Sophie Mereau 250
Schön wäre es, in Ermangelung eines Anfangs ohne Anfang anfangen zu können. Dieser Anfang wäre dann immerhin ein Kandidat für das Buch der ersten Sätze. Den denkbaren lokalpatriotischen Einstieg lassen wir beiseite: Was will es schon heißen, in Altenburg geboren zu sein, auch Skatkarten kommen von da. Die Eltern wären zu vermerken, deren zweites Kind diese Sophie Friederika wurde: Gotthelf Heinrich Schubart und Johanne Sophie Friederike Schubart, geborene Gabler, verwitwete Pierer. Als Sophie 15 ist, stirbt Bruder Carl, als Sophie 16 ist, stirbt die Mutter. Den Vater hat sie noch bis 1791. Kaum ist der auch tot, verlobt sich Sophie mit Karl Mereau, dessen Namen sie auch dann noch als Schriftstellerin tragen wird, als sie längst geschieden, als sie mit Clemens Brentano in zweiter Ehe verheiratet ist. Auch die Verlobung war nicht ihre erste: es gab da schon vorher einen gewissen David Georg Kurtzwig aus Livland, der 1788 in Jena promovierte. Ende 1791 ließ Friedrich Schiller in seiner „Thalia“ das Gedicht „Bei Frankreichs Feier. Den 14. Junius 1790“ erscheinen, Sophies erste, noch anonyme Veröffentlichung. Der Jahrestag des Sturms auf die Bastille (14. Juli, nicht Juni) hat auch in „Das Blüthenalter der Empfindung“, ihrem ersten Roman, einen nicht unwichtigen Platz. Trotzdem fehlt Sophie Mereau auffallend in der großen Leipziger Reclam-Anthologie „Die Französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur“.
Was die Gelegenheit böte, ein großes Fehlstellen-Register zu beginnen: wer hat wann wo nicht an Sophie Mereau gedacht oder hat sie nur beiläufig erwähnt, schäbig oder arrogant, pflichtvergessen oder einfach nur, weil ihm sorgfältiges Arbeiten an einem Thema nicht an der Wiege gesungen wurde. Weil Schillers Name schon fiel, nur ein Bruchstück des möglichen Registers: Reinhard Buchwald, großer Name der Schiller-Philologie, kennt Sophies Namen in seiner Biographie von fast 900 Seiten nicht. Melitta Gerhard, immerhin erste habilitierte Germanistin Deutschlands, 1891 in Berlin geboren, kennt in ihrem nicht sehr viel schlankeren Schillerbuch Sophies Namen nicht. Eine Schuldzuweisung an Männer ist damit bereits hinfällig, ehe sie noch angedacht werden kann. Wobei natürlich der Herausgeber des Schiller-Handbuchs, Matthias Luserke-Jaqui, schon ein Mann ist und Sophie auch ausgeklammert hat. In dieser Hinsicht ist ihm das andere Schiller-Handbuch, von Helmut Koopmann herausgegeben. Sophie Mereau kommt dort im Umfeld der „Horen“ sogar zweifach vor. Dorthin gehört sie, mit Verlaub, auf jeden Fall. Und natürlich auch, weil es eine Reihe Briefe Schillers an sie gibt, Briefe von ihr an ihn ebenfalls. Rüdiger Safranski hat den Namen Sophie Mereau je einmal in seiner Schiller-, wie in seiner Goethe-Biographie. Wer sich kundig machen will, braucht also zwingend Katharina von Hammerstein und Dagmar von Gersdorff.
