Christian Morgenstern 150
Nein, Christian Morgenstern verbrachte seine Jugend ab 1884 nicht im ehemaligen Breslau. Der am 6. Mai 1871 in München Geborene verlebte sie in Breslau, das erst viele Jahre später ehemalig wurde, wenn man dieser verqueren Logik denn überhaupt folgen möchte. Er selbst hatte dem Vater zu folgen, wie es üblich war dereinst: Frau und Kinder folgten dem Vater, dem Ernährer, dem Familienoberhaupt, in diesem Fall dem Professor, denn Morgensterns Vater war Maler und wurde Professor und folgte als solcher, wie man damals gern sagte, einem Ruf. Die Autorität eines Professors ist bis in die Gedichte des Sohnes gedrungen. Man muss nur „Der Gaul“ hernehmen, wo das Pferd des Tischlers Bartel an die Tür der Großfamilie von Professor Stein klopft. Es hat kein Anliegen, es klopft nur und es stellt sich vor, bescheiden und unaufdringlich, und es geht wieder von hinnen, wie es kam. Der Professor aber gibt dem Geschehen einen Sinn: er nennt es „Ein unerhörtes Erlebnis!“. Albrecht Goes, der Dichter, hat „Der Gaul“ in den Bestand seiner zwanzig Deutungen aufgenommen, in der Fischer Bücherei gedruckt unter dem Titel „Dichter und Gedicht“.
Man muss Albrecht Goes dankbar sein für seine Deutung, denn sie ist verräterisch. Er meinte, sich für diese seine Entscheidung rechtfertigen zu müssen. Er holte weit aus in die Dichtungsgeschichte, um seiner Rechtfertigung Gewicht und Tiefe zu geben. Es fallen die Namen Lessing und Gellert, Goethe und Fontane, Mörike, Heinrich Seidel, Richard Dehmel und Wilhelm Busch. Goes referiert prägnante Unterschiede zwischen Busch und Morgenstern. Doch schon der Begriff des „heiteren“ Gedichts führt in vergifteten Boden: heiter, heißt eine der deutschen Gleichungen, meint leicht, und leicht, das verfliegt. Tiefe aber ist schwer, es bedarf massiver Hebezeuge des Geistes, sie vom Boden lösen, um den Grund darunter in Augenschein nehmen zu können. Goes ist kein Mann, der zu dick aufträgt, eher vorsichtig trägt er seins vor: „Was Deutschland angeht, so ist in unsrer sonst so reichen Lyrik das heitere Gedicht nicht eben üppig gediehen.“ Und gibt einen Rat: „Man soll ein Gedicht nicht nach seinem Sinn fragen, wenigstens nicht unbedacht; ein wenig Wahnsinn ist immer ins Gedicht eingewoben.“ Und: „... in einem guten Gedicht ist ja viel mehr anwesend, als das unmittelbar ausgesprochene Wort mitzuteilen vermag“.
Hermann Hesse, den Dichter, wird kaum jemand unter die Morgenstern-Schüler rechnen, wenn es denn überhaupt Sinn macht, ihm Schüler anzudichten. Dennoch hat Hesse ein Gedicht geschrieben, das eine Hommage an Morgenstern darstellt, wie sie reiner und schöner schwer vorstellbar scheint. „Palmström“ heißt das Gedicht, es ist um 1910 entstanden, eine genauere Datierung kenne ich nicht, und es beginnt so: „Palmström kannte einen Herrn / namens Christian Morgenstern.“ 21 zweizeilige Strophen, sauber gereimt, so geht es weiter: „Dieser bloße Name schon / war perfid und voller Hohn. // denn besagter Morgenstern / schien am Abend grad so gern. // Ferner war er ein Poet, / was der Bürger kaum versteht.“ Der Morgenstern war dem Hesse näher, als man zu gern glaubt, jedenfalls phasenweise. Weil der Morgenstern eben auch am Abend gern schien. Man könnte behaupten, in seinen späteren Jahren, wenn man sein zu kurzes Leben denn unbedingt in frühe und späte Jahre spalten möchte, habe er an den Abenden sogar lieber geschienen. Dafür steht der Name des Anthroposophen Rudolf Steiner, der hier nur die Rolle eines Stichworts zu spielen hat.
