Franz Blei 150
„Ein Universum mit schlichtem Namen“ stand am 12. Juni 1987 über einem kleinen, einspaltigen Artikel, den die Tageszeitung „Junge Welt“ einem mehr als 600 Seiten starken Buch widmete, das der Verlag Volk und Welt Berlin in seiner Reihe „Österreichische Bibliothek“ herausgebracht hatte. „Porträts“ hieß der Band tatsächlich höchst schlicht, herausgegeben von Anne Gabrisch, Verfasser Franz Blei. Die „Österreichische Bibliothek“ war ein Gemeinschaftsunternehmen von Volk und Welt Berlin mit dem Wiener Verlag Böhlau, zu spät begonnen, um wirklich eine Bibliothek zu werden, denn als sich die DDR aus der Weltgeschichte implodierend verabschiedete, fiel auch der Bedarf nach dergleichen Verlagsprojekten in sich zusammen. Nun konnte man als ehemaliger DDR-Leser an alle Originale kommen, musste nicht mehr auf Lizenzausgaben warten, verstümmelte Sammelbände sammeln, um neben sechs bereits bekannten auch noch drei bisher fehlende Texte zu besitzen. Unterzeichnet war der Einspalter mit dem Namen Ulrich Steinnagel, dessen Geheimnis seit dem 10. März 2012 keines mehr ist, wie man unter www.eckhard-ullrich.de/meine-ddr/311-als-ich-ulf-steinau-war leicht nachlesen kann. Der Einfachheit halber folgt hier der Originaltext nach dem Typoskript vom Januar 1987, die Druckfassung ist zeitungsüblich gekürzt (Nr. 136, S. 12).
Tatsächlich: es ist derselbe Franz Blei, dem Lenin in seinem philosophischen Hauptwerk „Materialismus und Empiriokritizismus“ immerhin volle fünf Seiten widmete. Vernichtend kanzelt Lenin „diesen unglaublich abgeschmackten Galimathias, diese quasigelehrte Hanswurstiade im Gewande Avenariusscher Terminologie“ ab, die er in dem 13 Jahre alten Aufsatz von Franz Blei „Die Metaphysik in der Nationalökonomie“ gefunden hatte. Wohlweislich hat Anne Gabrisch, die Herausgeberin des jetzt erschienenen Bandes mit Texten von Franz Blei, auf diesen Aufsatz verzichtet, wie überhaupt Verzicht das Hauptgeschäft sein musste bei der Entdeckungsfahrt in das unbekannte Universum mit dem schlichten Namen Franz Blei. Hatte doch dieser die Angewohnheit, nicht nur unglaublich viel zu schreiben, sondern dies auch noch zu veröffentlichen und zwar in unterschiedlichen Zusammenstellungen immer mal wieder die gleichen Texte. Da muss man sich erst durchgefressen haben. Herausgestellt hat sich: am interessantesten sind die Porträts. Und die haben wir nun in der „Österreichischen Bibliothek“, dem großen Gemeinschaftsunternehmen von Volk und Welt Berlin und Böhlau Verlag Wien. Und mitten unter den Porträts findet sich auch das legendäre „Bestiarium literaricum“, diese köstliche Ladung von Fehlurteilen und sonstigen Subjektivitäten, die Franz Blei erstmals 1920 der Öffentlichkeit präsentiert hatte.
Im umfänglichen und kenntnisreichen Nachwort hat die Herausgeberin viel Wissenswertes über Franz Blei zusammengetragen: der liebte Erotika und publizierte sie, der grub ununterbrochen Vergessenes aus und entdeckte Talente, der gab eine Zeitschrift nach der anderen heraus. Er war es, der 1908 zuerst etwas von Franz Kafka druckte in seinem „Hyperion“. Außerdem wirkte er als Übersetzer von Oscar Wilde und André Gide, von William Beckford und Paul Claudel. Marcel Schwobs „Das Buch von Monelle“ - zuletzt bei uns als Inselbändchen – hat er auch ins Deutsche übertragen. An den Anfang ihrer Auswahl hat Anne Gabrisch ein Blei-Porträt von Robert Musil gestellt. Das allein schon sollte neugierig machen auf dieses Buch. Zudem hat es den Vorteil, dass man es nicht auf einmal lesen muss. Es ist eins von den Blätter-Büchern, die man nicht mehr missen möchte, wenn man einmal hereingeschaut hat. - Soweit der Text von 1987, der immerhin viereinhalb Monate lag, ehe er im Druck erschien. Der „Sonntag“ ließ seine Leser noch weitere drei Monate warten, die Kritik von Peter Böthig zu Franz Blei erschien erst am 27. September 1987. Franz Blei war nicht nur der erste, der Franz Kafka druckte 1908. Sieben Jahre später, 1915, war er auch derjenige, der den Fontane-Preis an Carl Sternheim vergab, für drei von dessen Erzählungen.
