Ferdinand Gregorovius 200

Paul Heyse, mit 80 Jahren noch deutscher Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 1910 geworden, veröffentlichte 1868 erstmals „Jugenderinnerungen und Bekenntnisse“, darin enthalten auch das knappe Porträt des neun Jahre älteren Ferdinand Adolf Gregorovius. Es mag erlaubt sein, die Passage komplett zu zitieren: „Unter den Freunden, die mich während meiner Rekonvaleszenz besuchten, war auch einer, dessen ich bisher nicht erwähnt habe, obgleich ich bald nach meiner Ankunft mit ihm bekannt geworden war, Ferdinand Gregorovius, der spätere Geschichtsschreiber der Stadt Rom im Mittelalter. Wir hatten wohl bald den Gegensatz unserer Naturen empfunden, da er, ein Anhänger der Schlosserschen Schule, mit einem gewissen sittlichen Rigorismus alle Zustände der bunten römischen Welt betrachtete, während ich zunächst an ihrer naiven, sinnlichen Lebenskraft mich ergötzte und moralische Maßstäbe anzulegen mich nicht berufen fühlte. Dazu kam bei dem um einige Jahre älteren Ostpreußen, der in der Stadt der reinen Vernunft aufgewachsen war, ein feierlich getragenes benehmen, ein pathetischer Stil, der sich in seinem Gespräch nicht verleugnete, und ein völliger Mangel an Humor, so dass ich mich kaum entsinne, ihn je herzlich lachen gehört zu haben. Er blieb sich jeden Augenblick in gehobener Stimmung bewusst, dass, wohin er auch treten mochte, überall geweihter historischer Boden sei, während ich mir durch antike Reminiszenzen die harmlose Freunde an der Gegenwart nicht einschüchtern ließ.“

Heyse (15. März 1830 bis 2. April 1914) kam 1852 mit einem preußischen Staatsstipendium nach Rom, um Forschungen zu alten provenzalischen Handschriften zu unternehmen, zog sich bald ein Hausverbot der Vatikanischen Bibliothek zu, weil er unerlaubte Kopien angefertigt hatte. Ferdinand Gregorovius hatte am 2. April 1852 Königsberg verlassen, das Heyse „Stadt der reinen Vernunft“ nannte, weil es Immanuel Kants Geburts- und Sterbestadt war, der auch sein ganzes Leben dort verbracht hatte. Bis er am 2. Oktober 1852 endlich in Rom gelandet war, verging auf den Tag ein halbes Jahr, er sah zuvor unter anderem Korsika, das er drei Monate zu Fuß durchwanderte. Die Insel hatte bis 1768 noch zur Republik Genua gehört, die sie dann an Frankreich verkaufte. Als Heyse und Gregorovius in Rom aufeinander trafen, hatte beide den größeren Teil ihres Lebens noch vor sich, die schließlich auf acht Bände anwachsende „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ begann 1859 zu erscheinen, der abschließenden achte Band kam 1872 heraus, als nicht nur Italien, sondern auch Deutschland zu einem einheitlichen Staatsganzen geworden war. Man kann in den Briefen, die Gregorovius an Hermann von Thile (19. Dezember 1812 bis 26. Dezember 1889) richtete, recht genau nachlesen, wie das neue Italien auf ihn wirkte, das er dennoch Jahr für Jahr bis 1890 noch besuchte, nachdem er nach 22 Italien-Jahren 1874 nach München übergesiedelt war.

Wenn Georg Jenal (Jahrgang 1942), von 1996 bis 2008 Professor für die Geschichte des Mittelalters an der Universität Köln, in seinem Beitrag für den großen Killy (Band 4) Gregorovius in genau dieser Reihenfolge als „Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Historiker“ bezeichnet, dann verrät das weniger über Gregorovius als über Jenal. Denn wohl hatte der Geschichtsschreiber der Stadt Rom im Mittelalter, der später noch eine Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter folgen ließ und den Plan zu einer dritten solchen Unternehmung, zu Jerusalem, nicht mehr verwirklichen konnte, mit literarischen Werken begonnen, tatsächlich Gedichte publiziert, für die Bühne geschrieben. Nichts davon erlangte jedoch irgendeine Bedeutung, während die Geschichtswerke ihn in die Reihe der großen Namen des 19. Jahrhunderts stellen, wie auch immer sich die Mommsen, Niebuhr, Dahlmann von ihm unterschieden, sie voneinander dachten. Seinen Doktorhut hatte Gregorovius mit einer Arbeit zum spätantiken Plotin und seiner Ästhetik erworben, Doktorvater war jener Karl Rosenkranz (23. April 1805 – 14. Juni 1879), der mit seiner „Ästhetik des Hässlichen“ von 1853 zu Ruhm gelangt war. Die „zünftigen“ Historiker verhalten sich jedoch bis heute, wenn auch unter vor allem englischen Einfluss in geringeren Maße, gegen Historiker mit literarischem Ehrgeiz wie Literaturprofessoren am Katheder gegenüber das Feuilleton bedienenden Ungern-Kollegen.