Beide waren als Herausgeberinnen aktiv, erstere sorgte vor allem für preiswerte Ausgaben im Deutschen Taschenbuch Verlag München, letztere betreute eine neue zweibändige Edition des Briefwechsels von Sophie Mereau und Clemens Brentano und schrieb eine Biographie. Von der wiederum erstere meinte, es handle sich um eine „umfangreiche, aber nicht immer zuverlässig dokumentierte Biographie“. Katharina von Hammerstein stattete ihre Mereau-Editionen mit Vor- und Nachworten aus, die erst alle zusammen ihr Mereau-Bild ergeben, hinzu kommt außerdem ihre Monographie „Sophie Mereau-Brentano: Freiheit Liebe Weiblichkeit; Trikolore sozialer und individueller Selbstbestimmung um 1800“ (Heidelberg 1994). Trotz durchaus nennenswerten Bestandes an Sekundärliteratur fallen dem neugierigeren Interessenten schon früh zwei Dinge auf: es gibt keine Klarheit über den Tag ihrer Geburt: genannt werden der 27. März 1770 und der 28. März 1770, auch wahlweise beide Tage. Ihren Tod umgibt zwar keine Geheimnis, Sophie Mereau erlitt das Schicksal so vieler Frauen ihrer und noch späteren Zeiten: sie starb bei der Geburt eines Kindes. Dann aber beginnt sofort volle Verwirrung: ich las in kurzer Zeit, also ausdrücklich gesagt, ohne Ehrgeiz, revolutionierende Forschungsergebnisse auf den Tisch welchen Hauses auch immer zu legen, Aussagen, es sei das dritte, das vierte, das fünfte, das sechste Kind gewesen. Wie das?
Stimmen kann nur eine dieser Behauptungen: es ist die mit der größten Zahl. Sophie hatte zwei Kinder aus erster Ehe, Gustav und Hulda, nur die Tochter überlebte. Sophie hatte in der kurzen Zeit ihrer dramatisch zu nennenden Ehe mit dem acht Jahre jüngeren Clemens Brentano vier Geburten zu verkraften. Sohn Achim Ariel Tyll stirbt wenige Wochen nach der Geburt, Tochter Joachime Elisabetha Claudia Caroline Johanna stirbt fast auf den Tag ein Jahr später wenige Wochen nach der Geburt. Ein halbes Jahr später, noch 1805, erleidet Sophie eine Fehlgeburt, die eingerechnet die Geburt eines toten Kindes am 31. Oktober 1806 tatsächlich die sechste ist. Ich las auch, Mutter und Kind seien nach der Geburt verblutet. Wie es auch war, schlimm bleibt es. Frauen begingen, für jene Zeit darf man das sagen, Selbstmord durch Gebären, Männer waren die ewig schwängernden fahrlässigen Mörder ihrer Frauen. Niemand redet bis heute von der endlosen Not der Mütter, die Kind auf Kind verloren, die grässliche Normalität dessen lässt selbst Fragen ungestellt, wie ein Goethe den Tod etlicher Kinder seiner Christiane so scheinbar ungerührt überstand. Man stellt eher die „Kraft seiner Lenden“ in Frage, die keinen robusten Nachwuchs zu zeugen fähig waren, als sich dem eigentlichen Dauerdrama auszusetzen. Sophie Mereau war eine in einer langen Reihe, es gab Frauen wie Maximiliane Brentano, die ein Jahr älter wurde, und nach ihrem zwölften Kind starb.
Sophie Mereau hat drei Romane hinterlassen, auch wenn meist nur von zweien die Rede ist: „Das Blüthenalter der Empfindung“ (1794), „Amanda und Eduard“ (1803), „Sapho und Phaon“ (1806) Nur Klaus Günzel hat, soweit ich sehe, den dritten Roman im Mereau-Artikel für sein immer noch informatives Buch „Die deutschen Romantiker. Ein Personenlexikon“ sogar mit dem kompletten Titel erwähnt: „Sappho und Phaon oder Der Sturz von Leukares“. Günzel erzählt auch: „Am Abend vor ihrem Tod unternahm die wiederum hochschwangere Frau zusammen mit Clemens einen Spaziergang auf den Heidelberger Schlossberg, wo eben alte Linden gefällt wurde.“ Diesen Linden sollen die letzten Gedichtzeilen gegolten haben, die Sophie Mereau hinterließ, unvollendet. Wie man mit hochschwangeren, nach einer Fehlgeburt geschwächten jungen Frauen umgeht, gehörte keinesfalls zu den Kernkompetenzen des Clemens Brentano. Norbert W. Schlinkert hat 2012 wohl eher unbeachtet darauf hingewiesen, dass „Das Blüthenalter der Empfindung“ auch als erster Amerika-Roman der deutschen Literatur anzusehen sei. Mit der Einschränkung, „die Leser und Leserinnen hätten sicher gerne erfahren, wie es den Liebenden ergangen ist im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, angesichts neuer Herausforderungen, die mit Verstand und Gefühl zu meistern sind“. Zu vermuten ist, dass Mereaus Wissen und Phantasie dafür nicht ausreichten.