Und dann, so ist überliefert, nötigte er Sternheim, sein Preisgeld für „Busekow“, „Napoleon“ und „Schuhlin“ an einen anderen weiter zu geben, an Franz Kafka. Von dem lesen wir im Tagebuch des Jahres 1911, es geht zunächst vor allem um seinen Freund Max Brod, dies: „Er ist Freund Halbes. Er möchte gern über ihn reden. Wir viel lieber über Blei. Über den ist aber nicht viel zu reden, er wird in der Münchner literarischen Gesellschaft wegen literarischer Schweinereien missachtet, von seiner Frau, die als Zahnärztin ein besuchtes Atelier hatte und ihn erhielt, ist er geschieden, seine Tochter, sechzehn Jahre, blond, mit blauen Augen ist das wildeste Mädel von München.“ Ein Jahr vorher hieß es im Tagebuch knapp: „Kometennacht 17./18. Mai. Mit Blei, seiner Frau und seinem Kind beisammengewesen“. Auf einer Postkarte an Max Brod vom 8. Oktober 1907 taucht der Name Blei erstmals bei Kafka auf. Am 20. Oktober 1915 heißt es in einem Brief an Verleger Kurt Wolff zum Fontane-Preis und dem zugehörigen Betrag: „Sie rieten mir Sternheim zu danken, müsste ich dann aber nicht auch Blei danken? Und welches ist seine Adresse?“ An Felice Bauer schrieb Kafka am 8. September 1916 auf einer Postkarte: „Ich habe dir in Marienbad ein Bild von Blei's gezeigt. Neben ihm steht ein junger Mann in Uniform, das ist Kaus.“ Und lobte dessen Buch „Dostojewski“.
Das Blei-Porträt von Musil, das Anne Gabrisch an den Anfang ihrer Auswahl stellte, stand zuerst am 7. Juni 1918 in „Der Friede“. Er hat sich mehrfach zu Franz Blei geäußert, recht umfangreich noch einmal zu dessen 60. Geburtstag, gedruckt am 17. Januar 1931 in „Der Wiener Tag“, am Vorabend also. Der Teufel habe ihn nicht geholt, den berühmten und berüchtigten Freund, beginnt Musil. Um dann fortzusetzen: „Dafür ist es ihm widerfahren, dass ihn schon bei Lebzeiten die Legende geholt hat. Ernsthafte Steuerzahlen stellen sich unter ihm ein erotisches Bazillen verbreitendes gefährliches Wesen vor, das man von Weib und Kind fernhalten muss, aber nicht kann. Solide Schriftsteller, die ihr bescheidenes, geistiges Kapital zu hohen Zinsen anzulegen wissen, nennen ihn gern einen Literaten.“ „Was Schauspieler von ihm denken, weiß ich nicht; möglicherweise denken sie überhaupt nicht.“ Auch so konnte Musil sein, was Kenner natürlich nicht überrascht, wie eben auch diese Logik nicht: „An einem Mann, der sogar die Dummheit zu so abwechslungsreichen Urteilen verleitet, muss Außerordentliches sein“. Zwei weitere Musil-Urteile seien zitiert: „So ist er eigentlich ein Aphoristiker, nach seiner inneren Form und im Gegensatz zur äußeren seiner Bücher.“ „Er hat bewirkt, dass es in deutscher Sprache bedeutend mehr Geist und Form gibt, als es ohne seine Hilfe geben würde“.