Hesse, der immer Lesende und seine Lesefrüchte öffentlich machende Dichter, hat natürlich auch mehr als einmal über Bücher Morgensterns sich verbreitet. „Palmström“ heißt einer seiner Texte, in der September-Ausgabe der „Neuen Rundschau“ 1910 gedruckt. Die Verse des Büchleins, so Hesse, „sind der reinste und heiterste Ausdruck einer hohen, vorübergehend den Hemmungen der Konvention entronnenen und fidel gewordenen Intelligenz. … Er spielt zunächst mit der Technik und zeigt an einigen unendlich formschönen Gedichten mit völlig verrücktem Inhalt, dass schöne Verse rein als solche große Wirkung tun können.“ „Dem Kind im Manne“ widmete Christian Morgenstern das Büchlein und Hermann Hesse sieht darin „die schönste Widmung, die je vor einem humoristischen Buch gestanden hat“. Knapp zwei Jahre später, am 29. Juni 1912, wandte sich Hesse im Münchener „März“ der anderen Seite des Dichters Morgenstern zu, gesammelt in den Bänden „Ein Sommer“, „Und aber ründet sich ein Kranz“ und „Einkehr“. Jetzt heißt es: „Er ist zu wenig Denker, um das Dichten lassen zu können, und nicht Dichter genug, um vom Abstrakten je ganz loszukommen.“ Sechs Jahre nach Morgenstern Tod am 31. März 1914 verteidigt ihn Hesse.
Er nimmt einen der in ziemlich dichter Folge erschienenen Nachlass-Bände zum Anlass, „Epigramme und Sprüche“ aus dem Jahr 1920: „Vor allem klingt ein Ton mit an: vom Skeptiker Morgenstern, vom frommen und gütigen Morgenstern, vom Polemiker und Ironiker, vom Humoristen Morgenstern. Ein Teil dieser skizzierten Aufzeichnungen wäre besser ungedruckt geblieben, es ist Halbes dabei.“ Vor allem Morgensterns Witwe hatte für immer neue Bücher gesorgt, was man ihr nicht nachträglich verübeln sollte. Was im Falle all der Texte, die Morgenstern selbst gern veröffentlicht gesehen hätte, etwa seine kleinen Bühnen-Dialogen, etwa eben seine Epigrammen, fast als Vollzug eines letzten Willens gesehen werden darf, in anderen Fälle jedoch Hesse durchaus bestätigt. Nie vergessen sollte man das pekuniäre Interesse der Verlage: Hesse selbst ist das allerbeste Beispiel, sein Verlag bringt immer neue Sammlungen auf den Markt, selbst wenn weit und breit kein Jubiläum in Sicht ist, was allenfalls bei den sich stets erweiternden Brief-Editionen noch substantiell von Bedeutung ist. 1933 griff Hesse zur Morgenstern-Biographie von Michael Bauer, die von Margarete Morgenstern und Rudolf Meyer vollendet worden war.
Hesse widerspricht zunächst vehement der These, die fast „eine Art von Glaubenssatz“ geworden sei, „die deutsche Welt sei bis zum Jahr 1914 in einem friedlichen Glück geschwommen“. Zum Beleg nimmt er seine eigenen Generationserfahrungen. „Die selbe Not hat Christian Morgenstern erlitten, auch ihm ist es ungeheuer schwer geworden, zu einer geistigen Wirklichkeit durchzudringen, die Wesenlosigkeit des Betriebs, der Mode, der Zeitstimmung zu überwinden. Und jener Teil seines Werkes, dem er den Ruhm und Namen eigentlich verdankt, seine humoristische Dichtung, ist ja nichts andres als zum Teil Protest, zum andern Teil Flucht: Protest gegen die Dünne und Ärmlichkeit der geistigen Luft, in der wir auswuchsen, und Flucht aus dieser Luft in Bezirke romantisch-verantwortungsloser Dichterträume.“ Hesse lässt Morgensterns späten Weg zu Rudolf Steiner nicht als Verirrung stehen: „Es scheint so zu sein, dass Morgenstern trotz einer geringen Mitgift an religiöser Tradition eine wesentlich religiöse Seele war.“ Belege dafür könnte man in seinen frühen Briefen bereits finden, dergleichen aber nähme, das sehe ich genau wie Hesse, diesem Leben nichts von deiner Originalität und Einmaligkeit. Morgenstern ist eben auch Zeitgeschichte.
Der Literaturhistoriker Arthur Eloesser bestätigt im 1931 erschienenen zweiten Band seiner großen Literaturgeschichte vorab das zwei Jahre später veröffentlichte Fazit Hermann Hesses: „Ich habe keine Tiefe als meinen unaufhörlichen Trieb zur Tiefe, sagt Christian Morgenstern (1871 – 1914); es war ihm eine besonders deutsche Verpflichtung, sie in fortwährender Andacht zu suchen. Morgenstern kam von Schopenhauer, ging in die härteste Schule des Deutschtums bei dem Propheten Lagarde, kämpfte mit Nietzsche, der sein anderer Bildner gewesen war, und endete in der glaubenswilligen Sekte des höchst unternehmenden Theosophen Rudolf Steiner. Auf der vorletzten Stufe hatte er sich mit Tolstoi und Dostojewski zum Mitschuldigen an allem bekannt; seine sturmwindwilde Seele, wie er sie nennt, wollte immer frommer werden, immer ausgeweiteter in ihrem Weltgefühl, damit sie überall Heimat hätte. Des Gottsuchers Morgenstern reflektierende Poesie hat nicht immer Farbe und Gestalt; wenn er sich in die kleinere, auch liedartige Form einschränkte, stieg aus seiner Tiefe die Melodie, die immer dagewesen zu sein scheint, und schon von einem leisen Anruf erwacht.“ Auch Eloesser favorisierte die „Galgenlieder“ und „Palmström“.
