Arthur Eloesser und Rahel Varnhagen
Als Arthur Eloesser 1925 den „Geist von Berlin“ beschwor, nannte er zwar auffallend viele Namen von anerkannter Prominenz, bis auf eine Ausnahme alles Männer, doch diesen einen wichtigen Namen klammerte er aus: Rahel Levin, später als Gattin von Karl August Varnhagen von Ense Rahel Varnhagen. Genauer: Antonie Friederike Varnhagen, denn am Tag ihrer Hochzeit, es war der 27. September 1814, gab sie förmlich ihren jüdischen Vornamen auf, was sie keineswegs davon abhielt, ihn auch nach der evangelischen Taufe beizubehalten, wenn sie etwa Briefe schrieb und das tat sie sehr oft. Bei Eloesser lesen wir also 1925: „Einige Jahrzehnte später, als Goethe schon die Führerschaft im deutschen Leben verloren zu haben schien, wurde gerade in Berlin der Kultus seiner Persönlichkeit begründet, der von der einzelnen Leistung, von der nur literarischen Schätzung absah, der seine Gesamterscheinung als vorbildlich, als allanwesend und darum verpflichtend auf allen Gebieten der Kultur verehrte. Man weiß, welche Rolle dabei die jüdischen Salons gespielt haben, die die Literatur in Deutschland zu einem Element der Geselligkeit machten, die ihren Anhang mit großer sozialer und konfessioneller Vorurteilslosigkeit aufbrachten, von den Prinzen und ihren Mätressen bis etwa zu einem amtierenden Prediger und Seelenhirten.“
Dass hier schon neben dem Salon der Henriette Herz vor allem der Salon der Rahel Levin in einer Dachstube der Jägerstraße gemeint war, erhellt aus den späteren Beschreibungen von Sache und Zeit, die Arthur Eloesser hinterlassen hat, in aller Eindeutigkeit. Für ihn war völlig klar, dass Rahel eine überragende Rolle im Berliner literarischen Leben gespielt hat und genau deshalb findet sie sich in seinen Schriften immer wieder. Wobei er einmal gefundene Formulierungen aufgreift, sie bisweilen fast wörtlich wiederholt, sie aber auch erweitert und ergänzt. Seine zweibändige Gesamtdarstellung „Die deutsche Literatur vom Barock bis zur Gegenwart“ (Bruno Cassirer Berlin 1930 und 1931) liefert die Basis für sein Rahel-Bild, in dem großen Kapitel „Literatur“, das er für den Sammelband „Juden im deutschen Kulturbereich“ (1935/1959) schrieb, ergänzt und vertieft er es, um in seinem letzten Buch „Vom Ghetto nach Europa. Das Judentum im geistigen Leben des 19. Jahrhunderts“ (1936) seine Charakteristiken abzurunden. In seiner frühen ersten Zeit als Kritiker der „Vossischen Zeitung“ war ihm Rahel Varnhagen bereits vertraut, wie eine Erwähnung in seiner Besprechung von „Bertha von Suttners Memoiren“ belegt. Alles aber kreist um Rahels Berliner Salon, den sie zuerst als alleinstehende Frau in der Jägerstraße betrieb, später als Gattin Varnhagens.
„Es ist schon viel zu viel über die Rolle der jüdischen Salons in Berlin geschrieben worden, nicht zuletzt aus einem verständlichen Geltungsbedürfnis, dem es auf die Feststellung der Vorurteilslosigkeit ankam, mit der Männer wie Prinz Louis Ferdinand und Alexander von der Marwitz, mit der die beiden Humboldts, mit der Dichter verschiedenster Art wie Jean Paul und Heinrich von Kleist dort verkehrt haben.“ Dies scheint als letztes Wort Eloessers lesbar zu sein, weil es nicht bei der auch von ihm selbst mehrfach wiederholten Feststellung stehen bleibt, wer alles bei Rahel Levin in der Dachstube, bisweilen sogar weiter verkleinernd nur Dachstübchen genannt, zu Gast war und immer gern wiederkam. Eloesser erkennt ein Motiv in allen Lobeshymnen und es ähnelt verblüffend seinen eigenen Aussagen zu Goethes „Antisemitismus“ in „Vom Ghetto nach Europa“. „Goethe ist niemals der Berührung mit einem Juden ausgewichen“, kann man dort lesen. Merkwürdig möge es keineswegs sein, „dass er Rahel durch einen Besuch beglückte“. Bei diesem Besuch gilt es kurz zu verweilen. „Es war ihr größter Tag, als Goethe sie während einer Reise mit einem Morgenbesuch überraschte“, heißt es in „Juden im deutschen Kulturbereich“. Auf jegliche näheren Details verzichtet Eloesser, möglicherweise waren sie ihm auch gar nicht alle vertraut.