Wer heute nach alten Ausgaben von Franz Blei sucht, kann bisweilen sogar noch die sechs Bände seiner „Vermischten Schriften“ komplett finden, 400 Euro werden aber fällig für die knapp 1900 Seiten. Wer nach neueren Ausgaben schaut, kann sich an die weiß-gelben Bände der Europäischen Verlagsanstalt halten, „Gesammelte Werke“ von Rolf-Peter Baacke herausgegeben und mit informativen Nachworten ausgestattet. „Glanz und Elend berühmter Frauen“ ist dort beispielsweise neu erschienen, unter diesen berühmten Frauen finden sich Messalina, Theodora und Heloise aus weit vergangenen Zeiten, aber auch Caroline Schelling, Dorothea Schlegel, Mathilde Heine und Greta Garbo. Mich interessierte zuletzt daraus Angelika Kauffmann, im Buch vor Königin Luise von Preußen und nach Lady Hamilton. Blei macht seine Leser glauben, dass die berühmte Malerin glücklicher gewesen wäre, wenn sie sich nicht von dem Hochstapler getrennt hätte, der weder Graf noch Schwede war. Man darf darüber streiten, auch über Bleis Behauptung: „Das vestalische Genre, in dem Madame Angelika malte, ihr verhimmelnder, auf große Gefühligkeit gestellter Stil, findet heute keinerlei Beifall mehr.“ Was für ihn stimmen mochte, stimmt heute auf keinen Fall mehr. Man lese „Geträumtes Glück, Angelika Kauffmann und Goethe“ von Ursula Naumann. Man schaue sich Ausstellungen in Düsseldorf oder Schwarzenberg (Vorarlberg) an, wenn diese wieder geöffnet sind.
In seinem Nachwort zu „Glanz und Elend berühmter Frauen“ zitiert Rolf-Peter Baacke auch Anton Kuh. Und der möge allein deshalb heute zu Wort kommen, weil der 150. Geburtstag Bleis am 18. Januar 2021 mit seinem 80. Todestag zusammenfällt. Kuh, der zwanzig Jahre jünger war als Blei, starb dennoch anderthalb Jahre vor ihm: wie Blei und so viele andere im Exil. Anlässlich einer „Werfel-Matinee“ schrieb er: „Zuerst kam Herr Dr. Franz Blei, der ästhetische Abbé, und sprach ein paar salbungsvoll-ätzende Worte: über Spießer, Taugenichtse und Dichter, die zusammen drei konzentrische Kreise bilden, von denen der weiteste der Spießer- und der engste der Dichterkreis ist.“ Und: „Nach ihm seine zarteste Schöpfung: das Töchterchen Sibylle. Eine heilige, schwermütig-schlanke Lyzealistin.“ Das meint tatsächlich jene wilde Tochter der Zahnärztin und des Franz Blei, von der schon die Rede war. Vater und Tochter in einer Werfel-Matinee, dazu muss noch einmal Musil zitiert werden: „Und alte Stiftsdamen behaupten noch heute, dass er der Mann sei, der in Österreich die Revolution eingeführt habe, gemeinsam mit einem Franz Werfel, von dem man aber sonst nur Gutes hört.“ Anton Kuh: „Denn Blei hat nicht nur Wissen, sondern auch ein Weltbild.“ Er schrieb da für den „Querschnitt“ über Bleis Buch „Himmlische und Irdische Liebe“.