Noch einmal will ich Albrecht Goes zitieren: „Jeder hat hier seine privaten Lieblingszeilen, Elixiere alle aus der Apotheke für betrübte Gemüter.“ Meine Lieblingszeilen waren nach der allerersten Begegnung mit Morgenstern vor fünfzig und mehr Jahren natürlich die von „Fisches Nachtgesang“. Später wechselte ich zum „Gespräch einer Hausschnecke mit sich selbst“, das als einziges Gedicht dieser Art am Ende erklärt wird und diese Erklärung gehört für mich zum Umwerfendsten, was ich je las: „Die Schnecke verfängt sich in ihren eigenen Gedanken oder vielmehr diese gehen mit ihr dermaßen durch, dass sie die weitere Entscheidung der Frage lächelnd verschieben muss.“ Allein der Gedanke an eine lächelnde Schnecke, die sich nicht einer schlaflosen Nacht ausliefert, sondern die Vorlage, wie man unter Menschen sagen würde, in die Ausschüsse verweist, wiegt vier Bände Ontologie und allen Poststrukturalismus sowieso auf. Auch bin ich ein großer Freund all der vielen erfundenen Tiere aus Morgensterns Reime-Zoo. Wobei im Geist des Lexikons verbotener Wörter das Gedicht „Mogel“ alles verdirbt, der Diener Mogel nämlich „ist ein halber Neger“. Morgenstern hätte auch mit schönster Entschuldigung keine Chance, im Aufsichtsrat von Hertha BSC zu sitzen.
Dabei hatte der Münchner durchaus Berliner Wohnsitze. Am Stuttgarter Platz etwa. Wobei nach seiner Erkrankung an Tuberkulose, einer vermutlichen Erblast seiner früh verstorbenen Mutter, immer öfter und immer länger Aufenthalte in Kureinrichtungen, mit Thomas Mann zu sprechen, auf Zauberbergen, seine Postanschriften bestimmten. Er hatte Freunde wie den Schauspieler Friedrich Kayssler. Er hatte freundliche Kritiker wie Kurt Tucholsky, der bei ihm die „unheimliche Kunst, so Kompliziertes in fabelhafte Verse zu fassen“ diagnostizierte. „Es ist bezeichnend“, schrieb Tucholsky später, „wie stark die positive Seite dieses Spaßmachers gewesen ist, die positive Seite, ohne die nun einmal keine Satire, kein Scherz, kein Ulk denkbar ist“. Und noch später: „Wer ihn liebt, liebt das beste Teil am Deutschtum, fern, fern allen Ludendörffern.“ Weil dieser Name heute kein sprechender mehr ist, wäre er wohl zu erläutern. Es mangelt mir aber an Lust dazu. Kleiner Tipp: Mathilde Ludendorff hatte die grandiose Idee, Goethe des Mordes an Schiller zu bezichtigen, ihre Blödigkeit schaffte sogar mehr als nur eine gedruckte Auflage. Als „Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte“. Den Christian Morgenstern nicht mehr erleben musste, wie auch den Krieg.
An Friedrich Kayssler schrieb er am 17. Januar 1908: „Wir träumen von Sternen und dann wars einfach ein Licht hinter einem Fenster. Nun, unter Umständen kann das mehr als ein Stern sein, unter seltenen Umständen. Man ist ja immer wieder Kind genug, es glauben zu wollen.“ Aus Obermais schrieb Morgenstern 1907: „Ich möchte soweit kommen, schweigen zu dürfen, wo ich nicht selbst reden will, kein Wort von mir geben zu müssen ...“. War er diesem Punkt näher gekommen, als er sieben Jahre später in Untermais starb? Wenn bis heute immer wieder einmal eine Stimme laut wird, die von einem einseitigen Morgenstern-Bild spricht, wenn nur vom Humoristen die Rede ist, sei daran erinnert, dass bis heute niemand von einem einseitigen Goethe-Bild redet, wenn darin großzügig auf seine Kaisergeburtstagsdichtungen und seine Maskenzüge verzichtet ist. Völlig zur recht übrigens. Deshalb bleibt es immer eine höchst alberne Zusammenfassung, wenn ein Tübinger Germanist schreibt: „Wie das Werk ist auch die Wirkungsgeschichte Morgensterns zweigeteilt.“ Doch besser albern, als gar nicht. Am 6. Mai 2021 kennen die leitenden Haupt- und Staatsmedien gar keine Wirkung Morgensterns mehr. Sie kennen nur noch Erich Fried.