Man darf sich das immer auch unter Aspekten des Neides denken, denn wer nur immer tapfer in Fußnotenkriege zieht, den kennt niemand, während das halbe Dutzend Medienprofessoren, die durch das Sitzen in Talk-Sesseln komplett von der Arbeit abgehalten werden (was gar nicht stimmt, wohl aber gern unterstellt wird), folgerichtig gar keine ganz seriösen Wissenschaftler sein können. Dass jener Gregorovius, dessen 1874 veröffentlichte Monographie „Lucrezia Borgia“ bis heute in Nachdrucken neu aufgelegt wird, dessen in fünf Bänden erschienene „Wanderjahre in Italien“ (1856 – 1877) von den 50er bis weit in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts in Auswahl ebenfalls mehrfach neu gedruckt wurden, auch seine Dünkel pflegte, verriet oben schon Paul Heyse. In den Briefen an Hermann von Thile klagt er unter anderem darüber, dass mit dem Siegeszug der Eisenbahn die „Legende Rom“ zerstört worden sei: „Wenn die Reise hierher einst eine Pilgerfahrt und sicherlich ein Ereignis im Leben der Menschen war, so macht man sie jetzt mit Tourbilletten in kürzester Zeit ab, und so ist die Unerreichbarkeit Roms für das profanum volgus aufgehoben.“ Der Briefschreiber spielt hier auf Horaz an: „Odi profanum vulgus et arceo.“ Was in etwa bedeutet: „Ich hasse das gemeine Volk und halte es fern.“ Und keineswegs die volle Wahrheit spricht. Denn Gregorovius schrieb auch „Göthes Wilhelm Meister in seinen socialistischen Elementen entwickelt“ (1849).

Anlässlich des 100. Todestages von Ferdinand Gregorovius am 1. Mai 1991 hielt Hanno-Walter Kruft am 2. Dezember 1991 einen öffentlichen Vortrag „Der Historiker als Dichter“, veröffentlicht vom Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften München 1992. Kruft (22. Juni 1938 – 10. September 1993) war ein Kunsthistoriker, von dem vor allem seine „Geschichte der Architekturtheorie“ und „Städte in Utopia. Die Idealstadt vom 15 bis 18. Jahrhundert zwischen Staatsutopie und Wirklichkeit“ bedeutsam geworden sind. Mit Ferdinand Gregorovius kannte sich Kruft bestens aus, gab er doch 1978 bei C. H. Beck die nach dem Krieg umfangreichste Auswahl aus „Wanderjahre in Italien“ heraus, edierte er „Römische Tagebücher 1852 – 1889“ und, für mich besonders verdienstvoll, „Eine Reise nach Palästina im Jahre 1882“. Sehr wohl wissend, was er da sagte, begann Kruft seinen Vortrag so: „Der Titel dieses Vortrages deutet etwas an, was nach dem heutigen Wissenschaftsverständnis unmöglich ist und nach demjenigen des 19. Jahrhunderts bereits anrüchig war, dem aber der Gefeierte selbst wahrscheinlich nicht widersprochen haben würde. Geschichtsschreibung als Dichtung mit künstlerischem Anspruch war das zentrale Anliegen von Ferdinand Gregorovius, mit dem die zeitgenössische und die heutige historische Wissenschaft ihre Schwierigkeiten hatte und hat.“ Eine denkbare aufregende Erzählung des Konflikts folgt aber nicht.

