Leonardo Sciascia 100
Am 6. Juni 2015 stellte „Die literarische Welt“ (Nr. 23 des Jahres) zwei fast komplette Seiten für eine Erzählung zur Verfügung, was recht selten vorkommt, aber auch nicht völlig ungewöhnlich ist. Es war die mit riesigen Buchstaben betitelte Erzählung „Die weite Reise“ von Leonardo Sciascia. Der Italiener war seit mehr als 25 Jahren tot, gestorben am 20. November 1989. Auch keinerlei runder Geburtstag stand für ihn an (anders als heute, da sein 100. Geburtstag zu feiern ist). 2015 aber, wer erinnert sich nicht, war das Jahr der Bilder von Flüchtlingen, die damals sogar noch so genannt wurden. Inkonsequenterweise verwandelten sich später nur Flüchtlinge in Flüchtende, während Säuglinge solche blieben und nicht zu Säugenden befördert wurden. Am Ende des neuen Nachdrucks war zu lesen, dass Sciascia zu den wichtigsten italienischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts zähle. „Die weite Reise“, im italienischen Original „Il lungo Viaggio“, sei erstmals in dem Band „Sizilianische Erzählungen“ von 1966, dann 1973 abermals in „Das weinfarbene Meer“ erschienen. Als Taschenbuch könne man es beim Verlag Klaus Wagenbach bekommen in einer Übersetzung von Sigrid Vagt. Was „Die Literarische Welt“ nicht eigens vermerkte: Auch DDR-Bürger, an die 2015 freilich niemand mehr als solche gern dachte, durften „Die weite Reise“ bereits 1975 lesen, genau genommen sogar schon 1964, also zwei Jahre vor ihren Brüdern und Schwestern.
Denn 1964 brachte der Aufbau-Verlag Berlin und Weimar eine Sammlung mit italienischen Erzählungen des 20. Jahrhunderts heraus, Titel „Eine seltsame Liebe“, immerhin 417 Seiten stark, darin auch die Sciascia-Erzählung „Die lange Reise“, natürlich in einer anderen Übersetzung als die, auf die viel später Klaus Wagenbach zurückgriff. Als Laie des Italienischen neige ich zur Ansicht, dass lungo eher lang als weit heißt, denn ein Lungo ist dann doch eher ein „langer“ als ein „weiter“ Kaffee, aber das ist Laienansicht. In „Die lange Reise“ wird von Menschen erzählt, die von Sizilien weg nach Amerika wollen, wo Verwandte leben, denen es vermeintlich, vielleicht auch tatsächlich, sehr viel besser geht. „Der Traum von Amerika – das waren Dollars im Überfluss: keineswegs mehr so, dass man das Geld in der abgenutzten Brieftasche oder unter dem Hemd aufbewahrte, man steckte es nachlässig in die Hosentaschen und holte ganze Hände voll davon heraus“. Eine Gruppe Menschen will die Dienste eines Mannes in Anspruch nehmen, der sich Signor Melfa nennen lässt, sicher ein falscher Name, der Auswanderungswilligen, die zu ihren reichen Verwandten nach Amerika wollen, gegen Zahlung von 250.000 Lire die illegale Überfahrt ermöglicht. Die Hälfte wird vorher fällig, der Hälfte nach Ankunft. Elf Tage sind sie unterwegs von Sizilien nach Sizilien, denn sie sind einem Betrüger aufgesessen, der nur ihr Geld wollte.