Was man einer 24 Jahre alten jungen Frau kaum vorzuwerfen hätte. Wovon sie erzählen wollte, hat sie in einem kurzen Vorwort verraten, das „nennen wir den Frühling unsers Lebens, und selbst der weisere Mensch schaut oft, wenn sie verschwunden, mit dem Blikke der Sehnsucht auf sie zurük.“ Und es stehen Sätze darin, die man in jedes Zitatenlexikon unbesehen aufnehmen könnte: „Die treffendste wahrste Schilderung der Liebe ist, dass sie nicht geschildert werden kann.“ Oder, noch schöner: „Die Liebe der Philosophen ist so blind, wie die Liebe der Dichter“. Als hätte sie gleich beide Ehemänner in einem Satz erledigen wollen. Der zweite Roman ist ein Brief-Roman, wie es ihn schon vor ihr und noch nach ihr immer wieder gab. Was seine Besonderheiten sind, lässt sich bei Barbara Becker-Cantarino gut nachlesen in ihrem Buch „Schriftstellerinnen der Romantik“, sie behandelt den Kontext der Briefkultur der Romantik ausführlich und befasst sich auch mit der Weise, wie Sophie Mereau tatsächliche Briefe ihres Briefwechsels mit Johann Heinrich Kipp in Literatur verwandelte. Für Leser des Romans ist es letztlich von geringer Bedeutung, in welchem Umfang der eine oder andere Brief mit einem wirklichen Brief aus dem Leben der Autorin identisch ist. Die ersten der Briefe jedenfalls druckte Schiller in seinen „Horen“. Liest man seine Briefe an sie, hatte er es sehr eilig, an die Skripte zu kommen, bot sogar seinen eigenen Abschreiber als Hilfe.
Katharina von Hammerstein schreibt über die Rolle Schillers: „Ihm gebührt zweifellos der Rang eines literarischen Ziehvaters, doch trat neben die Förderung ihres Talents auch die sanfte Zügelung von allzu eigenständigen Entwicklungen.“ Das betraf insbesondere die Pläne Mereaus, eine eigene Zeitschrift zu gründen und zu führen, hier wäre sie, obwohl Schiller diese Seite der Sache mit keiner Silbe erwähnt, zur Konkurrentin auf dem Zeitschriftenmarkt geworden. Im Zusammenhang der „Horen“ lässt sich nachlesen, dass 1300 verkaufte Exemplare nötig waren, um den Verleger eine, wie man heute sagt, schwarze Null schreiben zu lassen, den „Horen“ fehlten so in der Endphase, ehe Schiller sie sterben ließ, rund 300 Exemplare. Umgekehrt, auch das wird nur sehr verbrämt behandelt, wenn das Ende der „Horen“ thematisiert hat, waren Frauen wie Sophie Mereau, Amalie von Imhof, Friederike Brun, Elise von der Recke und Louise Brachmann eben nicht nur Lückenbüßer, die Hefte zu füllen, sie hatten auch die Aufgabe, weibliche Leserschaft zu gewinnen und zu halten. Es ist hier nicht der Ort zu entscheiden, ob wirklich namhafte Männer nicht an die „Horen“ lieferten, weil Schiller von all diesen Frauen nahm oder ob nicht umgekehrt Schiller gar nicht anders konnte und wollte, weil eben die Männer sich in vornehmer Arroganz oder auch nur schlichter Wortbrüchigkeit zurückhielten. Auch Caroline von Wolzogen gehört zur Damen-Gruppe.
Dass Schiller sich gegenüber Goethe bezüglich Sophie Mereau noch etwas anders äußerte als ihr selbst gegenüber, sei nicht verschwiegen. Am 17. August 1797 hieß es: „Unsere Freundin Mereau hat in der Tat eine gewisse Innigkeit und zuweilen selbst eine Würde des Empfindens, und eine gewisse Tiefe kann ich ihr auch nicht absprechen. Sie hat sich bloß in einer einsamen Existenz und in einem Widerspruch mit der gebildet. Hingegen Amelie Imhoff ist zur Poesie nicht durch das Herz, sondern nur durch die Phantasie gekommen und wird auch ihr Leben lang nur damit spielen.“ Goethe selbst hatte ein Jahr vorher, am 13. August 1796, an Schiller geschrieben: „Sophie Mereau hat sich recht gut gehalten. Der Imperativ nimmt sich recht lustig aus. Man sieht recht bey diesem Falle wie die Poesie einen falschen Gedanken wahr machen kann, weil der Appell ans Gefühl sie gut kleidet.“ Sehr viel später, 1827, in einem nicht exakt zu datierenden Gespräch, bei dem Karl von Holtei auch zugegegen war, plauderte er. „Man hatte die Schriftstellerin Sophie Mereau, nachherige Brentano, genannt. Goethe lobte sie sehr bedingt und gedachte sogleich ihres Gatten. „Ja“, sagte er spöttisch lächelnd, „der Brentano, das war auch so einer, der gern für einen ganzen Kerl gegolten hätte. Er stieg vor Sophiens Wohnung am Weinspalier bis an's Fenster hinauf bei nächtlicher Weile, um die Leute glauben zu machen, es wäre viel dahinter. Aber es war und wurde nichts.“ So weit.
