Ingeborg Bachmann redet von Wahrheit
Die Wahrheit, das wissen auch alle, die nicht studiert haben oder gar, wie Ingeborg Bachmann, ihr Herz an Ludwig Wittgenstein hängten, ist ein tückisch Ding. Es gibt sie nicht im Singular, es sei, man besteigt wie das Liebespaar Jan und Jennifer in „Der gute Gott von Manhattan“ immer höhere Etagen, bis man die allerhöchste erreicht hat, es ist im Fall der beiden Nummer 57, und stellt dann erstaunt fest: das ist gar kein Hotel: es ist die äußerste Abstraktion. Der schräge Einstieg hat Sinn. Für just dieses 1958 uraufgeführte Hörspiel bekam Ingeborg Bachmann den Hörspielpreis der Kriegsblinden. Und weil sich Empfänger von Preisen bedanken müssen und oft auch dringlich wollen, halten sie Reden. Bachmanns Rede vom 17. März 1959 ist kurz, deutlich kürzer als ihre Rede zum Büchner-Preis, den sie fünf Jahre später entgegennahm. Die Preisrede von knapp drei Druckseiten (in meiner Ausgabe „Ausgewählte Werke in drei Bänden“, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1987) ist betitelt „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“. Das roch für DDR-Leser damals nach heftiger Provokation, denn der Glaube, dass just das eben nicht stimmt, war in der DDR Staats- und Parteidoktrin. Doch hat Ingeborg Bachmann ziemlich sicher nicht an die DDR gedacht 1959, freilich auch kaum an logische Sprachprobleme als Ersatz für reale Weltprobleme.
Welches Nachschlagewerk man auch immer zu Rate zieht: man findet den 17. Oktober 1973, heute vor 50 Jahren also, als den Todestag von Ingeborg Bachmann. Ich kenne zwei Ausnahmen: Bernd Witte (20. März 1942 – 1. April 2022), in Düsseldorf Professor, ließ sie für den Stuttgarter Reclam-Verlag einen Tag früher sterben und machte daraus einen mysteriösen Feuertod. Die zumutbare Wahrheit wäre profan: sie schlief mit einer brennenden Zigarette in der Hand ein. Noch drastischer und wieder für den Stuttgarter Reclam-Verlag, greift Christina Müller daneben: „Am 17. Oktober 1973 kommt es in einer Wohnung in Rom zu einem dramatischen Inferno: Die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann ist mit einer brennenden Zigarette in der Hand eingeschlafen; schnell steht das Zimmer in Flammen. Drei Wochen später erliegt die 47-jährige Autorin im Krankenhaus ihren schweren Verletzungen.“ Wie Frau Müller, von der ich nichts weiß, auf diese Angaben kam, bleibt unklar, am 25. Oktober 1973 wurde Bachmann bereits bestattet, was in der Regel den vorherigen Tod voraussetzt. Was das gewöhnliche Inferno in der ewigen Stadt zu einem dramatischen machte, kann als Frage nur mit einem alten Werbespruch beantwortet werden: Alles Müller, oder was?? Halten wir uns also bescheiden an den 17. Oktober, der 1973 ein Mittwoch war.
Weil Ingeborg Bachmann eine Österreicherin war, repetiere ich eine österreichische Erfahrung von 2015, die belegt, dass keineswegs nur die DDR Probleme hatte (und hat) mit der zumutbaren Wahrheit. Für den Deutschlandfunk, Begleitsender am frühen Morgen bei uns im Bad, berichtete ein Korrespondent aus Wien, genauer vom dortigen Hauptbahnhof. Dort bestiegen eben Flüchtlinge in großer Zahl Züge, die Richtung Deutschland rollen sollten. Der Reporter sprach mit einem Dolmetscher, der des Arabischen nicht nur grob mächtig war, er hörte sogar Nuancen und konnte zuordnen. Dieser Dolmetscher sagte dem deutschen Reporter, mindestens dreißig Prozent der vermeintlichen Syrer seien gar keine, es seien Marokkaner und andere Nordafrikaner. Noch am Nachmittag desselben Tages musste sich der Korrespondent entschuldigen. Die Wahrheit war den Deutschen in ihrer vereinten Gesamtheit nicht zumutbar. Denn das vermeintliche Gesicht dieser Deutschen zeigte sich auf dem Hauptbahnhof München, wo Ankommende aus den Kriegsgebieten und die, die man gern dafür halten wollte, mit alten und teilweise auch neuen Plüschtieren beworfen wurden. Später, als längst klar war (und auch berichtet wurde), wie überaus hoch der Anteil junger Männer an den Geflüchteten war, zeigten unsere Kameras weiter tapfer Frauen und Kinder.
Es verbietet sich, angesichts einer Toten, die durch Feuer ums Leben kam, davon zu reden, ihre Dankesrede sei brandaktuell. In dieser Dankesrede geht es um Schriftsteller, die sich wünschen, gehört zu werden. Im Hörspiel, auch wenn es wie ein Kalauer klingt, funktioniert das ganz direkt. Wobei in der Regel, für alle mit 13 Jahren Abitur sei es angemerkt, nicht der Autor selbst (die Autorin einbezogen) zu hören sind, sondern ihre Figuren, falls sie noch ganz altmodisch solche Dialoge oder Monologe vortragen lassen. Nach dem Krieg, wozu 1958 noch halbwegs großzügig zu zählen ist, war der Rundfunk mit all seinen öffentlich-rechtlichen Anstalten so etwas wie ein Ernährungsamt. Man zahlte gut, das ist vielfach bezeugt, vor allem aber wurde man tatsächlich gehört, denn noch war das Wirtschaftswunder im Westen und die Planwirtschaft ohne Wunder im Osten nicht so weit gediehen, dass die Hörer zum Hören auch sehen, sprich fernsehen wollten. Ich beispielsweise hörte bis 1967 jedes Hörspiel, das die mir zugänglichen Sender übertrugen, sogar solche, die in Fortsetzungen liefen. Das Fernsehen kappte die Gewohnheit, ich war für das Hörspiel dennoch nicht ganz verloren, weil ich Hörspieltexte las, was ich bis heute tue. Ingeborg Bachmann hat sich ausdrücklich bei den deutschen Rundfunkanstalten bedankt, nicht bei den österreichischen.