Jener Besuch ereignete sich am 8. September 1815. Es war ein Freitag und Rahel schrieb, noch aufgewühlt, ihrem Gatten: „Guter teurer August. Goethe war diesen Morgen um ein Viertel auf 10 bei mir. Dies ist mein Adelsdiplom. … Ich benahm mich sehr schlecht. Ich ließ Goethe beinahe nicht sprechen!“ Knapp drei Wochen zuvor, am 20. August, bekam der Gatte dies zu lesen: „Nein, August, welches Glück! … Ein niedriger halber Wagen mit einem Bedienten fährt den langsamsten Schritt. Ein Herr fährt vom Bock, drei Damen in Trauer sitzen drin; ich seh in den Wagen und sehe Goethen. Der Schreck, die Freude machen mich zum Wilden; ich schrei mit der größten Kraft und Eile: „Da ist Goethe!“ Goethe lacht, die Damen lachen …“. Ihr zitterten Knie und Glieder noch mehr als eine halbe Stunde, als Goethe vorbei war, verrät sie. Wer diese Selbstaussagen kennt, ahnt nicht nur, welche Energie in dieser Goethe-Verehrung der jüdischen Berliner Salondame steckte. Im zweiten Band von Eloessers Literaturgeschichte liest sich das so: „Man sagt, dass Rahel Levin, die spätere Frau Varnhagens, den Goethekultus in Berlin gegründet hat, der von da aus europäisch wurde.“ In „Juden im deutschen Kulturbereich“ nur variiert: „Wenn man sagt, dass der eigentliche Goethekult sich aus ihrem Salon über Deutschland verbreitet hat, so ist das eine Tatsache.“
Schließlich in „Vom Ghetto nach Europa“: „Es ist gewiss ohne Übertreibung festgestellt worden, dass es Rahel war, die den Goethekultus in Berlin und in Preußen begründete. Ihr hoher Meister hat das selbst anerkannt, und der Besuch, den er ihr einmal bei einer Reisebegegnung machte, bedeutete ihr die größte Stunde ihres Lebens.“ Obwohl es doch zwanzig Jahre früher bereits mehr als nur eine einzelne Begegnung mit Blickkontakt und einen Kurzbesuch an einem Freitagmorgen gegeben hatte. Schauplatz war Böhmen, der Rahmen Goethes vierte Reise dorthin, die vom 4. Juli bis 8. August 1795 dauerte. Es vergingen Jahre, ehe er 1806 erneut in Karlsbad und Westböhmen einige Sommerwochen verbrachte. In Johannes Urzidils „Goethe in Böhmen“ lesen wir: „Den Eindruck der damals vierundzwanzigjährigen Rahel auf Goethe hielt ihr Freund David Veit noch in Karlsbad, also unmittelbar und authentisch fest. Goethe nannte sie „ein Mädchen von außerordentlichem Verstande, die immer denkt, und von Empfindungen – wo findt man das? Es ist etwas Seltenes.“ Er bewunderte an ihr „die große Originalität und dies, dass diese Originalität liebenswürdig ist. Man fühlt sich, je näher man sie kennen lernt, desto mehr angezogen und lieblich gehalten. O wir waren beständig zusammen und haben sehr freundschaftlich und vertraulich miteinander gelebt.“
Ein schöner Zufall will, dass ein Briefs Rahels an David Veit das Datum trägt, das zwanzig Jahre später den Überraschungsgast in Frankfurt brachte: 8. September. „Niemandem habe ich mich in meinem Leben in irgendeiner Art zeigen können als ihm. … Er ist Goethe. Und was ihm scheint und er sagt, ist wahr. … Ja, ja, ich bet ihn an.“ Urzidil kommentiert vielsagend: „Für ein bloßes Äugelchen klingt das intensiv genug.“ Äugelchen nannte Goethe seine Flirtpartnerinnen und 1795 in Böhmen waren das neben Rahel Levin noch Friederike Brun und Marianne Meyer, die spätere Marianne von Eybenberg. Es sei angemerkt, dass Hannah Arendt, die Autorin der bis heute am meisten verbreiteten Rahel-Biographie, der Geschichte keine exponierte Aufmerksamkeit schenkt, auch der Anhang von Briefen und Tagebuchstellen verzichtet auf eine mögliche Dokumentation. Zudem hat jene Goethe-Biographik, die sich an seinen Frauengeschichten entlang hangelt, hinreichend viel überflüssiges Wissen in die Welt gedrückt, dass jegliche Weiterung unter Luxus zu verzeichnen wäre. Auch wenn Arthur Eloesser dem Anekdotischen in der Literaturgeschichte keineswegs abgeneigt war, in ihren Niederungen bewegte er sich nicht. Ihn interessierte dafür sehr eine ganz bestimmte Leistung Rahels innerhalb der nachfolgenden Goethe-Rezeption.