„Allen den jetzt überschickten Gedichten haben Sie einen Geist der Melancholie aufgedrückt. Nun wünsche ich auch einige zu lesen, die eine fröliche Stimmung und einen Geist der Lustigkeit athmen.“ Erbat sich Schiller am 18. Juni 1795, Mitte Juli bedankte er sich für offenbar verbesserte Fassungen: „Klarheit, Leichtigkeit und (was bey Produkten der weiblichen Muse ein so seltenes Verdienst ist) Correctheit zeichnen solche sehr vorzüglich aus, und ich darf Ihnen ohne Schmeicheley im Voraus versichern, daß sie in dem Almanach hervorstechen werden.“ Im Juni 1796 lobte Schiller neue Gedichte, behielt sich aber vor, wie zuletzt Abkürzungen und kleine Veränderungen vorzunehmen, aber: „Gegen die Erzählungen in Prosa habe ich erhebliche Einwendungen, und ich wollte Ihnen nicht dazu rathen, vor der Hand einen Gebrauch davon zu machen. Lassen Sie das Manuscript noch einige Monate liegen“. Zu den ersten Briefen, die in den „Horen“ erscheinen und für die endgültige Buchfassung noch einmal revidiert wurden, schrieb Schiller am 4. Juli 1797: „Diese Briefe sind mit einer sehr angenehmen Leichtigkeit und schönen Simplicität geschrieben, es ist sichtbar, wie sehr Sie Ihres Stoffes mächtig geworden …“. Gleich im ersten Brief Amandas an ihre Freundin Julie, die anderen Briefe schreibt Eduard an seinen Freund Barton, findet man deutlich mehr als Leichtigkeit und Simplizität, man findet auch kluge Gedanken.
Diesen etwa: „… das Auge gewöhnt sich bald an die Reize einer prächtigen Umgebung, und Bewunderung ermüdet leicht“. Und Eduard im zweiten Brief: „… das Lebendige, Wahre in mir, könnte zu einer künstlichen, nachgeahmten Tugend herabsinken, die immer unfruchtbar bleibt, so vortrefflich auch ihr Vorbild sein mag.“ Annig Held, von der ich nur diesen einen Text kenne und nicht weiß, wer sie ist, nicht mehr als das, was meine Suchmaschine mir anbietet jedenfalls, hat für „Reclams Literatur-Kalender 2020“ über Sophie Mereau geschrieben. Auch sie nennt nur zwei der drei Romane, auch sie nennt nur ein einziges Gedicht („Erinnerung und Phantasie“, 1796). Sie beginnt: „Geschieden, alleinerziehend, berufstätig. Mögen diese drei Merkmale Sophie Mereaus in heutigen Ohren wenig sensationell klingen, lösen sie Ende des 18. Jahrhunderts noch einen Tinnitus der Empörung aus.“ So schreibt man ein historisches Skandalon herbei, das es de facto gar nicht gab. Die Scheidung kam erst 1801, die neue Ehe nicht sehr viel später, zu erziehen war ein einziges Kind und das unter Bedingungen eines durchaus ansehnlichen Einkommens aus eigener Tätigkeit. Sophie Mereau aus der Vergessenheit zu retten, könnte allenfalls gelingen, wenn eine fortwirkende Qualität ihrer Gedichte, Romane, Erzählungen glaubhaft gezeigt wird. Als frühe Beiträgerin zur Geschichte der Emanzipation der Frau allein wäre sie historische Figur, mehr nicht, weniger nicht.