„Zuerst glaubten sie, es seien ungezählte Sternbilder zum Meer hinabgestiegen, wie Herden, doch es waren Städte, die Städte des reichen Amerika, die wie Juwelen in der Nacht funkelten.“ Fünfzig Jahre und mehr vor all den Geschichten von organisierten Schleppern, die sich die Schleusung von fluchtwilligen, illegal ausreisewilligen Menschen zum Geschäftsmodell gemacht haben, vor Balkanrouten und Nordafrika-Linien, so stellte sich „Die lange Reise“ dar, die von Sizilien nach Sizilien eben keine „weite“ Reise war, hat Leonardo Sciascia bereits die Struktur und den Ablauf des Verfahrens erzählt. An einer Stelle bekam er plötzlich Aktualität, die mit dem sonstigen Ruhm seines Namens, soweit er nicht längst völlig verblasst war, nicht sehr viel zu tun hatte. Die Mafia spielt in der kurzen Erzählung keine Rolle, es sei denn, Signor Melfa gehörte ihr an, wovon im Text aber nicht die Rede ist. In seiner fast 1000 Seiten umfassenden „Geschichte der italienischen Literatur“ hat Manfred Hardt (22. September 1936 – 3. Juli 2001) versucht, das Gesamtwerk des Italieners auf eine dreizeilige Formel zu bringen: „Die Botschaft, die alle seine Werke letztendlich verkünden, lautet auf eine kurze Formel gebracht, dass Vernunft, Gerechtigkeit und Freiheit die unverzichtbaren Grundlagen einer demokratischer Gesellschaft sind.“ Schreiben die Schriftsteller dieser Welt, die Dichter, tatsächlich zum Teil riesige Werke um solch trivialer Botschaften willen?
Würde irgendjemand einen Roman von Leonardo Sciascia lesen, wenn er vorher wüsste, das solle ihm eingetrichtert werden? Manfred Hardt hat auf den wenigen Seiten über Leonardo Sciascia derart oft vom Denunzieren geschrieben, das man meinen könnte, die kürzeste Formel für den beschriebenen Autor würde eher lauten: Sciascia war ein Denunziant. Im Altbundesgebiet war es nicht wenige Jahre lang üblich, darüber zu fabulieren, dieser oder jene „denunzierten“ diese oder jene Verhältnisse, als wären Verhältnisse etwas, die etwas heimlich tun, denen man folglich bei den zuständigen Organen Licht am Fahrrad zu machen hätte: der Lauscher an der Wand hört seine eigne Schand‘, war das nicht auch so? Schriftsteller sind natürlich keine Denunzianten, obwohl es unter ihnen nicht wenige gab, die dennoch solche waren. Insbesondere in Wendezeiten, von denen das 20. Jahrhundert einige produzierte, reckt sich das Denunziantentum plötzlich zu ungeahnter Größe, zu ungeahntem Eifer. Man füllt mit Denunzierten wegen Befreiung leer gewordene KZ, man arbeitet vorsorglich angelegte schwarze Listen ab, die bei Bedarf auch rote Listen sein können, man streut bisweilen in sensibilisierte Öffentlichkeiten nur Verdächtigungen. Manfred Hardt schrieb sogar von Leonardo Sciascias „schwierigen inquisitorischen Wegen“, als könne man die Bedeutung von Worten beliebig und vor allem willkürlich ändern: Sciascía war weder Inquisitor noch Denunziant.
Er war aber ein Autor, der als Kommunist im Stadtparlament von Palermo gesessen hatte, sehr kurz freilich nur: es soll ihm nicht gefallen haben, so wenig ausrichten zu können. Als Radikaler, nicht Kommunist mehr, saß er später im Europaparlament, eine vorzeitige Ausstiegsgeschichte ist von dort nicht überliefert. Dafür aber war er Gegenstand einer außerordentlichen Kuriosität in der Geschichte der neueren deutschen Literaturkritik. Eine mit dem Kürzel Sr. gezeichnete sehr knappe Kritik des Buches „Mein Sizilien“ (Klaus Wagenbach, Berlin 1995) endete mit dem Satz „Der Wagenbach-Verlag, der sonst gerade bei italienischen Autoren eine gute Hand hat, hat hier wohl danebengegriffen.“ Das war am 7. Dezember 1995 in der FAZ zu lesen. Reichlich fünf Monate später, am 17. Mai 1996, druckte die FAZ eine zweite Kritik zu „Mein Sizilien“, diesmal deutlich ausführlicher, diesmal gezeichnet mit einem kompletten Namen: Ute Stempel. Dort heißt es zum Ende: „Dafür hat nicht zuletzt Klaus Wagenbach gesorgt durch wohl überlegte Auswahl aus Sciascias Sizilien-Artikeln, die er mit stimmigen Bildern bereichert hat. Wer die Lebenswirklichkeit Siziliens kennenlernen will, kommt ohne diesen Band nicht mehr aus.“ War das eine getarnte Gegendarstellung? In Racalmuto, wo Sciascia heute vor 100 Jahren geboren wurde, steht mitten auf einem Bürgersteig seine Statue: ein gehender Mann. 2004 wurde ein Asteroid nach ihm benannt.
