größeren Teil der richtig adressierten Briefe nicht zustellte“. Richtig böse war Kraus dem Dichter Dehmel, neben anderen Dichtern, vor allem Gerhart Hauptmann, weil sie den Krieg nicht nur einfach bejahten. „Zu einer fremden und vorhandenen Begeisterung Reime und noch dazu schlechte zu suchen, gegen eine Rotte eine Flotte zu stellen und von den Horden zu bestätigen, dass sie morden, ist wohl die dürftigste Leistung, die die Gesellschaft in drangvoller Zeit von ihren Geistern erwarten konnte.“ Die Reime sind nachlesbar.

Selbst der Insel-Verlag, der Richard Dehmels „Kriegs-Brevier“ nach der ersten Auflage 1917, immerhin 10.000 Exemplare, 1919 noch in zweiter Auflage mit weiteren 5000 Exemplaren nachdruckte, ersetzte dieses Insel-Buch Nummer 229 1925 durch Albrecht Schaeffers „Der Reiter mit dem Mandelbaum“. Und 1951 gab es einen erneuten Tausch, die Nummer 229 enthielt nun je eine Erzählung von Alexej Nowikow-Priboi und Alexander Kuprin unter dem gemeinsamen Titel „Aufopferung“. Den Makel, sich im Alter von 51 Jahren freiwillig und begeistert in einen Krieg gemeldet zu haben, dem er zwei Jahre später nur noch ablehnend gegenüber stehen konnte, ist er nie losgeworden, hatte freilich auch nicht sehr viel Zeit dazu. Am 8. Februar 1920 starb er an den Folgen einer Venenentzündung aus dem Krieg, die nie richtig ausgeheilt worden war. Im Sommer 1916 schrieb er: „Es ist die bitterste Selbstüberwindung, für eine Sache weiterkämpfen zu müssen, deren menschlichen Unwert man zu spät erkannt hat, gemeinsame Sache mit Leuten zu machen, mit denen man eigentlich nichts gemein hat als den Steuerzettel und das Sprachwörterbuch.“ Nicht lange vorher dichtete er noch: „Sei gesegnet, ernste Stunde, / die uns endlich stählern eint“.

Ganz so weit wie Gerhart Hauptmann, der öffentlich die Frage aufgeworfen hatte, ob man im Krieg gegen Endland noch Shakespeare in den Theatern spielen dürfe, ist Dehmel dann doch nie gegangen. Und genau deshalb haben selbst die, die ihn mochten, die ihn teilweise mehr als den Menschen Dehmel mochten, weniger als den Dichter, nichts beschönigt. Zwei Tage nach Dehmels Tod ließ Alfred Kerr im Berliner Tageblatt seinen Nachruf drucken: „Lange hing sein Leben an einem Haar. Vielmehr an einem Tropfen geronnenen Blutes. Setzte dieser Tropfen sich in Bewegung und ging ins Hirn oder ins Herz: so stand eines Menschen Atem still, für immer.“ So weit der medizinische Tatbestand einer Phlebitis, genauer: einer Thrombophlebitis. „Was ist seine Kunst gewesen?“, fragte Kerr, „Ein Bund zwischen Symbolismus und Naturalismus? In gewissem Grade zweifellos. Auch für Verhaeren stimmt es ungefähr. Sie beiden wollten möglichst symphonisch das Träumeland mit dem Wirklichkeitsland von heut verschmelzen.“ Wie das gemeint sein könnte, wäre gut nachlesbar in dem Buch „Emile Verhaeren“ von Stefan Zweig, das mehrere Schriften vereint und zu den „Gesammelten Werken in Einzelbänden“ gehört, die der S. Fischer Verlag herausgab. „In Deutschlands Lyrik ist er, sozusagen, mehr ein Markstein als ein Labsal.“

Solche Sätze sind Kerr-Sätze, wie diese auch: „Dehmel war ein Barde mehr als ein Lyriker. Ein Kunstschaffer mehr als ein Vogel. Dehmel ist mehr ein Poetenstandbild als ein von der Menschheit geliebter Poet.“ Und: „Man fühlt: er hat alles erarbeitet, statt dass es ihm geschenkt ward.“ Peter Ludwig, Herausgeber der DDR-Dehmel-Sammlung „Alle Ufer fliehn“, beschrieb in seiner fünfseitigen Nachbemerkung den Stand der Dinge für Dehmels Werk so: „Von den Zeitgenossen gefeiert, ist es heute der literarischen Öffentlichkeit kaum noch präsent. Es ist das Schicksal der Wegbereiter einer neuen literarischen Strömung, dass die Wirkung ihrer Nachfahren die ihre überschattet. … Die Zeitgenossen empfanden Richard Dehmels Dichtung als Verheißung, da aus ihr ein neues Lebensgefühl sprach. Leitmotiv war Friedrich Nietzsches „heiliges Jasagen“.“ Worüber man heute so hinliest, war 1987, als das Buch im Verlag der Nation erschien, noch ein ziemlich subversiver Akt: Heiliges Jasagen? Von Friedrich Nietzsche? Bis zur Schopenhauer-Ausgabe für sortierte Privilegienträger hatte es die DDR noch eben so gebracht, aber Nietzsche als Motivgeber? „An dem Zwiespalt zwischen Nationalismus und dem Wissen darum, dass Krieg Massenmord ist, zerbrach er allmählich.“ Die glücklichsten Jahre Dehmels, so Ludewig, waren die in Hamburg.