Wir alle seien, so Bachmann in ihrer Rede, „voll von dem großen geheimen Schmerz, mit dem der Mensch vor allen anderen Geschöpfen ausgezeichnet ist. Es ist eine schreckliche und unbegreifliche Auszeichnung.“ Mir klingt das, gestehe ich gern, zu religiös. Wer bitte sollte uns auf diese Weise ausgezeichnet haben? Und vor allem warum? Für welche Leistung? Sollte mit Auszeichnung aber der grundlegende Unterschied zu allen anderen Lebewesen gemeint sein, dann wissen wir längst, dass der so schrecklich groß nicht ist, legt man das zugrunde, was man Genom nennt. Geschöpf ist ein belastetes Wort. Für Bachmann folgt aus ihrer anthropologischen Basisthese direkt: „Und jener geheime Schmerz macht uns erst für die Erfahrung empfindlich und insbesondere für die der Wahrheit.“ Ohne Schmerz, sei er auch nur der geheime, nicht der, gegen den man Ibuprofen nimmt plus Magenschutz, demnach keine Erfahrung, vor allem keine der Wahrheit. Wir sind an der Stelle, wo man bei klugen Köpfen, je klüger, um so öfter seltsamerweise, zu der Wahrheit kommt, dass ihre schönsten Sätze besser nicht hinterfragt werden sollten. Ich bin mit den logischen Sprachregeln von Sinowjew/Wessel vier Semester lang infiltriert worden, kann mit Erfahrung der Wahrheit somit wenig anfangen. Letztendlich aber will Bachmann ja über sich sprechen, sich als Schriftstellerin.
„Alle Fühler ausgestreckt, tastet er nach der Gestalt der Welt, nach den Zügen des Menschen in dieser Zeit.“ Gemeint ist der Schriftsteller und wir dürfen annehmen, dass Bachmann sich mit genau dieser Formulierung nicht selbst diskriminierte: sie meinte sich mit. Das Tasten, das Fühlen hebt sie hervor, weil sie den Preis der Kriegsblinden bekam, der seit 1952 vergeben wird bis heute, den erstaunlich viele sehr namhafte Schriftsteller erhielten, aber auch etliche, von denen ich bis heute nie etwas hörte im doppelte Sinne des Wortes: was natürlich nicht gegen sie spricht, allenfalls gegen mich. „Denn bei allem, was wir tun, denken und fühlen, möchten wir manchmal bis zum Äußersten gehen. Der Wunsch wird in uns wach, die Grenzen zu überschreiten, die uns gesetzt sind.“ Dass sie hier pro domo spricht, setze ich voraus, ansonsten müsste ich sagen: nein, die meisten von uns verspüren diesen Wunsch nie im Leben und gehören dennoch nicht automatisch einer verächtlichen Masse an. Im Gegenteil: sie genießen im Schriftsteller, mehr aber im Künstler, im Schauspieler, den lebendigen Grenzgänger, Systemsprenger, ohne selbst gern in seiner Haut stecken zu wollen. „Im Widerspiel des Unmöglichen mit den Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten.“ Im Horizont von Dramaturgie wäre das falsch, das Unmögliche agiert nicht, taugt also nicht als Gegenspieler.
Zu Dankesreden, zumal wenn sie vor Kriegsblinden gehalten werden, gehört Optimismus, deshalb sagt Bachmann: „Ich glaube, daß dem Menschen eine Art des Stolzes erlaubt ist – der Stolz dessen, der in der Dunkelheit der Welt nicht aufgibt und nicht aufhört, nach dem Rechten zu sehen.“ Das ist nun wirklich fein wie feinfühlig formuliert. Über Wittgenstein hat sie übrigens einen Radio-Essay geschrieben, in dem zwei Sprecher, ein Zitatensprecher (für Wittgenstein), ein Kritiker vorkommen. Für Leser und Hörer wäre eine Triggerwarnung ratsam: Es kann zu Verständnisschwierigkeiten kommen, die Autorin selbst ist davon nicht auszunehmen. In ihrem kurzen „Kriegstagebuch“, das auch in Kombination mit Briefen von Jack Hamesh nur in sehr großer Schrift noch ein schmales Buch wurde, lesen wir: „Es ist ganz unverständlich, warum man rot wird und auch zittert, wenn man die Wahrheit sagt.“ Jack Hamesh, Jahrgang 26 wie Bachmann, starb 1987 an den Folgen einer Herzoperation in Israel. Aus Tel-Aviv schrieb er am 16. Juli 1947: „Nicht so viele Mädels in Deinem Alter wären imstande sich so mit ihrer Zeit und ihren Problemen so auseinanderzusetzen wie Du es tust.“ Hans Werner Richter, Gründer der Gruppe 47, schrieb viel später: „Sie wäre gern anders gewesen, als sie war: klar, deutlich, mit sicherer Stimme lesend. Es war ihr nicht gegeben.“