Der Benziger Verlag Zürich und Köln erfreute Leser mit drei sizilianischen Romanen von Sciascia in einem Band: „Der Tag der Eule“ (das konnten DDR-Leser 1987 als Roman-Zeitung 450 lesen), „Tote auf Bestellung“ und „Tote Richter reden nicht“. Das war 1985. Der Roman mit dem Titel „Tote Richter reden nicht“, hieß im Original „Il contesto. Una parodia“, woraus andere Verlage wie etwa Aufbau oder Zsolnay nicht ohne Sinn „Der Zusammenhang“ machten, Zsolnay auch in einer Dreier-Kombination von Romanen, Aufbau als separates Taschenbuch 2001. Eine von Joachim Meinert bei Volk und Welt 1975 herausgegebene zweibändige Anthologie mit dem Titel „Italienische Erzähler aus sechs Jahrzehnten“ endet mit Leonardo Sciascias Geschichte „Das weinfarbene Meer“. Und genau diese Geschichte liefert auch den Titel für ein schmales Bändchen mit elf Erzählungen des Sizilianers im gleichen Verlag und ebenfalls 1975. Ein Ingenieur reist dort von Rom nach Sizilien, wo er vorher noch nie war. Im Abteil ist er mit einer vierköpfigen Familie und einem jungen Mädchen zusammen. Als der Familienvater auf eine Frage nach der Mafia nur schweigt, sagt sich der Ingenieur: „Hier ist ein gebildeter, liebenswürdiger Mensch, ein guter Familienvater, aber über die Mafia will er nicht sprechen …Allmählich begreife ich, was die Mafia ist.“ In Sciascias Kriminalromanen, so die Kritik mehrfach, bleiben Fälle auffallend oft ungeklärt.
Manfred Hardt hat natürlich nicht nur nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner aller Bücher von Sciascia gesucht, er hat auch beobachtet, dass viele von ihnen sich an der Grenze von Literatur, Essay und Recherche bewegen. Es fällt schwer, einem solchen Satz gelassen zu folgen: weil der Essay natürlich genuin zur Literatur zählt, weil Recherche natürlich da wie dort nötig ist, nicht aber für sich selbständig gegen Literatur und Essay stünde. Wurde man in den siebziger Jahren im Südwesten Deutschlands Professor bei so gravierenden begrifflichen Unschärfen? „Die Erzählungen behandeln aus tiefer Kenntnis Siziliens und der Sizilianer die eigentümliche Mentalität der Inselbewohner gegenüber Institutionen oder Ereignissen aus Politik und Zeitgeschehen.“ Ersetzt man die Worte Sizilien und Sizilianer durch andere, etwa probehalber durch Großbritannien und die Briten, hätte man noch eine Insel und würde staunen, wie sehr sich Briten und Sizilianer in einer Hinsicht gleichen: als Insulaner. Nur über Leonardo Sciascia hätte man dann wohl doch nicht sehr viel vernommen. Ab einer gewissen Allgemeinheit verwandeln sich Aussagen in Leerformeln. „Im Unterschied etwa zu Moravia hat er nie durch gefällige Modethemen im Trend der Zeit die Aufmerksamkeit der Medien und des breiten Publikums gesucht.“ Spätere Mafia- und Sizilien-Experten waren da weniger wählerisch. Spricht es für Sciascia, wie Hardt meint? Nachlesen hilft.