Über „Glanz und Elend berühmter Frauen“ äußerte sich auch Max Hermann-Neiße, das Typoskript fand sich im Nachlass und scheint bei Lebzeiten ungedruckt geblieben. Das ist insofern weniger schön, als eine frühere Blei-Kritik von ihm, zu „Über Wedekind, Sternheim und das Theater“, im „Zeit-Echo“ von 1916 gedruckt, vollkommen ungenießbar ist, diese von 1927 dagegen klar und deutlich und angenehm lesbar. Der Kritiker schreibt: „Das ist ein zärtliches, kluges, unterhaltsames, an Wissen um das Seelische und Körperliche der Frau reiches Buch, das gleicherweise spannend, belehrend und ergötzend und befreiend wirkt. … Auf kleinem Raume ein Lebensbild zu geben, das dennoch geschlossen dasteht und alles enthält, und diesem Lebensbild liebevoll eine dauerhafte Leuchtkraft verleihen, das kann Franz Blei mit besonderer Leichtigkeit und Eleganz.“ Kurt Pinthus, jener Pinthus, der nicht nur die berühmteste aller Expressionismus-Anthologien herausgab, die „Menschheitsdämmerung“, sondern auch „Das Kinobuch“, nahm 1920 von Franz Blei nur einen Brief auf, zwei Druckseiten lang. Blei behauptete dort, für uns Heutige mehr als erstaunlich: „Denn ein Kinostück ist nichts als eine photographische Angelegenheit, keine künstlerische. Stücke ohne Worte sind Pantomimen. Photographierte Pantomimen sind schwache Surrogate.“ Nur ein Irrtum?
Die klugen Vorschläge, die Blei dann doch machte, verraten, das er zunächst vielleicht doch den Mund ein wenig zu voll genommen hatte: „Mich interessieren die Menschen, die mit dem Aeroplan fahren mehr als der Aeroplan. … Man filme Lebensläufe unserer Zeit. Den Schlosser zum Beispiel, den Landarbeiter, den Kommis, den Kaufmann, den Beamten. … Wie lebt der Mensch? Dies zu zeigen, halte ich für wertvoller als die gefilmten Ausgeburten einer Phantasie, die Himmel und Hölle braucht, um sich auszudrücken und um nichts zu sagen.“ Nein, nur ein Irrtum war auch sein Einstieg nicht. Blei, der aus der katholischen Kirche aus- und später wieder eintrat, hat auch einen kurzen Auftritt in Ludwig Marcuses exemplarischen Buch „Obszön. Geschichte einer Entrüstung“. Dort lesen wir: „Der deutsch-katholische Erotiker Franz Blei tat alles, um seine Kirche von dem Vorwurf zu reinigen, an dieser Entrüstung schuld zu sein; erst die moderne Aufklärung habe sie in die Welt gebracht. … Franz Blei gehörte zu den Seltenen, die den überalterten, lächerlich strapazierten Gegensatz Heidentum-Christentum unter die Lupe nahmen. Die Christenheit lebte auch recht heidnisch, unbehelligt von den Theologen, welche den Blick auf die Wirklichkeit verstellten; Ideologen funktionieren immer auch als Verhüller der Realität.“ Womit er recht hat.
Bleibt mir der Verweis auf Robert Walser. Auch der gehört zu denen, die Franz Blei gefördert oder gar entdeckt hat. Als Bernhard Echte aus dem Gesamtwerk Walsers sein Buch „Dichteten diese Dichter richtig?“ zusammenstellte, eine Kompilation, die Walser selbst vermutlich viel Spaß bereitet hätte, konnte er immerhin 13 Seiten Franz Blei widmen, weil Walser sich 1914 und 1917 zweimal zum ihm äußerte: in seiner unnachahmlichen Art eben und deshalb purer Lese-Genuss. Walser schreibt, wen wundert es, mehr über sich als über den Doktor Franz Blei, der ihn zu sich nach Hause lud, nachdem er erste Gedichte Walsers gelesen hatte: „Ich sah mich zum erstenmal im Leben gedruckt, worüber ich vor Vergnügen fast verrückt wurde.“ Walser beschreibt Kleidung, Umgangsform, Redeweise, Wirkung von Überlegenheit, sogar eine Traumvision von einem Besuch Bleis in seiner Einsiedelei hinter einer Tür, die aussah, „als sei sie zu müde, um in einigermaßen ordentlichem Zustand zu sein.“ Und er endet: „Ich sah ihn erst viel später, nach mehreren Jahren, und ganz woanders wieder, aber wo ich mich auch aufhalten und unter was für Umständen ich auch leben mochte, immer dachte ich mit dem lebhaftesten Vergnügen und mit der besten Gesinnung an ihn.“ Den ersten Brief, der ihn im Zimmer seines Bruders Karl Walser erreichte, vergaß er nie mehr.