Auch hier ähneln sich die betreffenden Äußerungen Eloessers aus nahe liegenden Gründen. „… sie war die erste, die Goethe vom Erlebnis her verstand und die in seiner Dichtung sein Leben, sein erlittenes, narbenreiches, erspürte.“ (Die deutsche Literatur … II) „… sie ist auch die erste Frau und fast der erste Mensch in Deutschland gewesen, der mit dem damals durchaus nicht populären Dichter mitlebte, der ihn vom Erlebnis her verstand und in der Dichtung des angeblichen Olympiers und großen Egoisten auch das verspürte, was ihm die Götter an den Schmerzen, den unendlichen, verliehen hatten.“ (Juden im deutschen Kulturbereich) „Rahel hat Goethe zuerst von der Seite des Erlebnisses her erkannt, etwas von den Lebenswunden und Leiden des angeblich unverletzlichen Olympiers gefühlt.“ (Vom Ghetto nach Europa) Und immer kommt Eloesser darauf zurück, dass Rahel sich mit der Aurelie aus Goethes „Wilhelm Meister“ identifizierte. Mehrfach nennt er sie genial und das auch in Relation zu ihrem Gatten: „Die geniale Rahel sah weiter als der geistreiche Diplomat …“. „… die geniale Rahel blieb die große Vertraute von Aristokraten, Diplomaten, Militärs und Gelehrten nicht weniger als von den Dichtern, die sich bis auf Heine und die Jungdeutschen ihren Segen holten, sich vor ihrer großartigen Unbefangenheit bewähren wollten.“
Als Heinrich Heine Ende März 1821 zur Fortsetzung seiner Studien in Berlin eintraf, stand Rahel Varnhagen kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag entfernt. Knapp zwei Jahre später nennt er sie gegenüber Karl Immermann „die geistreichste Dame, die ich je kennen gelernt.“ (14. Januar 1823). Bei Eloesser lesen wir natürlich auch von ihren Wirkungen auf ihn: „Das Jahr 1827 war für Heine entscheidend, es brachte ihm den Ruhm, an den er, wie Rahel sagt, allzuviel gedacht hat.“ Das ist knapp und klar formuliert, man versteht, was gemeint ist. Schaut man dagegen bei Klaus Briegleb nach, dem gefeierten Heine-Experten und -Herausgeber, fällt man von einer Ohnmacht in die nächste, mit welcher Ausdauer ein leibhaftiger deutscher Professor einen Satz an den anderen reiht, von denen fast keiner auch nur ansatzweise verständlich ist. Briegleb beherrscht die respektable Kunst, die Kapitelüberschriften seiner Heine-Bücher so zu formulieren, dass der Leser möglichst nicht ahnt, worum es in dem entsprechenden Abschnitt gehen könnte. Immerhin gibt es dennoch auch hier und da Briegleb-Sätze, die verstanden werden könnten: „Mit einiger Verlegenheit bemerkt der Heinefreund bei seinem Helden eine unziemliche Übergröße des Selbstbewusstseins. Es ist amüsant zu lesen, wie in der Fachliteratur um das peinliche Faktum herumgeschrieben wird.“
Woher, frage ich an solchen Stellen gern, weiß ein Professor, was der Heinefreund bemerkt, falls er nicht nur selbst der bemerkende Heinefreund ist, der sich anders als Heine nur nicht traut, ich zu sagen? Wem übergroßes Selbstbewusstsein peinlich ist, sollte Distanz halten. Halten wir uns lieber an Arthur Eloesser: „Und Rahel hat das hübsche Wort hinterlassen: Heine muss Prügel kriegen, um wesentlich zu werden. Dann bleibt ihr das Verdienst, ihn zur vollständigen Bekanntschaft mit Goethe gebracht zu haben“. Wäre dies das einzige Verdienst, wäre es schon groß genug, denn es verteilen sich über das Gesamtwerk Heines, wie es sich Heinefreunden zum Beispiel in der handlichen Ausgabe „Sämtliche Schriften“, herausgegeben eben von Klaus Briegleb, darstellt, derart viele und kluge Sätze über Goethe (und Schiller, und auch das Verhältnis beider zueinander), dass es mir eine Wohltat war, dem gediegenen Register der sechs Bände in sieben Büchern (dtv München) zu folgen. Dass Rahel Varnhagen selbst nicht der Romantik zuzurechnen war (und ist), war Eloesser keine Frage, ihm war sie „noch ein Kind des 18. Jahrhunderts, sie hatte mit der Hoffnung auf Vervollkommnung den Sternenglauben“. Er verweist auch auf Gabriel Riesser (2. April 1806 – 22. April 1863), den ersten jüdischen Richter Deutschlands, und sein Rahel-Urteil.