In Hamburg vor dem Weltkrieg. An ihn wandten sich Jüngere, Ernst Wilhelm Lotz, Reinhard Goering und Gerrit Engelke zählt Ludewig auf. Einer, den er nicht nennt, ist Hermann Hesse. In seinem Vorwort zum ersten Band der neuen, die alte vierbändige ablösenden Briefausgabe des Suhrkamp Verlags schreibt Volkes Michels: „Auch Hesse mag das gehofft haben, als er kaum 20-jährig, dem damals von ihm verehrten Lyriker Richard Dehmel (dem Entdecker Thomas Manns) oder einem Schrittmacher der Jugendbewegung wie Fidus bewundernde Briefe schrieb“. Briefe steht hier deutlich im Plural, dennoch ist von ihnen in diesem Band nur ein einziger aufgenommen, verfasst in Tübingen im Januar 1897. „Darf ich Ihnen, ohne mich breit zu entschuldigen, aus dem schwarzen Tübingen einen herzlichen, dankbaren Gruß in Ihre Dichterklause senden?“ Und weiter: „Ich glaube nicht, dass Sie den Weihrauch lieben, aber es freut Sie vielleicht ein wenig, aus dem schwäbischen Süden, dessen Literatur im Bann des greisen Stuttgart zu stehen scheint, einen Gruß fröhlicher Liebe zu hören.“ Hesse möchte gern wertende Worte von Dehmel für eigene Verse.

Kein Jahr später aber ist schon Distanz zu vernehmen, wenn Hesse an Helene Voigt-Diederichs schreibt: „Traurig und lächerlich erscheint mir die laienhafte, energielose Nietzscheschwärmerei unserer jungen Literatur. Wie wenig verstehen sie ihn, wie dunkel und erbärmlich sind sie neben ihm, und wie verzweifelt wenig kommt bei dem ewigen Anbeten und Zitieren heraus. Die dunklen, fiebernden Verse Dehmels sind noch das Lebendigste.“ Die alte Briefausgabe enthält in ihrem ersten Band (1895 – 1921) einen sehr viel späteren Brief an Dehmel, es geht offenbar um die neueste Literatur, die vom Expressionismus und ihren Exponenten geprägt ist: „Ich finde die Worte schwer, bin seit zwei Jahren ganz aus dem Literarischen heraus. Aber meine Liebe zu Ihnen verträgt sich mit der zu manchen Jüngsten vortrefflich. Ich selber denke mich nirgends anzupassen. Sondern immer die Sprache zu sprechen, die mir natürlich ist.“ Auch Hesse hat also über Dehmel nicht den Stab gebrochen, obwohl er zu den wenigen gehörte, die von Beginn an gegen den Krieg waren und dies auch öffentlich bekannte. Für Stanislaw Przybyszewski (7. Mai 1868 – 23. November 1927) verband sich zuerst Musik mit dem Namen Dehmels, der ihn ans Klavier rief zu spielen:

„Chopins Musik knüpfte zwischen uns die starken, unzertrennlichen Bande einer innigen, treuen Freundschaft, die uns fortan bis zu seinem Tod verbinden sollte … Eine solche Freundschaft wird geboren wie die Liebe – im Aufblitzen einer einzigen Sekunde.“ Przybyszewskis Erinnerungen, 1985 im Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig und Weimar erschienen, später auch als Band 7 der achtbändigen Werkausgabe des Igel-Verlages, sind nicht nur als Dokument eine unbedingt empfehlenswerte Lektüre, sie lesen sich auch mehr als angenehm. Allein die zahlreichen Seiten, die Richard Dehmel gewidmet sind, vertrügen gut und gern eine eigene Würdigung. Ich zitiere stattdessen lieber, was er über Paula Dehmel, seine erste Frau, schrieb: „Sie war Dehmel lange Zeit, nicht nur in der ersten Phase der Liebe, Geliebte, Frau und Vertraute, und später, ach - wozu sich eine Frau selten oder fast nie aufschwingen kann -, die herzlichste und zärtlichste Freundin, ihm, der sie um einer anderer willen verlassen hatte. Verlassen? Lachhaft! Ich bin überzeugt, dass er noch stärker an ihr hing, während die andere meinte, nun besäße sie die Seele des Erwählten!“ Paula Dehmel (31. Oktober 1862 – 9. Juli 1918) war selbst eine achtbare Dichterin, für Kinder vor allem.


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