Kruft zitiert aus dem 1852 begonnenen Tagebuch: „Korsika entriss mich meinen Bekümmernissen, es reinigte und stärkte mein Gemüt; es befreite mich durch die erste Arbeit, deren Stoff ich der großen Natur und dem Leben selbst abgewonnen hatte; es hat mir dann den festen Boden unter die Füße gestellt.“ Eine zweibändige Ausgabe erschien 1854 unter dem Titel „Corsica“ in Stuttgart. Kruft hebt hervor, dass Gregorovius in Goethes „Italienischer Reise“ zwar einen wichtigen Bezugspunkt fand, keineswegs aber etwas buchstäblich oder auch nur im übertragenen Sinne auf seinen Spuren reiste. Wichtig war und wurde für ihn die eigene Anschauung, wichtig war sicher auch der äußere Anstoß, den Theodor Mommsen lieferte, von dessen „Römischer Geschichte“ 1854 der erste Band erschien. Wichtig waren außerdem und völlig natürlich Edward Gibbon (8. Mai 1737 – 16. Januar 1794) und Barthold Georg Niebuhr (27. August 1776 – 2. Januar 1831). Letztlich aber folgte Gregorovius, wie Kruft glaubhaft macht, dem Bild des Historikers, wie es Wilhelm von Humboldt zeichnete: „Das Geschäft des Geschichtsschreibers ist in seiner letzten, aber einfachste Auflösung ist Darstellung des Strebens einer Idee, Dasein in der Wirklichkeit zu gewinnen.“ Als Protestant kam Gregorovius vorübergehend sogar auf den vatikanischen Index, wurde aber auch – und zwar als erster Deutscher – Ehrenbürger der Stadt Rom.

Am 17. Mai 1885 schrieb er an Hermann von Thile: „Es ist wohl peinlich für jeden, der das alte Rom gekannt und geliebt hat, die Zerstörungen am Tiber, in Trastevere und mitten im Marsfelde anzusehen. … In 10 bis 20 Jahren ist das Mittelalter aus Rom ganz verschwunden, oder es wird sich nur in ein paar Kirchen geflüchtet haben. Kein Mensch wird dann mehr in den Fall kommen, ich welchem ich mich einst befunden habe, nämlich aus dem Anblick des antik-mittelalterliche Gepräges der Stadt die Begeisterung für ihre Geschichte im Mittelalter zu schöpfen.“ 25 Jahre früher hatte er noch bekannt: „Ich habe kein Urteil über das Resultat dieser seltsamen Revolution, aber mir ist ein lebendig fließender Strom, dessen Richtung ich nicht kenne, immer lieber als der faule stehende Sumpf; und in diesen hatte sich Italien nach und nach verwandelt.“ An Rom als Sitz eines Königs wollte und konnte sich der Historiker nicht mehr gewöhnen. Am 8. Januar 1871, der letzte Rom-Band war abgeschlossen, schrieb er: „Das Gefühl der Ablösung von einer Arbeit, welche ich als meine Lebensaufgabe betrachtet habe, ist mehr von Wehmut als von Freude durchdrungen“. Dennoch ist Rom für ihn etwas wie für den mythischen Antäus die Erde: „In Wahrheit, wenn ich diesen heiligen Boden berühre, strömt etwas aus ihm in mich zurück, was mich fast hoffen ließe, dass meine wenigen Kräfte noch nicht ganz und gar verbraucht worden sind.“

Zum Jubiläum mag eine kleine Verlagsgeschichte noch kurz erwähnt werden: Für einige Jahre hatte der Ostpreuße, Wahl-Römer und Spät-Münchener eine verlegerische Heimat im sächsischen Dresden. Der Verlag Wolfgang Jess verlor am 13. Februar 1945 beim verheerenden anglo-amerikanischen Bombardement Dresdens mit seinen Geschäftsräumen in der Pillnitzer Straße 44 auch sämtliche Archivalien und Druckvorlagen. Marianne Jess begann 1947 im Sinne ihres in der Schlacht um Berlin 1945 vermissten Gatten Wolfgang eine zweite Verlagszeit in der Schillerstraße 11. Dort erschienen (Quelle Stadtwiki Dresden) seit 1949 folgende Bücher von Ferdinand Gregorovius: „Florenz“ und „Neapel“ 1949, „Korfu. Eine ionische Idylle“ 1951, „Lucrezia Borgia. Nach Urkunden und Briefen ihrer eigenen Zeit“, „Sizilien – Kulturfragmente“, „Die Insel Capri – Idylle am Mittelmeer“ und „Athenais. Geschichte einer byzantinischen Kaiserin“ 1952, „Wanderjahre in Italien. Auswahl“ 1954. Diese Angaben dürfen insofern bezweifelt werden, als die von Hans Krey herausgegebene Auswahl, die hier für 1954 genannt wird, bereits mit der Angabe 1950 im Antiquariatsbuchhandel zu haben ist. Für 1955 wird eine Ausgabe des 38. bis 45. Tausend angeboten, das Buch verkaufte sich also erstaunlich gut. Geschäftsführer Hans Krex verließ 1958 die DDR, der Verlag verlor seine Lizenz und Gregorovius war für die DDR schlicht verloren.


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