Sie habe ihre Liebe zur Wahrheit zu oft betont, zitiert Eloesser Riesser, von dem immerhin vier Bände „Gesammelte Schriften“ erschienen 1867/68. Die Salons und dabei vor allem der Salon der Rahel Levin, später Varnhagen, waren es für Eloesser, „die die Literatur in Deutschland zu einem Element der Geselligkeit machten“. Rahel selbst „wollte keine Dichterin und auch keine Schriftstellerin sein.“ Ihr Salon und die anderen in Berlin haben „für die Verbreitung eines literarischen Klimas mehr getan als die Teekränzchen, die Goethe in Weimar den Damen der Gesellschaft anempfahl.“ Eloesser meinte die Runden bei Johanna Schopenhauer, die als erste in Weimar Goethes Gattin Christiane anerkannte. Auf wohltuende Weise unterscheidet sich Eloesser auch von jenen gedankenlosen Autoren, die Rahels Äußeres gegen das von Henriette Herz ausspielten und sich bis zur Behauptung von Hässlichkeit steigerten, was allein durch das überall verbreitete Bildnis der Rahel wohl hinreichend widerlegt wird. Doch auch er hielt fest, dass sie „durchaus nicht in die um jene Zeit sehr reich besetzte Galerie der „Schönen Jüdinnen“ gehörte.“ Dafür aber betonte er ihren Patriotismus: „Der Anblick eines preußischen Trossknechts, als die Truppen nach dem Tilsiter Frieden wieder in Berlin einziehen durfte, rührte Rahel zu Tränen“.
Und ergänzt sofort: „… und sie hat sich während der Freiheitskriege nicht anders als Henriette Herz dem helfenden Frauenwerk gewidmet.“ Rahel habe Berlin „zu einer Provinz Goethes gemacht“. Ihr Salon trug dazu bei, den „Anfang einer Gesellschaft, einer öffentlichen Meinung und das heißt eines Publikums zu bilden.“ Eloesser steht nicht einmal an, die Rahel eine Prophetin zu nennen: „… sie sah die Massen auf der Bühne der Geschichte auftreten, mit einer sozialen, nationalen Leidenschaft handeln, die niemand mehr bemessen oder zurückrufen konnte“. „Die geniale Frau … sah den Ansturm der Nationen und der Massen, die ihre Irrtümer, wie sie sagt, die ihre Leidenschaft mit dem eigenen Blute würden bezahlen müssen, und mit dem Humanismus der Humboldts und Hardenbergs wie dem ihres Mannes war es dann vorbei.“ Zwei schöne Sätze, die nicht von Eloesser sind, seien abschließend zitiert, weil sie sicher seinen Beifall gefunden hätten: „In den neueren Zeiten hat sich das Genie des Judentums in Deutschland nicht in edlerer und liebenswerterer Form dargestellt als in Rahel Levin.“ Und: „Keinen Menschen weiß ich, der mit so viel Recht wie sie der Perlenmuschel zu vergleichen wäre, in der kränkende Berührung Juwelen erzeugt.“ Geschrieben hat das Ricarda Huch im Jahr 1902 im Blick auf das Buch „Rahel Varnhagen“ von Otto Berdrow.